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II

Von ferne lockte tief der große Tigerruf.

Stumm hockte das riesige Tier. Nahar hinkte in die dunkle Höhle, die fünfzackig zerfetzte Pranke hielt sie an sich. Im Maule trug sie das Junge den langen Weg, die endlose Heimkehr. Die weitgespannten, bleichen Lefzen umspannten das schnell erkaltende Kind.

Die Sonne stieg blendend empor den schwarzen Tag.

Ihr zur Rechten, der quadernhaft gegliederte Turm, der gewaltige Mann: die auf ruhenden Pranken, zwei und zwei. Auf den hohen Kissen steinernen Fleisches der breite, goldgelbe, schwarz geströmte Brustkorb mit dem dröhnenden Herz, in friedlichem Schweben des Atems, als Gipfel sein Haupt, die silberne Wange, der Nebelhof um das große Antlitz, die rosigen Lider über den flach gewölbten Schalen der Augen schlugen nieder und stiegen mit dem ewigen Blick.

Vor ihn hin ließ sie das Tote aus dem Maule gleiten. Er erwachte. Er gab keinen Laut. Ruhig dröhnte in der Stille sein Herz. Mittag. Lange kreiste sein ewiger Blick über das Kind, unbewegt.

Ihr zur Linken lebte noch das andere Kind, das Spiegelbild, das schlafende Weibchen, den Kopf auf die Hüfte gebreitet. Die Mutter legte ihr den Bruder auf die Vorderpfoten, die es traumversunken von sich gestreckt hielt. Das Kind erwachte. Das Weibchen hob sich weg von dem kalten Bruder.

Flirrender Glanz des tropischen Hains. Mittagsstille.

Geier hockten auf den Zweigen, gelb unter Safranblüten, sie lauerten gierig herab auf das tote Kind.

Es hauchte bitteren Duft aus. Es war im Schatten der Mutter, klein hinter ihrer mächtigen Mauer.

Abends verließ der Vater das Heimatgebüsch. Das andere Kind folgte ihm nach.

Nahars zerfetzte Pranke blutete aus. Kalt zitterte das geronnene Blut, die dunkelrote Lache. Eisiger Boden, von Nässe überträufelt. Die Mutter lag stumm ohne Nahrung, ohne Tränkung bis zur Nacht. Ihre fiebernd heißen Pranken kreuzten sich in Schmerzen zerrissen auf dem toten Kinde, ihre Klauen strichen zart in den Rinnen seiner schwachen Rippen.

Nachts versank sie in Betäubung. Plötzlich, als sie erwachte, wurde vor ihren Augen, unter der hilflosen Pranke weg das tote Kind auf in die Lüfte gerissen. Die spitzen Schnäbel und starken Fänge der Geier zerfleischten es im Fluge. Es zerstäubte zu purpurnem Schaum im blaugläsernen Mondlicht.

Jetzt schrie Nahar. In fürchterlichen Laut war ihre Stimme verzaubert, sie rollte grauenhaft, kreischte so fremd: vor sich selbst erschrak das Tier, es flüchtete vor dem eigenen Schrei. Der Vater und das andere Kind, die während ihres Schlafes zurückgekehrt waren, sprangen auf aus dem Schlaf. Aber, da die Mutter verstummte, kamen sie zu ihr, breiteten sich neben ihr aus.

Umwallt von silbern glimmendem Nebel, umwölkt von ihrem knisternd schlafwarmen Fell, gesättigt und sicher des Lebens, so spielten sie an Nahar empor. Sie wollten sie einhüllen in das dunkle Paradies der Tiere. Ihr war es zerstört.

Die Mutter verließ die Höhle, stieg mit vorsichtig tastender Pranke über die anderen hinweg.

Mit schweren Tränen war die goldumrandete Höhle ihrer Augen gefüllt.

Es war noch tief in der Nacht.


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