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3.

Die Genesung meiner Mutter zog sich länger hin, als sie erwartet hatte. Sie kam erst Anfang Februar nach Hause zurück. Ich hatte mir in der Zwischenzeit die Mahlzeiten selbst gekocht und hatte, so gut es ging, die Wohnung in Ordnung gehalten. Es war mir fürchterlich, unerwartet Dinge zu berühren, die ihm gehört hatten, zum Beispiel seine hohen Stehkragen oder eine Dose mit nach Iris riechendem Reispulver, mit dem er früher ab und zu seine Wangen bestäubt hatte. Nachts saß ich oft im unbeleuchteten Zimmer am Fenster und sah in diesem ungewöhnlich klaren und kalten Monat den Sternenhimmel an. Aber wenn ich das Sternbild gefunden hatte, dem ich früher einmal in meinem Aberglauben seinen Namen gegeben hatte, wartete ich vergebens auf einen Nachglanz in meiner Seele. Ich hungerte nach einem belebenden, trotz allem hoffnungsvollen Erinnern in meinem Inneren. Ich sah aber nur einen Stern, mittelgroß, mittelhell, unter zahllosen anderen, sonst nichts!

Als meine Mutter endlich heimkehrte, hatte ich eine Überraschung für sie vorbereitet. Welche Freude für sie, als sie an der Schwelle der Wohnung Marthy wiedersah, mürrischer denn je, und mit einem nicht sehr liebevollen Blick auf den kleinen Knaben in seinem Steckkissen, den sie aber dennoch sofort, statt erst meiner Mutter aus dem Mantel zu helfen, oder ihr etwas Warmes in der Küche zu bereiten, auf ihre knochigen Arme nahm, und den sie vorsichtig, als wäre er aus Glas, auf den Küchentisch legte, den sie sofort nach ihrer unverhofften Wiederkehr an diesem Morgen als Wickeltisch bestimmt hatte. Offenbar war sie mit den Portiersleuten in dauernder Verbindung geblieben und hatte genau gewußt, wann meine Mutter heimkehren würde. – Die Windeln des Kindes waren in der geburtshilflichen Klinik unter Aufsicht der Oberschwester vor einer halben Stunde angelegt worden. Aber Marthy fand das Kind nachlässig gewickelt, seine Haut sei nicht richtig gepflegt, und selbst der Speichel, der dem armen Wurm aus dem blassen Mündchen troff, schien ihr eine unrichtige Zusammensetzung zu haben, denn sie kostete ihn mit weiser Miene und schüttelte dann unzufrieden den struppigen Kopf mit dem schweren, dichten, blauschwarzen Haar.

Wir hatten alle drei, Mutter, Marthy und ich, eine Wiege vergessen. Nachdem ich meiner Mutter eine Eierspeise und etwas Tee gekocht hatte, – (es sollte meine letzte Beschäftigung am Herde sein, von nun an duldete sie Marthy nicht mehr), stiegen Marthy und ich auf den Boden, wo wir meine alte Wiege, auf dem Kopfe stehend und von Mäusen benagt und beschmutzt, in einer Ecke unter anderem Gerümpel vorfanden. Unten begannen wir die Wiege auseinanderzunehmen, die Stücke in heißem Wasser und in Lauge zu waschen, die angeknabberten Stellen mit Küchenmessern zu glätten. Dann legten wir die Teile auf den Herd zum Trocknen.

In dieser Nacht schlief der kleine Posthumus noch in dem großen Bett seines Vaters. Ich sah ihn am Morgen an. Wie meine Schwester war er sehr geduldig. Er erinnerte aber sonst in nichts an sie, ebensowenig an ihn oder an meine Mutter. Bloß in seinen Augen lag der verlorene Ausdruck, der mich an ihm immer so bezaubert und ergriffen hatte. Ich nahm das Kind auf den Arm. Es wog fast gar nichts, so zart war es. Ich schaukelte es vorsichtig, ich liebkoste die kleinen, etwas abstehenden Öhrchen, ich zupfte an den weißlichen, unbeschreiblich weichen und dünnen Haaren und flocht sie in eine Art kleines Zöpfchen. Aber das Kind zeigte nicht, daß es etwas dabei empfand. Das Verlorene in seinen Augen war vielleicht nur ein natürlicher wässeriger Glanz. Ich sang sogar dem Kinde etwas vor. Aber es lächelte nicht. Erst später erfuhr ich, daß ein Kind das Hören und das Lächeln erst erlernen muß, und daß es dazu einige Monate braucht. Aber meine Mutter war oft ungeduldig. Vielleicht waren wir vor Zeiten bei ihm auch zu ungeduldig gewesen.

Wir aßen jetzt zu dritt, meist in der Küche. Wir sparten an der Heizung und an allem. Ich schämte mich meines Hungers, meiner Gier, bei Tisch –, schob meiner Mutter unter der Hand die größten Bissen zu und ließ Marthy nicht zu kurz kommen. Wäre es doch nur Liebe gewesen, was mich zu diesem Verzicht bewogen hatte. Ich liebte niemanden.

Marthy wurde von ihrem Verlobten bedrängt. Sie hatte etwas Geld gespart, einen Schatz, und der Bräutigam hoffte, mit Hilfe dieses Kapitals sich eine Existenz aufzubauen. Wir konnten ihr noch keinen Lohn zahlen. Sie kannte unsere Lage genau, vielleicht sogar besser als wir. Trotzdem beklagte sie sich bei den Portiersleuten über uns, nicht indem sie uns verleumdete, sondern indem sie die Tatsachen mit gehässiger Betonung wiedergab. Meine Mutter war schwach genug, darüber zu weinen. Ich sah, ohne echtes Mitleid zu empfinden, diesen Tränen zu, und bezwang mich. Am liebsten hätte ich ihr Vorwürfe darüber gemacht, daß sie sich diese häßlichen Einzelheiten von den Portiersleuten hatte wiedererzählen lassen, aber sie rechnete mit dem Mitleid der Leute wie mit einem Tribut.

Was sollte aus uns werden? Auch wenn Marthy nun zu unseren ›ausgeglichenen‹, friedlich gewordenen Gläubigern gehörte, und wenn man bei allen Ausgaben sparte, wurden die Geldquellen immer dürftiger. Über das Friedhofgrundstück verlor meine Mutter kein Wort. Offenbar dachte sie nicht daran, es zu belehnen oder zu verkaufen. Ich verstand nicht, warum sie sich so plagte. Oft hing ihr helles kühles Auge nun doch mit ängstlichem Ausdruck an mir. Aber auch an Marthy. Ich streichelte dann ihre Hand, die bei aller Feinheit doch etwas Strenges hatte. Vielleicht nur, weil ich durch ihn wußte, daß meine Mutter eine strenge Lehrerin gewesen war. Marthy war Liebkosungen aller Art abgeneigt. Sie begann in solchen Augenblicken immer etwas an dem Säugling auszusetzen, ich wußte nicht, war es bei ihr Spott, Hohn, oder war es Ernst, Bitterkeit über ihre Wartezeit?

Ich dachte daran, das Handwerk meines Vaters aufzunehmen. Vielleicht würde mir angestrengte, neue, unbekannte Arbeit den Stein von der Brust wälzen?

Ich setzte mich mit dem Nachfolger meines Vaters in Verbindung und trat sofort als Lehrling bei ihm ein. Meine Mutter weinte, als sie es erfuhr und Marthy nörgelte an dem Kinde herum, obwohl es sich unter ihrer Pflege in der letzten Zeit prachtvoll entwickelt hatte...


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