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13.

Ich hatte viel Mühe, meinen langen Körper in der viel zu kurzen Kiste zu verstecken. – Das Atmen unter den Säcken war schwer, der Schweiß brach mir aus, und ich lag bald wie im Wasser da. Nach einer langen Zeit kamen der Arzt und meine Mutter auf den Korridor hinaus. Sie sprachen ziemlich laut. Der Arzt bestand darauf, daß mein Vater auf die Beobachtungsstation des Seuchenpavillons käme, meine Mutter sträubte sich aber jetzt dagegen. Sie tat dies gegen ihre Überzeugung. – Ich hatte, als ich dies hörte, in meiner Tasche den Liebesbrief meines Vaters an die Offiziersfrau gefaßt und ihn in viele Stücke zerrissen. Ich wollte meine Mutter nicht verraten.

»Aber wie wollen Sie ihn pflegen, in Ihrem Zustand, ein so zartes Frauchen?!« »Nur Geduld, nur Geduld!« sagte meine Mutter sanft wie nie. Aber darauf kam es dem Arzt nicht an. »Ich komme als Amtsarzt zu Ihnen, ich muß Anzeige machen«, sagte er und stieß mit dem Stock auf das Linoleum des Vorzimmers. »Sie können ihn nicht gegen seinen Willen fortschaffen. Sie sind Ihrer Sache auch noch lange nicht sicher. Oder doch?« Mir pochte das Herz bis zum Halse. Zu meiner großen Erleichterung schwieg er darauf. »Es ist noch zu früh!« sagte er dann mürrisch. Selbst dieser trügerische Trost tat mir wohl. – »Meine Kinder habe ich bereits fortgeschickt«, sagte sie. Meine Kinder, dachte ich, als ob wir schon Waisen wären! »Nun gut, aber alles auf Ihre Verantwortung!« sagte er brummend. »Was hat zu geschehen?« fragte sie. »Ich komme abends wieder. Es handelt sich auf jeden Fall um eine schwere fieberhafte Infektionskrankheit, es kann auch Scharlach sein. Abends werden wir weiter sehen.« »Ja, abends«, antwortete meine Mutter mit einer viel helleren Stimme, als hätte auch ihr dieses ›abends werden wir sehen‹ Hoffnung gegeben. Wir klammerten uns an alles, was Trost geben konnte. Ich dachte an mein Abenteuer im Fluß, als mich die Algen gefangen hatten. Christus wird uns nicht verlassen! fühlte ich. Meine ganze Zustimmung, mein volles Vertrauen war bei Gott, es war, als hätte ich mit dem Herrn der Geschicke einen Pakt, einen starken Bund der Gnade geschlossen, der mich und natürlich auch die Meinen schützte. – Die anderen mögen jeder für sich sorgen, dachte ich. Wir aber sind behütet, wir sind geschützt! – Ich hatte eben noch kein Unglück erlebt. Der Arzt öffnete die Tür nach der Treppe, infolgedessen drang der Schall seiner und ihrer Worte nicht mehr so deutlich zu mir. Ich hörte nur ihre Abschiedsworte: »Verlassen Sie sich auf mich. Es betritt kein Mensch mehr die Wohnung.« »Schwören Sie?« fragte er in seinem plumpen Humor. Meine Mutter wird gar nicht darauf geantwortet haben. Er trabte die Treppe herab, mit seinem Stock an den Eisenstäben des Gitters klirrend. Meine Mutter ging in das Schlafzimmer zu ihm, und kam erst nach einer langen Zeit heraus. Ich hörte es gerade klingeln, meine Mutter sprach durch ein kleines, in Messing gefaßtes, verglastes Loch, das in der Türfüllung war, mit Marthy, sie trug ihr auf, Eis und verschiedene Lebensmittel, Milch, Wein, Früchte zu besorgen. Sie suchte jetzt offenbar nach Geld, um es dem Mädchen durch diese kleine Öffnung herauszureichen, und da sie mit ihren schwachen Augen im düsteren Korridor die Münzen und Banknoten schlecht unterscheiden konnte, machte sie Licht. Dabei muß ihr Blick meinen Koffer getroffen haben. Sie schrie leise auf, faßte sich aber und gab der Magd das Geld. Dann schloß sie sehr zart die Tür in den Korridor ab, und rief mich beim Namen. Ich antwortete nicht. Jetzt ging sie in das Kinderzimmer, in den Salon, unaufhörlich meinen Namen rufend. Ich konnte es nicht ertragen. Ich kletterte (mit fast fühllosen, wie gefrorenen Gliedmaßen) mühselig aus der Kiste, kam leise hinter ihr her und rief sie an. Sie wandte sich entsetzt um. – »Wie siehst du aus, Bürschlein!« sagte sie nach einer Weile und in ihrer Stimme war selbst jetzt ein belehrender, kühler, spöttischer Ton. Aber es war nur Schein, sie war nicht mehr ihrer selbst sicher. Sie war es jetzt, die mich an der Hand faßte und sagte: »Gut! Gut! Du gehst also nicht?!« Ich schüttelte den Kopf. »Abends kommt er wieder«, sagte sie zu mir, während sie mich zum Waschtisch begleitete, wo ich mir die Kohlenspuren gründlich abwusch. »Vielleicht geht wenigstens dieser Kelch an uns vorüber!« Wir traten ins Krankenzimmer, mein Vater saß mit düsterrotem Kopf aufrecht im Bett, hinter seinem Kreuz viele Kissen ... Es läutete jetzt wieder, meine Mutter ging öffnen. Er winkte mich eiligst zu sich, schwankend hielt er sich am Bettrand fest. Er flüsterte mir mit seinem heißen Atem ins Ohr: »Warst du schon dort?« Ich erschrak. Ich hatte ganz vergessen, daß ich eine Lüge erfinden müsse, daß ich ihm eine unwahre Geschichte über seine Geliebte erzählen müsse, daß er aber nach seiner Genesung diese Lüge erfahren und mir immer deswegen zürnen würde. Trotzdem mußte ich augenblicklich lügen, gut oder schlecht! »Natürlich!« sagte ich. »Und? –« fragte er. »Sprich doch! Schnell!« Zum Glück rief mich jetzt meine Mutter zu sich. Die Magd hatte Eis gebracht, aber nur in einem großen würfelförmigen Stück, ich mußte das Eis in eine Serviette packen und mit einem Hammer klein machen. Inzwischen mußte ich mir eine Lüge ausdenken, konnte es aber nicht. Man rief nach mir. Ich kam mit dem Eisbeutel, legte ihn meinem Vater auf den Kopf, aber er fiel herab, weil mein Vater aufrecht saß. Lag er aber, schienen ihm die Kreuzschmerzen eine furchtbare Plage zu verursachen. Deshalb ließ ich ihn halbaufrecht sitzen und hielt den Eisbeutel in meiner Hand fest. Als meine Mutter wieder das Zimmer verlassen hatte, flüsterte ich ihm geheimnisvoll zu: »Alles geht gut, sie grüßt dich, sie läßt dir danken.« »Danken?« fragte er und schüttelte den Kopf, so daß der Eisbeutel mit einem eigenartigen dumpfen Klirren herabfiel, »das ist doch nicht alles?« – »Wir konnten natürlich nicht besonders lange miteinander reden«, log ich, »aber ich habe ein Wiedersehen für morgen besprochen, sie wird dir aber zuversichtlich vorher noch schreiben, ja, nicht wahr?« »Aber sie gibt doch Geschriebenes sonst nie aus der Hand!« sagte er erstaunt. Ich schwieg bestürzt. »So hebe doch den Eisbeutel wieder auf!« setzte er fort, »es ist zwar unnütz, aber wenn ihr mich schon damit plagt ...« Er sprach nicht weiter, er seufzte tief. Mir lag es wie ein Stein auf der Brust. Ich sah, er strengte sich an, an mich noch eine Frage zu stellen, vielleicht nach ihrem Aussehen, ihrer Schönheit, nach ihrem Anteilnehmen, ihrer Sehnsucht, ihrem Mitleid, ich weiß es nicht. – Er sah mich sonderbar an, aber eher fröhlich und mutig als traurig und verzagt, und sagte: »Wenn ich aber vorher sterben sollte?« Nie hatte er sonst dieses fürchterliche, knarrende Wort Sterben in den Mund genommen. Wollte er jetzt das Schicksal dadurch beschwören, daß er es mutig und gefaßt wie ein Mann zum Manne, aussprach, das Unheilswort?

Meine Mutter gestand mir vor dem Schlafengehen, als wir den Kranken auf seinen Wunsch etwas allein gelassen hatten, daß sie sehr froh sei, daß ich ihr zur Seite stünde. Sie hätte es mir nicht zuzumuten gewagt, bei ihr zu bleiben und vielleicht den Termin meiner Reifeprüfung zu versäumen und ›ein Jahr zu opfern‹. Sie werde mir meine Güte nie vergessen. Ich schämte mich. In meiner Tasche knisterten die Fetzen des Briefes meines Vaters an seine Geliebte. Ich hatte nicht das Herz gehabt, sie fortzuwerfen. Fast hätte ich aus Beschämung geweint. Ich weinte aber stets sehr schwer. – Der Arzt hatte seine Diagnose noch immer nicht stellen können. Mein Vater hatte natürlich nichts von der Begegnung mit der hübschen Ruthenin und ihrem Kind erzählt, und ich war froh, daß mich niemand, fragte. Das Fieber war nicht besonders hoch. Gegessen hatte mein Vater nichts. Er war furchtbar unruhig. Meine Mutter schrieb diese Unruhe der Krankheit zu, – (wir drei schlossen in dieser Nacht kein Auge), ich aber fürchtete, daß er sich Gedanken machte, wie der angekündigte Brief seiner Geliebten morgen in seine Hände kommen könne, ohne daß meine Mutter ihn sah. Ich atmete am nächsten Morgen auf, als die Briefe kamen, zum Glück nur Geschäftsbriefe, Mahnungen, Bankbestätigungen, Kostenanschläge. »Was für Arbeit, was für Plage«, lächelte er, »und dazu das, was in der Kanzlei ...?« Das letzte Wort sprach er nicht mehr aus, er war schon zu müde dazu. Es war mir furchtbar zu hören, wie er einen Satz noch mit seiner alten Kraft begann und wie ihm so schnell das bißchen Kraft ausging. Und gestern hatte er sich noch zugemutet, ins Büro zu gehen.

Er zeigte mir unter der Hand seinen neuen Brief an seine Geliebte. – »Er ist noch nicht fertig«, flüsterte er, »ich habe eben jetzt ...« Wahrscheinlich wollte er den Befund des Arztes abwarten, von dem viel abhing. Denn er hatte inzwischen erfahren, daß wir, meine Mutter und ich, das Versprechen abgegeben hatten, das Haus vorläufig nicht zu verlassen und es wie eine Quarantänestation zu betrachten. Wir mußten dies schon des Arztes wegen tun, der ihm und meiner Mutter nachgegeben hatte, obwohl die amtlichen Vorschriften streng waren. »Warte nur, warte«, flüsterte er und sank in die Kissen zurück, denn heute war ihm die halbsitzende Stellung von gestern schon unmöglich.

»Alles stimmt! Variola vera. Ein normaler Fall«, sagte der Arzt am Abend, »genau nach dem Nothnagel.«

Ich wußte nicht, was Nothnagel war, aber meine Eltern wußten es, es war der Name eines berühmten Wiener Professors, der ein wissenschaftliches Buch über solche Krankheiten geschrieben hatte. Der Arzt erklärte mir dies und fügte, das Wort in seinen Schnurrbart hineinmurmelnd hinzu: »Pocken, ein klassischer Fall.« Mein Vater erschrak. Meine Mutter fragte den Arzt, ob man noch einen anderen Arzt zuziehen solle. »Einen? Drei!« antwortete dieser sarkastisch. Wir alle zwangen uns zu einer Art verzerrten Lächelns, vielleicht hatte der Arzt dies beabsichtigt, er wollte uns Vertrauen einflößen und uns die schreckliche Angst etwas erleichtern. – »Und was ist jetzt vonnöten?« fragte meine Mutter mit mühsam beherrschter Stimme, meinem Vater durch das immer noch dichte, jetzt vom Schweiß feuchte, etwas gedunkelte Haar fahrend. Er wandte aber den Kopf blitzartig schnell weg von ihr, wahrscheinlich schmerzte ihn diese doch so gut gemeinte Berührung. – »Viel ist nicht zu tun«, sagte der Arzt ernst, »die Natur hilft sich. Eis auf den Kopf, Bäder von 20 Grad Celsius, so oft er es aushält ...« »Aber mein Kreuz?« stöhnte mein armer Vater. »Sein Kreuz muß man auf sich nehmen«, antwortete der Arzt mit seinem ordinären Witz. »Aber wenigstens ein heißer Umschlag, eine Senfpackung?« schlug meine Mutter vor. »Alles gut, aber am besten gar nichts! Reizen wir die Haut möglichst wenig, sie wird ohnedies genugsam heimgesucht werden. Und halten Sie sich im Dunkeln, keine Sonne, kein Licht!« ... Mein Vater wollte etwas einwenden, aber der Arzt war in Eile, er winkte uns allen zu, so freundlich der Murrkopf nur konnte, und ging. – Mein Vater ließ sich nur widerwillig von uns ins Bad tragen. Vielleicht schämte er sich vor uns. Dabei war aber sein Körper wie aus Alabaster, schlank, weiß und glatt, voll Kraft. Solch ein Mensch konnte noch nicht sterben. Aber er war viel schwächer, als wir gedacht hatten, und ich hielt ihm während der ganzen Zeit den Kopf im Bade aufrecht. Dann rief uns meine Mutter, und ich trug ihn auf meinen Armen, heiß und zitternd, wie er war, in das Bett zurück, das meine Mutter inzwischen besorgt hatte. »Keine Falte! Keine!« sagte sie uns, als erwarte sie eine gute Note für ihre Geschicklichkeit und ihren guten Willen. Das wußte doch jeder lange schon. Auch die zwei Fenster waren bereits geschlossen und die Rolläden herabgelassen. – »Oh, nein!« sagte mein Vater, sich mühsam im Bett erwärmend, »bitte nein!« Wie funkelten seine Augen! »Muß sein«, sagte meine Mutter. »Du hast es selbst gehört.« »Ich will aber nicht! Ich muß Licht haben. Die Finsternis ertrage ich nicht.« Dabei war es noch nicht ganz finster, denn ich konnte sehr gut den Ausdruck seines Gesichtes wahrnehmen, das etwas Verzweifeltes und Heißhungriges zu gleicher Zeit an sich hatte. Meine Mutter wollte ihn nicht anstrengen und gab nach. Mein Vater atmete erleichtert auf und auch sein Gesicht verwandelte sich, es zeigte jetzt eine Art Vorfreude, ähnlich der, die er bei unseren Ausflügen gehabt hatte, bei denen er vorzeitig heim wollte. Ich ahnte jetzt den Grund, er wollte den bewußten Brief zu Ende schreiben. Aber warum sah ihn meine ahnungslose Mutter so ernst an? Seine Augen funkelten von neuem in unbegreiflichem Glanz, als er sagte: »So und nicht anders mußt du damals dreingesehen haben, als du deinen Schülerinnen mit dem Lineal, nein, mit dem Zeigestäbchen die Fingerknöchel blutig geschlagen hast.« Meine Mutter wurde rot. Sie schämte sich vor mir.

Meinem Vater standen jetzt viele Schweißperlen auf dem Gesicht, denn durch das Fenster kam außer dem holden Licht auch schwüle Juli-Hitze. Ich riß mein noch ungebrauchtes Taschentuch heraus und trocknete ihm damit die Stirn ab. Er sah mich dankbar an. Leider waren in der gleichen Tasche die Fetzen seines Briefes gewesen und einige davon waren jetzt auf die Erde geflattert. Ich bemerkte sie viel zu spät. Mein Vater hatte sie schon längst gesehen – und wiedererkannt. Auch meine Mutter hatte sie gesehen. Einige lagen da, mit der beschriebenen Seite nach unten, aber die meisten mit der Schrift nach oben. Ich bückte mich und sammelte sie ein. Ich wagte meinem Vater nicht ins Gesicht zu sehen. Er setzte mehrmals zum Sprechen an. Sie schwieg jetzt. Ich sah ihn an, mit unendlicher Liebe. Ich hatte ihn nicht mit Willen verraten. Er schüttelte den Kopf und wandte sich ab, zur Wand.


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