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21.

War ich schuld? Hatte mir mein Vater auf seinem Sterbebette die Obsorge für die Hinterbliebenen übertragen? Kein Gedanke. Ich hätte über all das hinweggehen und mir sagen können, daß Postillion daheim immer noch besser aufgehoben sei als zum Beispiel in einem öffentlichen Waisenhaus. Leider war es mir damals noch nicht möglich, gewissenlos glücklich zu sein.

Nicht jeder Mensch hatte den ›geschlossenen‹ Charakter einer Anninka, die es verstanden hatte, unberührt vom Zusammenbruch unseres Familienfriedens ihre Freiheit außerhalb der Familie sich zu verschaffen. Sie war die glücklichste von uns allen. Sie lebte als Klosterschülerin, Postulantin, in einem großen Frauenkloster in Vorarlberg und wartete darauf, in den Orden auf immer eintreten zu können, sobald sie großjährig war.

Nun wäre mir zu dieser Zeit – es waren die großen Sommerferien – ein Anlaß zu einer größeren Reise sehr willkommen gewesen. Denn ich hätte ganz gern Karla auf einige Zeit verlassen, um ihr ein wenig mehr Leidenschaft einzuimpfen, und ich wollte diese notwendige Prüfungszeit unserer Liebe möglichst nicht im trauten Familienkreise bei Mutter und Bruder verbringen.

Ich traf mich also mit Karla, um ihr zu sagen, ich sähe, die Schwierigkeiten zwischen uns seien zu groß, um bei aller guten, schönen und reinen Liebe zum hl. Sakrament der Ehe zu führen. Ich sei zu jung, offen gesagt zweiundzwanzig Jahre, um schon daran zu denken, einen Hausstand zu gründen, so sehr ich mich auch danach sehne. Ich habe eine Familie zu versorgen, zwei unmündige Geschwister, und die Wissenschaft bringe nur trockenes Brot bestenfalls. Sie antwortete nicht, purpurne Röte wechselte mit fahler Blässe, und auf der Oberfläche ihrer herrlichen Arme zeigte sich etwas, das ich an ihr noch nie wahrgenommen hatte, nämlich die Marmorisierung der Haut. Ich sah natürlich den Vater vor mir, den Marmormaler. Sie glaubte, ich wolle sie mit diesem Lächeln beruhigen. Voll Eifer und mit der ganzen Wärme ihres treuen Herzens, – (jetzt war sie wahr, wäre sie es doch immer gewesen!) nahm sie meine rechte Hand und zog sie, wahrscheinlich ohne zu wissen, was sie tat, an ihre linke Brust und preßte sie gegen die feste, kühle, unruhige Wölbung. Zitternd wie vor Frost senkte sie ihr Kinn tief, so tief wie möglich, und flüsterte mir zu, obwohl im Volkspark um diese Zeit kein Mensch uns hören konnte, niemand auf der weiten Welt könne mich besser verstehen als sie. Auch sie sei Sklave der Familie. Sie müsse dem Anhang – sie meinte ihre jüngeren Geschwister – nicht nur die Mutter sondern leider auch den Vater ersetzen, da der Marmormaler nicht trinke, sondern saufe, Gott sei's geklagt. Und wenn er wenigstens dabei froh und glücklich würde! Aber ihm und allen sei der Rausch eine Qual, ein Unglück. Er, der sonst so freundlich, gefällig und bescheiden sei, werde boshaft, eifersüchtig, jähzornig, wild, gewalttätig. Er verliere sich, – nicht jeden Tag, den uns der gütige Herrgott schenkt, und das sei noch ein Glück – im Schnaps. Es käme im Quartal nur einmal oder zweimal vor. Natürlich könne man unter ›Quartal‹ nicht immer drei Monate, sondern leider manchmal sechs Wochen oder gar vier verstehen! Der Arzt hielte es nicht für Trunksucht, sondern für Epilepsie. Niemand könne ihm böse sein, Vorwürfe nützten nichts, es sei Krankheit, kein Laster. Sie sagte, sie habe gehofft, wir würden beide unbändig arbeiten und schuften, um uns unser Glück zu erobern, sie habe nie geahnt, daß ich eine noch schwerere Bürde ›auf dem Buckel‹ hätte als sie, ich hätte doch früher zwei Wohnungen gehabt usw.

Alle meine Willenskraft schmolz in diesem Augenblick sonderbarerweise dahin, denn darauf war ich nicht gefaßt gewesen. Ich zog also, wie um mich zu rechtfertigen, Marthys Brief aus der Tasche, der Fettflecken hatte, aber auch nach Benzin roch, denn sie hatte Sinn für Reinlichkeit, die trunkene Magd.

Karla schüttelte den Kopf, sie glaubte mir auf mein Wort. Sie war an diesem Abend in ihrer keuschen Schwesterntracht gekommen, eine Brosche mit dem roten Kreuz auf der Einfassung des halsfreien, blauweiß gemusterten Kleides. Sie duftete stark nach Violettes de Parme und nur schwach nach Lysol. Sie fieberte vor Ungeduld (Dienst!) und konnte sich doch nicht trennen von mir. Plötzlich warf sie sich mir um den Hals. Ich hatte sie bis jetzt nie geküßt. Ich wußte nicht, was tun. Ich hatte weit über ein Jahr auf sie gewartet. Hatte sie sich jetzt mit dem Abschied auf immer abgefunden? Wollte sie mir nichts geben, nur eine Träne? Einen schwesterlichen Abschiedskuß? Ich wandte diskret den Kopf ab, meine Arme fielen nieder, und ich war still. Niemals in meinem ganzen Leben habe ich mehr Kraft gebraucht, um das zu bezwingen, was mich mit entsetzensvollem Entzücken tief innen verzehrte. Aber es gelang mir. Dieses Gelingen, dieser Sieg über mich in seiner bitteren Kraft hatte aber auch einen gewaltigen Genuß in sich.

Ich weiß nun nicht, war sie von meinem unerwartet keuschen Wesen so beschämt, oder war es, daß sie an eine Trennung für immer, auf immer und ewig, nicht zu glauben vermochte, sie faßte sich schnell. Wir nahmen Abschied voneinander (Ausnahmefälle für diesen Abschied waren vorgesehen, zum Glück!), und ich sah, wie sie am Ausgang des Parkes, – (ich war noch geblieben, der Abend war zu schön) einen Wagen anrief und wie sie mir auf dem Trittbrett stehend, noch mit ihrer nackten weißen Hand zuwinkte.

Ich trat meine Sommerreise am nächsten Tag an. Schwereren Herzens, als ich eigentlich gedacht hatte, aber ich blieb meinem Entschluß treu. Ich gab mich ihr nicht tiefer hin. Diesmal machte ich meine Bergtouren fast alle allein, nur die schwersten unternahm ich mit geprüften Bergführern. Meistens brachen wir um fünf Uhr morgens, manchmal schon am Ausgang der Nacht auf, und im Laufe eines ganzen solchen Tages sprachen wir oft nicht mehr als zehn Worte.

Während dieser ganzen Zeit, in bisweilen ziemlich kritischen Situationen, beim Aushauen der Tritte im Gletscher mittels des Eispickels, beim Traversieren von schwierigen Kaminen (im Vergleich dazu war jenes Stückchen ungeschützter Felsenweg am Dachstein eine bequeme Promenade) brütete ich in meinem Innern, – nicht über die Eroberung der unberührten Schönen Karla, sondern über die Eroberung der ebenso unberührten, und, wie ich bald sehen sollte, noch viel schöneren Anninka, deren Hilfe ich unbedingt brauchte. Das Heimwesen mußte in Ordnung kommen und konnte nur in Ordnung kommen durch den festen Charakter Anninkas. Sonst konnte ich mein neues Glück mit Karla nicht in Frieden genießen.

Bei Karla wirkte für mich alles, was ich getan und was ich unterlassen hatte. Die Zeit war für mich. Wo aber Anninka anfassen? Sie hatte der Welt und allen ihren Verlockungen den Rücken gekehrt, sie lebte in der fleckenlosen, demütigen, nichts für sich begehrenden Liebe zu einem göttlichen Wesen, das Ungeheures gelitten hatte und mit dem sie eine geheimnisvolle Hochzeit feiern wollte im Schleier und unter Opferung ihres aschblonden Haares, – das selbst mein daheim im Kreise der Seinen so nüchterner Vater bewundert hatte. Wo sie fassen? Wie zu ihr gelangen? Wie sie bewegen – und das Schwerste, wie sie halten? Das Menschliche war ja schon zur Zeit seiner Krankheit und seines Todes hinter ihr gelegen. Er hatte sie nicht gerührt. Mich hatte sie niemals besonderer Beachtung gewürdigt. Oder doch? Als Kind hatte sie wenigstens eine Zeitlang die Trabantin gespielt. Warum hatte sie später damit aufgehört?

Ich gestehe, daß ich den prachtvoll mit weißen und zinnoberroten Marmorfliesen gepflasterten Klostereingang von H. mit stärkerem Herzklopfen traversierte als den halsbrecherischen Kamin in der Adamellogruppe. Ich hatte keinen Plan ausklügeln können. Aber ich hatte meine Willenskraft im Kampfe mit Karla ebenso wie bei einer bis jetzt noch nie bestiegenen Bergspitze bewiesen, die vielleicht sogar meinen Namen getragen hätte, wenn ich ihn nicht wohlweislich dem Bergführer (und damit dem Alpenverein) verschwiegen hätte, denn nach dieser banalen, gar zu bescheidenen Form von Ruhm verlangte es mich nie.


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