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29.

Wir waren aber ziemlich weit von der Waldwirtschaft entfernt. Wir gingen nicht Arm in Arm. Trotzdem waren diesmal unsere Schritte genau im gleichen Takt. Bei unserer ersten Begegnung hatte Karla immer drei Schritte gemacht auf einen von mir. Später habe ich mich oft gezwungen, kleinere Schritte zu machen, aber dann war sie mir etwas voraus und beklagte sich über meine Langsamkeit. Diesmal gingen wir in voller Eintracht und Harmonie nebeneinander, uns von Zeit zu Zeit mit Blicken streifend. Mein Glück war über Erwarten groß. Ich liebte Karla vielleicht noch nicht mit der ganzen Kraft meines Herzens. Ich dachte nicht an A. v. W., war mir aber bewußt, daß ich nicht an sie dachte.

Ich hoffte auf künftige, noch glücklichere Tage und Nächte mit Karla. Ich glaubte an sie, ich traute ihr, ich war ihr dankbar, und als wir in die Nähe der noch erleuchteten Wirtschaft kamen, fiel ich ihr um den Hals und küßte sie. Sie war so in Gedanken, daß sie zurückschreckte. Aber natürlich faßte sie sich. »Du kannst also küssen«, sagte sie in einer Art bitterer Schelmerei, »weshalb hast du mich nicht vor den großen Ferien geküßt? Damals! Damals! Ich wäre zufrieden gewesen damit und hätte nichts anderes...« Ich schwieg. Es war doch nicht Reue?

Als wir im Wirtshaus saßen, verlangte sie Wein, und ich trank mit, nicht viel, weil ich wußte, daß mich Wein trübe stimmt. Ich sagte es ihr, und sie spottete auch darüber, bereute dies aber sofort und meinte, sie wisse einen braven Mann zu schätzen, der den Alkohol verabscheue, anders als er. Sie zwang sich aber, nicht von ihrem Vater zu sprechen, nicht an ihn zu denken. Als wir den Wein zahlten, (sie ließ sich jetzt nicht ihr Teil nehmen), fragte sie den Wirt, ob er eigentlich keine Passagierzimmer habe. Nun hatte sie schon am frühen Abend gesagt, sie müsse spätestens um neun Uhr zu Hause sein, weil der arme Lazarus von Rittmeister nur von ihrer Hand esse und weil nur sie verstehe, ihm schmerzlos die Kanüle zu wechseln. Ich erinnerte sie mit einem Blick, aber sie sagte, mich mit ihren düster glühenden Augen umfassend: »Kann ich alsdann jetzt nicht mehr tun, was i will?«

Ich sagte nichts mehr. Wir stiegen in das kalte feuchte Zimmer hinauf. Jetzt erwachte neue Glut in uns beiden, wir stürzten noch in den Kleidern ineinander und entkleideten uns erst viel später. Später stand sie im Lichte einer Kerze, die fast zu Ende gebrannt war, ohne Kleider da und nahm den Saum ihres Rockes, der vorhin beim Streifen durch die betauten Farne feucht geworden war, zwischen die Finger. Dann sah sie auf den Rücken ihrer Hand, wo die Schramme von der Brombeerranke stark gerötet war. Ich wollte ihre Hand küssen, so wie ich ihren Mund und ihre Brust geküßt hatte, aber sie war in Gedanken ganz anderswo. Ich hörte sie etwas von Sublimat und Jodtinktur und Desinfektion murmeln. Ich wollte sie beruhigen. Gibt es etwas Reineres als die Natur?

Aber sie hatte recht, sie war ja Tag und Nacht mit einem furchtbar verseuchten Menschen zusammen. » Mußt du denn bei ihm bleiben? Wie lange denn?« fragte ich. »Wie lange? Solange als wie er mich noch braucht«, antwortete sie kalt. »Ich verdiene dort das Dreifache, was mir sonst die schwerste Pflege getragen hat, zum Beispiel die beim Herrn Admiral, in dessen Gesellschaft du mich kennengelernt hast.« Die gekünstelte Redensart ›in dessen Gesellschaft‹ kam ihr nicht aus dem Herzen, ich sah, sie war noch immer nicht ganz bei mir. »Woran denkst du?« fragte ich. »An Geld«, antwortete sie nach einer Weile, aber lange nicht mehr so hart, eher scheu und so, als schäme sie sich. Ich sah sie auch die Finger bewegen, als rechne sie, kleine Kinder tun dies oft, ich kannte es von der Kindheit meiner Schwester Anninka.

Plötzlich umarmte sie mich, zuerst den ganzen Atem anhaltend, und dann, tief aufstöhnend von neuem, als wäre es das erstemal, hielt sie sich mit so furchtbarer Leidenschaft mit beiden Händen an meinen dichten Haaren fest, daß sie nachher die ganze Faust voller Haare hatte. Ich hatte es aber in meiner Glut gar nicht gespürt, ich merkte es erst nachher, ich hatte Haarweh und hatte doch nichts getrunken, keinen Wein. Sie stand auf und ging etwas taumelnd zum Waschtisch, ich dachte, sie würde die Haare fortwerfen, sie tat es vielleicht, ich konnte es nicht sehen, sie stand mit dem Rücken, wo ihr die Haare bis tief über die Hüfte hinabrollten, zu mir. Jedenfalls hantierte sie mit ihrem Täschchen, aus dem sie ihre dicke silberne Uhr hervorzog. Die Kerze war im Erlöschen. Sie sah aber noch genug. Sie kam zu mir zurück, machte sich klein, barg ihren Kopf an meiner Brust und begann zu weinen ohne Laut. Ich ließ sie gewähren. Ich fühlte, ihre innerste Natur kam endlich in diesen Tränen heraus, ebenso wie vorhin in ihrer Hingabe, ja vielleicht noch mehr. Ich war froh, als ich sah, daß sie schlief; wie ein Kind zog sie die letzte Träne hoch. Ich ordnete ihr Haar, so gut ich konnte, damit sie sich morgens ohne Schmerzen kämmen könne.

Ich war müde, konnte aber nicht einschlafen. Ganz so wie wenn ich vom Wein berauscht wäre, kam in meine Gedanken eine übernatürliche Klarheit. Aber eine fröhliche, eine mutige, keine trübe und verzagte! Ich entsann mich der langen Zeit, bald zwei Jahre, die seit meinem ersten Zusammensein mit meiner Geliebten in Gegenwart meiner Mutter am Bahnhof verstrichen waren, ich sah die Ereignisse aufeinander folgen. Bloß mir war diese Zeit so lange vorgekommen, denn ich hatte gehofft. Hoffen verlängert die Zeit. Das Warten ist schwer. Hätte ich gefürchtet, vielleicht wie ein Kranker oder ein zu einer schweren Strafe Verurteilter, wäre mir die Zeit offenbar sehr kurz erschienen; Furcht verkürzt sie. Man will lieber lange warten als bald untergehen. Für die große Masse gab es aber überhaupt kein Maß für die Zeit, es zählten nur die Ereignisse, jetzt zum Beispiel die Okkupation von Bosnien-Herzegowina, die aus einem höchst friedliebenden Staat wie Österreich einen machthungrigen Staat gemacht hatte.

Was war also die Zeit? Mit blendender, höchst beseligender Klarheit sah ich die Formel vor mir: Z ist gleich i/C. Z ist die Zeit, i ist das Individuum, der unteilbare Einzelgeist, und C. ist die Kausalität, der Grund, mit dem die Ereignisse untereinander zusammenhängen. Zeit wäre also nichts als das Kausalgesetz vom zureichenden Grunde, gesehen von einem unteilbaren Geist. Für die Masse, die Menschheit, das Volk, die Nation, die Familie ist aber die Zeit von vornherein identisch mit Ursache, Grund, Folge.

War dies ein lapidarer Gedanke? War es der unzweifelhafte Beginn meines selbständigen geistigen Lebens? Karla schlief tief. Mein Hemd war immer noch feucht von ihren vielen Tränen, trocknete aber in der Wärme des hohen, schweren Bettes schnell.


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