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V

In der Nacht noch lief sie die verregnete Straße entlang in ein Dorf. Kleine Häuser, mit Palmstroh gedeckt, tief herabhängende Dächer. Im Sprung setzte sie über eine Dornenhecke, mitten hinein in den weichen Teppich wolliger Felle. Schon hatte sie einen Widder am Nacken gefaßt, schon setzte sie an zu schwingendem Sprung zurück über die niedrige Mauer, da jagten sie Menschen zur Flucht. Fackeln zischten. Rote Glut brannte. Erschrecken riß ihr das eisern geklammerte Maul auf, weich entglitt der Widder ihren Kiefern. Aber noch hielt sie stand, trotzte dem Schreien, blitzte die Menschen an mit den aufgerissenen leuchtenden Lichtern. Sie fürchtete die Menschen nicht. Erst als eine Fackel, von rückwärts geschleudert in hochprasselndem Bogen, an ihren Nacken prallte und mit hitziger Wut ihr die Haare versengte, duckte sie sich zurück ins regennasse Gebüsch.

Der Widder lag noch in der Dornenhecke, langhin blökte er seine Klage, gelähmt, mit ohnmächtigen Hörnern kratzte er inmitten der Zweige, noch war er geschützt durch das dornige Gestrüpp. Mitten in die Dornen bohrte sich Nahar, zwischen den Zacken wand sie sich zähe mit den nackten Nüstern hindurch, Schmerz durchrann sie und Wollust. Sie raffte das Schaf, faßte es mit der Pranke, dann hatte sie es. Jetzt jagte es mit ihr, aufgeladen war es auf ihre wehenden Sprünge, trabte stumm mit ihr die gebahnte Straße entlang, über den regentriefenden Waldweg. Aber warm, mit hoher Wolle gepolstert, pochte der Widder ihr an die Brust, noch lebte er, wild kratzte er ihren Bauch mit den stumpfen Klauen. Wind wehte stürmisch um Nahars stürmendes Antlitz.

In der Heimathöhle, unter dem schützenden Heimatbaum, hielt sie das Schaf an ihren Körper gepreßt, wollüstig fühlte sie: eine neue Natur, sechs Brüste, kleine nackte Hügel, auf ihrem weiblichen Leib.

Sie rollte sich in den trockensten Winkel. Sechs Knospen, noch nicht gelöst, spannten sich inmitten ihres hochwallenden Felles, ihrem Auge verborgen. Aber ihre Zunge umspielte die Brüste. Unter dem rauhen reibenden Fleisch ahnte sie die zarte erwachende Hülle, im Grunde ihrer Brust erwachte wonnevoll ein tiefes Stöhnen. Sie atmete schnell und tief. So fein, kaum noch zu ahnen, der Duft des eigenen Blutes. Die Ahnung des eigenen Fleisches berauschte sie ganz.

Längst lag der Widder verendet hinter ihrem Haupt, ein Kissen, süß knirschend unter ihrer ruhenden Last. Der Tag ging auf. In weißen Schwaden hob sich der warme Nebel zwischen den langsam schwingenden schlanken Palmen. Die Sonne brach durch. Papageien kreischten, in den Netzen der Luftwurzeln regte es sich von wimmelndem Getier. Ruhig, sanft atmend lag die Tigerin da neben dem blutbefleckten silbergrauen Widder. Laut kam ein rollendes Schnurren aus ihrer Kehle. Am Ende ihres Leibes, der aus dem Schatten in die pralle Morgensonne ragte, unter der zischenden Glut, der geballten Hitze des tropischen Mittags entfaltete sich ein Körper neu: in der Schlucht der Hinterkeulen sproß eine Blüte, rosenfarben, nackt, breit geöffnet in der ruhelos saugenden Sonne, hingegeben ein neues blutpochendes Herz, hingelebt in die wiegende flimmernde Luft.

Verschollen war der Vater, die Mutter verschollen. Bewachsen war ihre Lagerstätte und das Schädelgebirge des toten Gebeins übergrünt.

Schatten des Vaters: Glieder gewaltig getürmt, Pranken wie Bäume so fest, wie Steine in der Sonne so heiß, sein Atem wie Blut aus offener Wunde, bezwingend war seine Nähe. Wie kreiste Nahars Hals in der Runde, um ihn zu erreichen, ringsum blickte ihr Auge, um ihn zu finden. Aber nur wenn sie ruhte, wenn sie sich mit blinden Augen einträumte in den dunklen, blauen Kindertag, da kam er, bezwungen: ein stürzender Strom. Ihren Körper erreichte die letzte Spitze seines züngelnden Mundes. Seine breiten weißen Lippen lächelten zu ihr, wie ein aufgehender Mond schwebte über ihr der Nebelhof, ein großes Antlitz, lebendig wanden sich die schwarzen Ketten um sein goldglänzendes Fell, so stand er da, mit seinen Vorderpranken auf ihrem dienenden Nacken kniend. Eine glückliche Wiederkehr.

Der Bruder, das liebliche Spiegeltier, sein feinduftendes Fell, seine zarte Kinderbrust, die neben ihr atmete, in ihr Heben sich senkte, in ihre Senkung sich hineinhob, immer noch ringelte er sich neben ihr im Tal der sechs heißen, blauschattenden Mutterbrüste. Erinnerung, dunkles Gedenken. Wanderung zurück, zurück die herrliche Zeit. Aufatmen im blühenden Leben, dem endlos erneuten. Dem Vater, dem Bruder nach, den männlichen Tieren, den Tieren wie sie selbst folgte sie nach, unermüdet schreitend, still jagend in tropischen Wäldern. Aber selbst beschritten zu werden, danach hungerte sie. Selbst gejagt zu werden, danach durstete sie. Zu liegen begehrte die unermüdlich Eilende. Das einsame Tier wollte ein anderes umschließen, Kopf an Kopf, Atem an Atem, Geschlecht in Geschlecht.

Den Bruder mit den sprießenden Zähnen zu kämmen, ihre Wange an seine weiche Wange zu schmiegen, nächtlich ihn zu liebkosen. Dem Vater, dem gewaltig ragenden Mann sich zu unterwerfen, danach zitterte sie. Tage durchjagte sie, Nächte durchwachte sie im Paradiese der Tiere. Bis zum Rande, bis hinauf zum schwankenden Gipfel war der Urwald des purpurblau blühenden Sommers gefüllt.

Brüllaffen, Orang-Utan, Elefant, Schildkröte, Wildbüffel, zahmweidende Rinder, die vierhörnige Antilope, der schwere Tapir, Wildkatzen und Moschustier, Hunde, Hyänen, Schakale, Nashorn, Krokodile und Geier. Steppe. Fern ein Dorf, fern der Gipfel im Schnee. Pfauen, Smaragdvögel und Tauben, grau und rosenrot. Schmetterlinge, Paradiesvögel, wie Edelsteine funkelnd. Fluß, Sumpf, kahler Berg aus Kies und Geröll, Gebüsch und Wald. Vaterwald, Heimatwald, aber nirgends der Vater, der Bruder, niemals ein Tier wie sie selbst.

Eines Tages im Halbschlaf, in der alten Höhle der Heimat hörte sie dumpf grollenden Laut, freudiges Schnauben, silbern klagenden Ruf: alles war da, die Tiere ihrer Seele gerettet zu ihr.


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