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39.

Der Waggon, in dem Nechljudow fuhr, war zur Hälfte von Menschen angefüllt. Dienstboten fuhren darin mit und Handwerksburschen, Fabrikarbeiter, Schlächter, Juden, Kommis, und ein Soldat, und ein streng dreinschauender Herr mit einer Kokarde an der schwarzen Mütze. Auch Frauen waren da, Arbeiterinnen zumeist, doch auch zwei Damen, eine jüngere und eine ältere, mit Armbändern an den entblößten Armen. Alle diese Leute hatten sich allmählich auf ihren Plätzen häuslich eingerichtet und saßen nun friedlich da – die einen knackten Sonneblumensamen, andere rauchten eine Zigarette, und noch andere unterhielten sich lebhaft mit ihren Nachbarn.

Taras saß mit glücklicher Miene rechts vom Durchgang; er hatte einen Platz für Nechljudow reserviert und war in einer regen Unterhaltung mit einem ihm gegenübersitzenden, muskulösen Manne begriffen, der einen offenstehenden Tuchrock trug und, wie Nechljudow später erfuhr, ein Gärtner war, der eine neue Stelle antreten sollte. Nechljudow begab sich in den Waggon, kam jedoch nicht bis zu Taras heran, sondern blieb im Durchgange, neben einem ehrwürdig aussehenden alten Manne mit weißem Vollbart, in einem Nankingrock, der sich mit einer jungen Frau in ländlicher Tracht unterhielt. Neben der Frau saß ein siebenjähriges Mädchen in einem neuen Sarafan mit einem Zöpfchen fast ganz weißer Haare, das mit den Beinen bei weitem nicht bis auf den Fußboden reichte und unaufhörlich Sonneblumensamen knackte. Der Alte sah Nechljudow an, nahm von der frischlackierten Bank, auf der er ganz allein saß, seinen Rockschoß fort und sagte freundlich:

»Setzen Sie sich, bitte.«

Nechljudow dankte und setzte sich auf den Platz, nach dem der Alte gezeigt hatte. Als er sich gesetzt hatte, fuhr die Frau in der unterbrochenen Erzählung fort. Sie erzählte, wie ihr Mann, von dem sie jetzt nach Hause zurückkehre, sie in der Stadt empfangen habe.

»In der Butterwoche war ich bei ihm, und nun hat es Gott so gefügt, daß ich jetzt wieder hin konnte,« sagte sie. »Nun wird es wohl Weihnachten werden, bis ich ihn wiedersehe.«

»Recht so,« sagte der Alte mit einem Blick nach Nechljudow. »Besuch' ihn nur immer, solch ein junger Mensch wird in der Stadt sonst leicht verdorben.«

»Nein, Großväterchen, meiner ist nicht von der Art. Der macht keine dummen Streiche, er ist so rein wie ein junges Mädchen. Alles Geld schickt er nach Hause, bis zur letzten Kopeke. Und wie er sich über sein kleines Mädchen gefreut hat – nein, nicht zu sagen ist's!« erzählte die Frau lächelnd.

Die Kleine, die in einem fort die Schalen der Sonnenblumenkerne ausspie und dabei der Mutter zuhörte, blickte wie zur Bestätigung dessen, was diese erzählte, dem Alten und Nechljudow mit ruhigem Lächeln ins Gesicht.

»Um so besser, wenn er hübsch vernünftig ist,« sagte der Alte. »Und wie steht's denn damit – gibt er sich damit nicht ab?« fragte er, mit den Augen nach einem Ehepaar auf der andern Seite des Durchgangs blinzelnd. Der Mann, dem Anschein nach Fabrikarbeiter, setzte die Branntweinflasche an den Mund und nahm daraus, den Kopf nach hinten neigend, einen tüchtigen Zug, während seine Frau den Sack, dem die Flasche entnommen war, festhielt und dabei unverwandt auf ihren Mann sah.

»Nein, der meinige trinkt nicht und raucht auch nicht,« sagte die Frau, die sich mit der Alten unterhielt, indem sie nochmals das Lob ihres Gatten anstimmte. »Solche Menschen wie der sind selten, Großväterchen. Von der Art ist er,« bestätigte sie nochmals Nechljudow gegenüber.

»Das ist gut, sehr gut,« sagte der Alte mit einem Blick auf den betrunkenen Fabrikarbeiter.

Dieser reichte die Flasche, nachdem er selbst getrunken, seiner Frau. Sie nahm die Flasche, lachte und setzte sie mit einem Kopfschütteln an den Mund. Als der Fabrikarbeiter bemerkte, daß Nechljudow und der Alte sie ansahen, wandte er sich zu diesen:

»Sie wundern sich wohl, Herr, daß wir trinken? Ja – wie wir arbeiten, das will niemand sehen, aber wenn wir mal trinken, gucken gleich alle hin. Hab' ich ein Stück Geld verdient, dann darf ich auch trinken und meine Frau Gemahlin traktieren, das geht keinen was an.«

»Gewiß, gewiß,« sagte Nechljudow, der nicht recht wußte, was er antworten sollte.

»Ganz sicher, lieber Herr. Meine Frau Gemahlin ist 'ne Frau, die was aushält. Ich bin mit meiner Frau Gemahlin recht zufrieden, weil sie nämlich Mitleid mit mir hat. Hab' ich recht, Mawra?«

»Da, nimm sie schon, ich mag nicht mehr,« sagte die Frau und gab ihm die Flasche zurück. »Und schwatz' kein dummes Zeug,« fügte sie hinzu.

»So liegen die Dinge,« fuhr der Fabrikarbeiter fort. »Im ganzen ist sie ja recht brav, manchmal aber knarrt sie los wie ein ungeschmierter Karren. Hab' ich recht, Mawra?«

Mawra ließ ein trunkenes Lachen hören und winkte ihm mit der Hand ab.

»Jetzt ist er mal im Zuge ...« meinte sie.

»So liegen die Dinge, wie gesagt – ganz brav ist sie, aber eben nur so lange, wie es dauert: sowie ihr die Leine untern Schwanz kommt, wird sie bockbeinig und macht die tollsten Streiche ... Hab' ich recht, Mawra? Entschuldigen Sie nur, werter Herr, ich hab' einen sitzen – na, was soll man schon machen? ...« sagte der Fabrikarbeiter, während er sich anschickte, ein Schläfchen zu machen, und den Kopf auf den Schoß seiner lächelnden Frau legte.

Nechljudow saß ein Weilchen bei dem Alten, der ihm verschiedenes von sich selbst erzählte – er sei ein Ofensetzer, habe dreiundfünfzig Jahre gearbeitet und in seinem Leben so viele Öfen gesetzt, daß sie gar nicht mehr zu zählen seien. Jetzt wolle er ausruhen, finde aber keine Zeit dazu. Er sei in der Stadt gewesen, habe seine Kinder untergebracht und fahre jetzt ins Dorf, um zu sehen, was die Heimgebliebenen machten. Nachdem Nechljudow seine Erzählung zu Ende gehört hatte, erhob er sich und begab sich nach dem Platze, den Taras für ihn freigehalten hatte.

»Setzen Sie sich nur, lieber Herr – den Sack können wir da hinüber legen,« sagte in freundlichem Tone der Gärtner, der Taras gegenübersaß, während er zu Nechljudow aufblickte.

»Eng, aber gemütlich!« meinte Taras lächelnd mit singender Stimme und trug mit seinen kräftigen Armen den zwei Pud schweren Sack, als wäre es eine Feder, zum Fenster hin. »Platz ist genug da, schließlich kann man auch stehen, oder sich unter die Bank legen. Nur hübsch Frieden halten und nicht zanken!« sagte er, und sein Gesicht strahlte nur so vor Gutmütigkeit und Freundlichkeit.

Taras erzählte allerhand von sich selbst – er komme, wenn er nicht ein Schlückchen trinke, gar nicht mit der Rede fort; nehme er dagegen ein Gläschen Branntwein zu sich, dann flössen ihm die Worte nur so zu, alles könne er sagen. In der Tat schwieg Taras zumeist in nüchternem Zustande, während er, wenn er etwas trank, was bei ihm nur selten und bei ganz besonderen Gelegenheiten vorkam, ein sehr angenehmer Gesellschafter war. Er sprach dann viel und gut – mit großer Einfachheit, Aufrichtigkeit und vor allem Herzlichkeit, die nur so aus seinen gutmütigen blauen Augen und dem freundlichen Lächeln um seine Lippen strahlte.

In solch einem Zustande befand er sich heute. Als Nechljudow herankam, hielt er ein Weilchen in seiner Rede inne. Sobald er jedoch seinen Sack untergebracht hatte, nahm er wieder seine frühere Haltung ein, legte die kräftigen, abgearbeiteten Hände auf die Knie, blickte dem Gärtner gerade in die Augen und fuhr in seiner Erzählung fort. Er erzählte seinem neuen Bekannten die Geschichte seiner Frau, mit allen Einzelheiten, warum sie verschickt wurde, und warum er ihr jetzt nach Sibirien folge.

Nechljudow hatte diese Erzählung noch nie ausführlich vernommen und hörte darum mit Interesse zu. Er kam gerade zu der Stelle zurecht, als Taras bereits das Gift bekommen hatte und die Familie erfuhr, daß Fedoßja es ihm eingegeben habe.


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