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7.

Ich mußte also einen Plan entwerfen, der möglicherweise sehr schwierig war. Aber schon bei dem Gedanken an diesen Plan lockerte sich mir der Druck auf der Brust, und alles war heller und froher! Ich mußte handeln. Das Beste war es, wenn ich vor allem den Doktorgrad erreichte. Damit hatte ich einen Titel, wenn es auch ein nicht ungewöhnlicher war, es war niederer geistiger Adel im besten Falle. Was konnte er ihr sagen? Aber dann bot die Zeremonie der Erteilung der Würde eines Doktors der Philosophie eine Gelegenheit, außer allen meinen Verwandten auch die alten Freunde meines Vaters, zu denen ja auch der Graf v. W. gehörte, einzuladen.

Ich teilte meiner Mutter meine guten Vorsätze mit. Sie antwortete spät, dem Brief war anzusehen, daß sie sehr beschäftigt war. Statt in ihrer geperlten Lehrerinnenhandschrift war er in weiten, kühnen Zügen hingeschwungen, fünf Zeilen auf der Seite, fünf Worte auf der Zeile, dafür aber lag ein großer Aufsatz aus einer Zeitschrift für ›moderne soziale Wege‹ bei. Meine Mutter schrieb hier nichts über die Partei, der sie angehörte und der sie (nach Angaben der sehr nüchtern, aber doch herzlich schreibenden Anna) fast den ganzen Tag und die halbe Nacht widmete, sondern im allgemeinen über die Rolle, die der Sozialismus, als das Ideal und die Urform des Lebens in Gemeinschaft, spielen würde. Ich überflog ihn, gewohnt, ganz konzentrierte Arbeiten zu lesen. Meine Mutter schrieb populär, das heißt für Menschen, die Zeit haben und die Zeit brauchen. In wenigen Worten zusammengefaßt kam es ihr darauf an, daß sozial und sittlich das gleiche wäre, (oder beinahe das gleiche in einer kommenden idealen Gesellschaftsordnung), und daß vor allem dem Industrieproletarier die Zukunft gehöre, denn er könne nur in Gemeinschaft arbeiten (an der Maschine nämlich), daher nur in Gemeinschaft leben, und so war ihm die Sittlichkeit und damit in den Augen meiner Mutter das wahre Glück gewiß. Entweder ihm allein oder ihm doch weitaus mehr als den höheren Ständen.

Ich dankte meiner Mutter für beides, Brief und Artikel, und änderte meinen Plan etwas ab, denn so, wie sie jetzt lebte und wofür sie jetzt lebte, konnte sie mit einem Grafen von W. und seiner Tochter kaum harmonieren. Mir bedeuteten ihre Ideale und Lebensziele nichts. Vielleicht war das schade. Es änderte leider nichts.

Ich bestand noch im Hochsommer die nötigen Prüfungen, erhielt die Doktorwürde, – nicht in Gestalt des berühmten Doktorhuts, sondern in Form eines in eine schwarze Pappdeckelrolle eingepackten Pergamentes, dessen Wortlaut lateinisch war. Ich hatte die Mitteilung von dieser Zeremonie lithographieren lassen und sandte sie post festum, also nach der Promotion, an alle Bekannten und vor allem an den Grafen. Als er nicht antwortete, rief ich ihn in seiner kleinen Fabrik in Floridsdorf an, wo er sich mit der Konstruktion seines neuesten Girakters beschäftigte. Er sagte mir in kurzen Worten, er hätte mir bereits geschrieben und für meine Mitteilung gedankt, und er würde sich natürlich freuen, den Sohn seines alten Freundes gelegentlich wiederzusehen. Der auf diese Weise von ihm angekündigte Brief hat mich aber nie erreicht, ich weiß nicht, ob aus Versehen der Post oder weil er nicht geschrieben wurde. Jedenfalls war der erste Knoten geschlungen, ich wartete einige Tage ab, dann fuhr ich in die Fabrik hinaus, wo ich den Grafen, etwas gealtert, aber noch schön in seiner Art, klein, braungebrannt, mit weißem Schnurrbart und buschigem Haupthaar, schlank, sehnig und lebhaft antraf. Er trat zu mir heran, in einen oft gewaschenen, sauberen, hellblauen Kittel gekleidet, irgend einen kleinen kantigen Stahlgegenstand in den Fingern, den er dauernd liebkoste. Er zeigte mir die bescheidene Fabrik und in einem Schuppen, den er Hangar nannte, führte er mir auch die früheren Modelle seines Flugzeuges vor. Das neueste Modell verbarg er meinen Blicken, er hatte wohl den Aberglauben, daß kein fremder Blick das Wunderwerk der Technik in unfertigem Zustand streifen dürfe.

Was lag mir an dem Girakter? Selbst wenn dieser mich in einem kühnen Flug von dem staubigen, rußigen, lärmenden Floridsdorf zu den unberührten, schneeweißen, schweigenden Felsenwüsteneien des Mondes hätte hinauftragen können, für mich hätte er nicht konstruiert zu werden brauchen. Der Graf verabschiedete sich dann und war etwas erstaunt, als ich ihn an der Schwelle noch zurückhielt, um nach seiner Tochter zu fragen. »Ach, Alexandra«, sagte er, sich über den Schnurrbart streichend und mit einem blütenweißen Taschentuch seine mahagonifarbene Haut betupfend, »es geht der Komteß wie immer! Wenn Sie einmal Zeit haben, kommen Sie oder, noch besser, geben Sie mir Ihre Adresse, sie kann Ihnen schreiben!« Ich entsann mich des nebelhaften Briefes, den er mir geschrieben haben wollte, und sagte, ich würde ihr telephonieren. »Jaja«, murmelte er, in Gedanken schon bei seiner Arbeit.

Aber im Telephonverzeichnis stand sein Name bloß im Zusammenhang mit der Fabrik. Ich mußte also den ersten Besuch auf eigene Gefahr wagen. Würde ich sie nach sovielen Jahren noch wiedererkennen? Und sie mich? Die Adresse war leicht aus dem Wiener Adreßbuche zu ersehen, denn es gab nicht viele Träger dieses Namens. Ich ging zuerst einmal vormittags an dem Hause vorbei. Ich sah ein in ganz guter Gegend gelegenes, vierstöckiges Gebäude, nicht gerade eine Mietskaserne, aber auch nichts besonders Vornehmes, obgleich es in jeder Etage einen ziemlich breiten Balkon gab. In der Straße stand, das grelle dünne Herbstgrün durch Straßenstaub angesilbert, eine Doppelreihe von Bäumen, Platanen glaube ich, in deren Zweigen eine Unmenge von Spatzen ein gewaltiges Geschrei erhob. Auch schien es mir, als ob die Spatzen besonders oft zu dem Balkon im vierten Stockwerk, der von einer weiß und rosa gestreiften Leinenmarquise überdeckt war, emporflatterten.

Das Herz schlug mir schwer in der Brust bei dem Gedanken an sie. Ich hatte zum erstenmal Angst, ich könne von einem Menschen ungehört und ungesehen zurückgewiesen werden, oder man könne mich mit leeren Augen ansehen. (Wie genau entsann ich mich noch des Blickes, den sie mir zugeworfen hatte, als ich die armseligen Stopfen an den Strümpfen, ohne es zu wollen, entdeckt hatte!) Mußte sie mich nicht schon längst vergessen haben? Was war ich ihr? Wir hatten uns doch nur eine Viertelstunde lang gesehen. Aber ich faßte bald Mut, ich sagte mir, sie sei immer noch gelähmt, sie sei nicht reich, (kein Telephon in der Wohnung), sie sei unverheiratet, (in den Worten ihres Vaters lag etwas von der Geringschätzung, die jung gebliebene, unverwüstliche Väter für unverheiratete alternde Töchter haben), und ich sei mehr geworden, als ich damals gewesen, sie aber nur dasselbe geblieben: schön, adelig, gelähmt.


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