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Dritter Teil

I

Schon wanderten die Kinder mit der glücklichen Mutter aus dem dichten Dunkel des Heimatgebüsches zum Flusse, um dort zu tränken. Sie schritten neben ihr. Das mutige, das Weibchen, ihr zur Rechten, von der Sonne mit feurigen Spitzen gebadet. Der zarte Knabe zögerte hinter ihr. Die Erstgeburt blieb in ihrem Schatten, geborgen hinter ihrer groß schwebenden Gestalt aus Golderz.

Regengüsse rauschten von neuem. Um die Heimkehrenden gleißten Blitze, blaues Lichtgetümmel. Eintönig donnerte der Orkan im Wald. Über dem Lager hockten Geier mit hohen Flügeln. Von ihren Fittichen, die sie wie gelbe Schalen um sich gebreitet hielten, tropfte der Regen herab zu den Tigern. In weiß kochendem Nebel sammelte sich die warme Nässe, schon verdröhnte der schwingende Sturm. Affen sprangen in langen Rudeln, glänzend im Regen, am Rande des Waldes. Ihnen nach jagten die Geschwister. Nachts kamen sie zurück, gelockt von der warnenden Mutter.

Immer noch lagerte sich der Knabe, die geliebte Erstgeburt, in den Winkel von Nahars Pranken, als wäre er eben erst aufgestanden vom Bette der gebärenden Mutter. Obwohl an seinen Barthaaren schon schwarze Bröckel von Blut und Beute klebten, drängte er sich an ihre Brüste und trank.

Er war der erste bei ihr, verließ sie zuletzt. Oft lockte er sie, ihm nachzufolgen zur Jagd, er wandte sich um, rief sie mit schelmischer Stimme. Wenn sie ihm aber entgegensprang, dann rollte er sich in ein Knäuel zusammen an ihren Füßen. Leblos, versteint, stumm. So spielte er Tod. So spielte er Aufleben, Wiederkehr. Die Brüste der Mutter strömten nicht mehr so quellend wie früher, ihr Leib wurde hart. Mutter blieb ihr Herz. Sie liebte den Knaben sehr.

Mit warmem Wasser aus ihrem Maule wusch sie das Kind, das sich still hielt in ihrem goldenen Schatten. Beide zogen dann auf die Jagd, eilten auf den Fährten der Hirsche, lauerten auf den einsam weidenden Büffel, überlisteten die schnelle Antilope, nährten sich ruhig am Raub aus den umpferchten Herden. Abends, blutgesättigt, blutumfriedet, fanden sie sich in der Höhle zusammen und schliefen.

In einer Nacht dieses Sommers kam nur das andere Kind zurück. Die Mutter wartete. Mit gedehntem Halse lang hingeschmiegt auf die Steine des Lagers, die kleinen spitzen Ohren hoch aufgerichtet, so spähte sie starr ins Dunkle und verschlang die Nacht.

Rufe kamen von überall, sie tropften von den Zweigen, wie aus dem Inneren der Erde dröhnte leise fernher der brüllende Wildstier, fein knisterte in der Nähe der wiegende Schritt der schreitenden Pfauen, das singende Geriesel ihrer Federschleppen, heiser klirrten Hyänen aus den niederen Winkeln, Hunde bellten, dumpf tönten in ewigem Gleichklang die tiefen Kehlen der großen Nachtvögel : aber ihr Kind war noch fern, sein Laut, der einzig unvergeßbare, schwieg. Seine Stimme, das einzig Sprechende für sie, hörte sie nicht. Hungrig, gierig pochte ihr Herz.

Das andere Kind begann mit seiner harten Zunge lüstern an ihrer Brust zu scharren. Wie mit einem Eisen riß es an ihr. Sie schleuderte das Junge fort, so daß es sich, zu einer Kugel geballt, kläglich unter den Steinen überschlug. Es verbarg sich zwischen den Knochen, wimmerte hinter dem toten Gebein, verschwand in der Stille.

In der Stille ging die Mutter auf die Jagd nach dem Knaben. Ihre feuchten nackten Nüstern bohrte sie in alle Sträucher, die mit bleichen Blüten im Nachttau standen, aber bloß schwerer Blumenduft flutete aus ihnen, die Spur des Knaben spürte sie nicht.

Sie lief die gebahnte Straße zum Dorf. Über die Dornenhecke brach sie ein. Die aufgeschreckte Herde schrie und stampfte, donnerte im Rausche der Angst an die Mauer, verfing sich mit den Hörnern blind im Gestrüpp. Nahar verließ sie unblutig, da sie die Spur des Knaben nicht spürte.

Den Wiesenhang herab, zur Tränke am Fluß trabte im blaugläsernen Mond ein Trupp von Hirschen, Antilopen schwebten in federndem Lauf. Mitten unter ihnen stand plötzlich die Mutter, blutgierig nur nach dem Blut ihres Kindes, sie blickte nur nach seinem lebenden Anblick. Sie stand allein.

Einsam beugte das große Tier den Kopf zum Wasser, wartete, ob nicht das kleine Antlitz sich neben ihr niederbeuge. Leeres Rauschen der Flut. Leeres Rieseln des Mondes am Hang. Wedel der Königspalmen silbern umschimmert, langsam bewegt im warmen Nachthauch. Aber im lichten Mondglanze erblickte sie, und wie zitterte ihr Herz zu brausendem Jubel, schon aus der Ferne in der guten Heimathöhle ihr Kind, wie flog sie freudeschnaubend atemlos dahin, um es zu packen, es aufzuraffen in ihren Mund, es zu küssen mit dem Kuß der Tiere, aber eisiges Entsetzen öffnete wieder ihren Mund, das war nicht sein Gegenkuß, das war nicht sein Duft.

Aus ihrem bitteren Schlunde rollte wütend knurrend noch einmal das andere Kind, die späte Geburt, das fremde Fleisch, und sie war allein.

Noch einmal wanderte sie aus. Stummes, beklommenes Herz.

Aber jetzt scholl der kleine Tigerruf, kaum geahnt, hauchte er aus der schweigenden Nacht, aus der tropfenden Stille. Er betörte sie, er bezauberte sie. Ersehnte, einzig verstandene Sprache. Aber er klagte so tief, er atmete so schwach.

Er rief sie aus dem Tal, er verlor sich im Gelände bei den Hecken und Herden. Näher kreiste sie an, schräg hielt sie ihr Haupt hin. Es war gegen Morgen, es schlief alles andere Getier. Unhörbar schlich sie hinab, den Faden der dünnen Stimme gewickelt um ihr ängstliches übergroßes Herz, die Zitzen hielt sie an sich gepreßt, damit sie nicht scharrten, den Kopf schmiegte sie in Dornen, damit das Gebüsch nicht rausche, immer näher heran, immer tiefer herab. Unter ihren Füßen klagte er, flüsterte so matt. Seine Augen waren es, die in den Zweigen blinkten, von Blättern überdeckt, in der Tiefe.

Zu einem hohen Sprunge setzte sie an, um sich ihm zuzuschwingen, ein großer rettender Gott. Schon durchrauschte sie die Luft, schon faßte sie sich, um zu landen in glücklicher, beseligter Eile, im gesegneten Augenblick – im verfluchten Augenblick: im Entsetzen, im lautlosen Grauen: der Boden wich unter ihr, auseinandergerissen klaffte die Erde, zerbrochen wankte das tückische Gespinst. Ins Leere mußten ihre Klauen sich krallen. Aber noch hatte sie sich, mit heiserem Wutgeschrei hob sie sich weg von der verdeckten, giftigen Grube, sie schlang sich an die Rettung, erfaßte den Rand, den sicheren Halt. Am festen Ufer erstand sie, keuchend entatmete sie jetzt, sie ruhte in Sicherheit.

Das Kind blieb in der giftigen Grube.

Unter ihren Füßen wartete es, klagend.

Unter ihren Augen glänzte es, feucht wie in Blut.

In der stinkenden Finsternis, im Begräbnis lag es lebend und kam nicht zu ihr.

Sie schmiegte sich an den vom Nachttau schlüpfrigen Boden, lockte es zu sich mit langem Ruf. Sie schmachtete nach Gegenruf. Hunger, Empörung der aufgerissenen Natur.

Das Kind antwortete sofort, aber das war nicht sein glücklicher Ton. Es wimmerte und würgte Laut auf Laut bitter heraus aus der gefangenen, umschlossenen Kehle. Furchtbar war es der Mutter zu hören, nicht zu ertragen, nicht zu erleben. Sie streckte ihm ihre Pranke hin, damit es sich daran klammere. Es mußte heraufsteigen zu ihr. Aber die Pranke blieb leer, kein Gewicht legte sich an. Aber es war doch nahe, ihr, der rettenden Mutter. Sie fühlte, wie es sie stark anatmete, so nahe war es und nicht zu erreichen, es war neben ihr, und sie konnte es nicht sehen. Sie saß am glatten Rande der Grube, aufgerichtet, jetzt klammerte sie sich bloß mit den Hinterpranken an das Land, den übrigen Leib breitete sie über den Kopf und Hals des Kindes. Nichts rührte sie an.

Ihr ganzes Leben wollte sie hineinpressen in die hängenden Zitzen, ihr ganzes Blut mußte sie zwingen in ihre Brust, sich völlig zerstampfen, nur ein Tropfen sollte ihm in den Mund fließen.

In klagendem Laut verdorrte ihr die Zunge.

Sie wollte hinab, sie wollte den rettenden Halt verlassen, aber unten war Finsternis, Leere, unfaßbares Nichts, ihr Kind unsichtbar im Grunde, aber darüber war Aas und Aasgeruch, grabendes Gewürm, wimmelnd in schleichendem Glanz, auf spitzen Pfählen klebten Klumpen. Es dämmerte jetzt der Morgen sehr langsam. In schwarzem Schlamm versank ihr weit aufgerissener, funkelnder Tierblick.

In der Nähe hinter den Hecken raschelte es, die Rinder brüllten im Morgendurst. Tiere, in Hyänengestalt gekleidet, schielten vorüber auf der dunstigen Heide, doch Nahar wich nicht. Die Sonne ging auf über den Wäldern, um die Himmel wallte ein grün schwebender Strom.

Jetzt sah die Mutter ihr Kind. Mit ausgebreiteten Pranken lag es am Grunde der Aasgrube. Sein zarter Knabenrücken war durchbrochen von einem weißen, spitzigen Pfahl, wie ein leeres ausgeweidetes Fell hing das Kind an dem Holz und schrie leise auf, als es die Mutter erkannte. Sein Kopf war hoch aufgehoben, sein kleines Knabengesicht ihr, der erstarrten, schmerzversteinerten Mutter zugewandt. Es sah sie an, es folgte ihr, es drehte sich rings um den weißen Dorn. Rasend umkreiste Nahar die tiefe Höhle, jagte am Rande hoch und weit in verzweifelten Sprüngen. Immer wirbelte der Körper des Kindes ihr nach. Es klagte ihr zu, aus weit aufgetanem Munde, sie heulte ihm Antwort herab, sprachlos brüllende Verzweiflung, müde verkeuchenden Trost.

Das Kind sank zusammen, noch rief es, aber es rührte sich nicht.

In immer wilderem Schwung tobte die Mutter um den tiefen Abgrund, sie hetzte sich selbst, schleuderte sich mit unermüdeten Stößen durch die Luft, des Kindes Seele in ihrer. Sie strebte ihm zu, sie mußte es haben, mußte es finden, mitten in die fürchterliche Grube schmetterte sie sich, ihre rechte Pranke zuckte in grauenhaftem Schmerz, gepfählt an einen spitzen Holzdorn war sie an den Boden geheftet. Nahar war gekettet an die verwesenden Tiere, die sich neben ihr in der Pfahlgrube blähten. Aber sie riß die Pranke heraus aus dem Dorn, sie beugte sich über das Kind, glücklich, daß es noch lebte. Sie rief es, so nahe an seinem kleinen Ohre, es regte sich kaum. Seine Zähnchen, die sprießenden, schimmerten licht. Schwarz vertrocknet war sein Mund, den die Mutter mit ihrer großen Zunge küßte. Mit ihren Zähnen faßte sie so zart, so behutsam das rostrote, schwarz geströmte Nackenfell des Kindes, so schonend machte sie es vom Pfahle frei, hob es empor. Mit ungeheurer Kraft klammerte sie sich an den Rand der Grube, ankerte ihre Klauen in den schlüpfrigen Boden, aus ihrer zerschmetterten Hand floß Blut. In fünf Finger war sie jetzt gespalten, da durch den Dorn ein Glied in zwei Stücke zerfetzt war. Aber nun schwebte sie doch über dem Grab, das Kind, das zitternde, im Munde, so zog sie es empor: unter ihren großen Augen breitete sie es, gerettet in die Oberwelt, in das Gras, sie blies es an, als wäre es eben erst geboren, als wäre sein Blut nur die unschuldige Feuchte der glücklichen Geburt, sie wollte ihm den Schmerz forthauchen. Jetzt spiegelte es sich in ihren Augen. Still, ohne Klage.

Sie bettete es an ihre Brust. Die Quelle war verdorrt, aber das Kind träufelte nasse Flut nieder auf sie, Blut auf die unselige Mutter, das verzweifelte Herz.

Sie riß das Kind an die Augen. So war es schon blind, das schwarze Augenrund milchig vereist, es sah sie nicht mehr. Es klagte nicht, es atmete nicht.

Wut und tierisches Toben ergriff sie, den Leichnam des Kindes zu zerschmettern, das Zerfleischte noch zu zerreißen aus eigenem Willen, das Geliebte wollte sie ganz vernichten, sie raffte sich auf, in rasender Empörung stieß sie hoch, ein schwankender, brüllender Koloß: krachend sank sie nieder. In eisige Finsternis sauste ihr blühendes Leben.

Sie erwachte bald. Gewichtlos wie ein Neugeborenes schwebte an ihren Lippen der tote Knabe.

Sie ringelte sich um ihn, hielt ihn umschlungen: ihre Seele, ihr Leib. Ihre Brust war abgewürgt, unwillig zu atmen. Unter Steinen verscharrt, keuchte ihre Stimme, die einst wie Käferschwirren hinblühte über die Wiese.

Sie sah ihn stumm an, trug ihn fort, da brachen rosige Eingeweide und schwarzes Blut aus seinen riesigen Wunden. Sie blieb stehen. Langsam blickte sie im Kreise.

Aus dem seligen Urgrund der Tiere stieg Nahar. Aufgerissen, bezwungen, verflucht.

Das riesige Tierhaupt starr erhoben, atmete sie tief.

Die Mutter weinte, es weinte der Mensch.


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