Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

6.

Als Nechljudow die Stube verließ, stieß er wieder gegen den Türrahmen, und dasselbe wiederholte sich bei der Haustür. Auf der Straße erwarteten ihn bereits die beiden Knaben, der Weiße und der Rosarote, zu denen sich noch ein Grauer gesellt hatte. Auch andere Kinder kamen noch hinzu, sowie einige Frauen mit Säuglingen, unter denen Nechljudow auch wieder die hagere Frau mit dem blutarmen Kinde in der Flickenkappe bemerkte. Das greisenhafte Gesicht dieses Kindes lächelte in einem fort so seltsam über das ganze Gesicht. Nechljudow wußte, daß dieses Lächeln der Ausdruck tiefen Leidens war. Er fragte, wer diese Frau sei.

»Das ist eben die Anißja, von der ich dir sagte,« antwortete der ältere Knabe.

Nechljudow wandte sich zu Anißja um.

»Wie lebst du?« fragte er – »wovon ernährst du dich?«

»Wie ich lebe? Ich bettle,« antwortete Anißja und begann zu weinen.

Das Kind mit dem Greisengesicht aber zerfloß förmlich in seinem Lächeln und krümmte dabei seine dünnen Beinchen, die zwei Würmern glichen.

Nechljudow holte seine Brieftasche heraus und gab der Frau eine Zehnrubelnote. Noch hatte er keine zwei Schritte gemacht, als eine zweite Frau mit einem Säugling, dann eine Alte und noch eine Frau ihn einholten. Alle sprachen von ihrer Armut und baten ihn, ihnen zu helfen. Nechljudow verteilte die sechzig Rubel unter sie, die er in kleinen Scheinen bei sich hatte, und kehrte in schwer gedrückter Stimmung, mit tiefer Wehmut im Herzen, nach der Wohnung des Verwalters zurück.

Der Verwalter empfing Nechljudow mit seinem gewohnten Lächeln und mit der Nachricht, daß die Bauern sich am Abend versammeln würden. Nechljudow dankte ihm und begann, ohne erst ins Haus zu gehen, auf den mit den weißen Blättchen der Apfelblüten bestreuten Gartenwegen auf und ab zu gehen und über das, was er gesehen, nachzudenken.

Er war noch nicht weit in den Garten hineingeschritten, als er in der Nähe der Verwalterswohnung einen Wortwechsel vernahm. Erboste Frauenstimmen drangen, von den ruhigen Ausführungen des Verwalters unterbrochen, bis zu ihm.

»Meine Kraft reicht nicht hin, was quälst du mich so bis aufs Blut?« sprach zornig die eine der weiblichen Stimmen.

»Sie war doch nur eben hineingelaufen,« sprach die andere Stimme. »Gib sie heraus, sage ich. Was quälst du das Vieh und die Kinder, die nun keine Milch bekommen?«

»Bezahl', oder arbeite es ab,« antwortete die ruhige Stimme des Verwalters.

Nechljudow begab sich nach der Haustreppe hin, an der zwei zerzauste Weiber standen, die eine offenbar in schwangerem Zustande. Auf den Stufen der Treppe stand, die Hände in den Taschen seines Nankingpaletots, der Verwalter. Als die Weiber den Herrn erblickten, schwiegen sie und brachten ihre verschobenen Kopftücher in Ordnung, während der Verwalter die Hände aus den Taschen nahm und zu lächeln begann.

Es handelte sich darum, daß die Bauern, wie der Verwalter sagte, absichtlich ihre Kälber und sogar ihre Kühe auf die herrschaftliche Wiese ließen. Nun waren zwei Kühe von den Höfen dieser Frauen auf der Wiese abgefaßt und auf den Gutshof getrieben worden. Der Verwalter verlangte von den Weibern dreißig Kopeken oder zwei Tage Arbeit für jede Kuh. Die Weiber aber behaupteten, ihre Kühe seien eben erst auf die Wiese gelaufen, und sie hätten überhaupt kein Geld, und sie verlangten gegen das Versprechen, die Strafe abzuarbeiten, daß ihnen die seit dem frühen Morgen ohne Futter auf dem Viehhof stehenden, kläglich brüllenden Kühe sofort wiedergegeben würden.

»Wie oft habe ich euch im Guten gebeten,« sagte der Verwalter, während er lächelnd auf Nechljudow sah, als wolle er ihn als Zeugen anrufen – »wenn ihr das Vieh mittags nach Hause treibt, dann gebt acht darauf!«

»Ich war nur mal zu dem Kleinen gelaufen, und da waren sie schon weg.«

»Dann geh eben nicht fort, wenn du es schon übernommen hast, auf sie acht zu geben.«

»So – und wer wird dem Kleinen die Brust reichen?«

»Wenn sie sich wenigstens ordentlich sattgefressen hätten, dann würde ich nichts sagen, aber so waren sie doch eben erst auf die Wiese gelaufen,« sagte die andere.

»Alle Wiesen haben sie abfressen lassen,« wandte sich der Verwalter an Nechljudow. »Wenn man sie nicht zur Rechenschaft zieht, bleibt kein bißchen Gras zum Heu übrig.«

»Ach, sündige doch nicht!« schrie die Schwangere. »Meine Kühe wurden noch nie erwischt.«

»Aber jetzt sind sie erwischt worden – bezahl', oder arbeite es ab!«

»Ja doch, ich werde es abarbeiten. Laß die Kühe laufen, laß sie nicht länger hungern,« rief sie wütend. »Ich hab' ohnedies Tag und Nacht keine Ruhe. Die Schwiegermutter ist krank. Der Mann säuft und säuft. Ganz allein muß ich sehen, wie ich fertig werde. Es geht über meine Kraft. Nun soll ich's auch noch abarbeiten – ersticken sollst du daran!« schrie sie und brach in Tränen aus.

Nechljudow bat den Verwalter, die Kühe freizugeben. Er begab sich in den Garten zurück, um seine Gedanken zu Ende zu denken.

Es gab im Grunde genommen nichts mehr zu denken: alles war ihm jetzt klar, und er wunderte sich nur darüber, daß die Menschen es nicht sahen, wie auch er es so lange nicht gesehen hatte. Das Volk stirbt aus, und es hat sich an sein Aussterben gewöhnt. Dieses Kindersterben, die übermäßige Arbeit der Frauen, der Mangel an Nahrung für alle, namentlich für die Alten – das alles sind Symptome des Aussterbens. Ganz allmählich ist das Volk in diese Lage gekommen, so daß es selbst das Grauenhafte nicht sieht und nicht darüber klagt, und darum glauben auch wir, daß es so natürlich sei, daß es nicht anders sein könne.

Jetzt war es Nechljudow so klar wie der Tag, daß die Hauptursache des Volkselends, die das Volk selbst immer erkannt und hervorgehoben hatte, darin bestand, daß ihm das Land, von dem es sich einzig ernährte, durch die Grundbesitzer vorenthalten wurde. Es lag auf der Hand, daß die Kinder und die alten Leute starben, weil keine Milch da war, um sie zu ernähren, an Milch aber mangelte es, weil kein Land da war, um das Vieh zu weiden und genügend Getreide und Heu zu ernten. Es lag auf der Hand, daß die Hauptursache des Volkselends darin bestand, daß der Grund und Boden sich nicht in seinen Händen, sondern in denen von Leuten befand, die, ohne selbst den Boden zu bearbeiten, von der Arbeit des Volkes lebten. Das Land, das das Volk so notwendig braucht, daß es aus Mangel daran zugrunde geht, wird von ihm bearbeitet, damit das Getreide ins Ausland verkauft werden kann, und damit die Besitzer des Landes sich für den Ertrag allerhand Luxusgegenstände kaufen können. Das alles, glaubte Nechljudow, war ihm jetzt ganz klar, wie es ihm klar war, daß die in einer Hürde eingeschlossenen Pferde, sobald sie alles Gras unter ihren Füßen abgeweidet haben, mager sein und vor Hunger sterben müssen, wenn ihnen nicht neues Weideland geboten wird, auf dem sie Futter finden können.

Das durfte nicht sein – es mußten Mittel gefunden werden, daß es anders werde. Er wenigstens wollte daran keinen Anteil mehr haben.

»Ich werde diese Mittel unbedingt finden,« dachte er, während er in der Gartenallee auf und ab ging.

In den ökonomischen Gesellschaften, in den staatlichen Kommissionen, in den Zeitungen wird ein langes und breites von den Ursachen der Volksarmut und von den Mitteln zu ihrer Beseitigung geredet – nur nicht von dem einzigen sicheren Mittel, diese Ursachen zu beseitigen, daß nämlich dem Volke das ihm vorenthaltene und ihm so notwendige Land gegeben werde. Und er erinnerte sich lebhaft der Lehre des Henry George und der Begeisterung, die er einstmals selbst für diese Lehre gehegt, und er wunderte sich, daß er das alles habe vergessen können.

»Der Grund und Boden kann nicht Gegenstand des Eigentums, nicht Gegenstand des Kaufs und Verkaufs sein, so wenig wie Wasser, Luft und Sonnenschein. Alle haben das gleiche Recht auf den Grund und Boden und auf alle Vorteile, die er dem Menschen bietet.«

Und er begriff nun, warum er dort, in Kusminskoje, als er das Land an die Bauern verpachtete, ein Gefühl der Beschämung nicht loswerden konnte. Er war in einem Selbstbetrug befangen gewesen: er wußte, daß der Mensch ein Recht auf den Grund und Boden nicht habe, er hatte selbst einmal diese Ansicht öffentlich vertreten, und doch hatte er jetzt dieses Recht für sich in Anspruch genommen, hatte den Bauern einen Teil von dem schenken wollen, worauf er selbst gar kein Recht besaß. Das durfte er nun nicht mehr wiederholen – und auch in Kusminskoje mußte er später eine Änderung treffen. Und er entwarf im Geiste ein Projekt, das darauf hinauslief, den Bauern das Land gegen eine Rente zu verpachten, die aber Eigentum der Bauern bleiben sollte, so zwar, daß sie das Geld wohl zahlten, jedoch für die Steuern und die Gemeindebedürfnisse verwandten. Das war noch nicht die »single tax« des Henry George, aber es war doch unter den bestehenden Umständen die möglichst größte Annäherung an sie. Die Hauptsache war, daß er bei einer solchen Ordnung der Angelegenheit auf die Ausübung seines Eigentümerrechtes an dem Lande verzichtete.

Als er das Haus betrat, lud ihn der Verwalter mit einem ganz besonders freundlichen Lächeln zum Mittagessen ein, wobei er im vorhinein um Entschuldigung bat, falls eins der von seiner Frau mit Hilfe des Mädchens mit den Daunenohrringen zubereiteten Gerichte vielleicht angebrannt oder sonst nicht ganz geraten sein sollte.

Der Tisch war mit einem Tischtuch aus ungebleichtem Leinen bedeckt, ein gesticktes Handtuch diente als Serviette, und auf dem Tische stand eine Porzellanterrine mit abgeschlagenen Griffen, in der sich eine Kartoffelsuppe befand, sowie ein Teller mit eben jenem Hahn, der mit seinen schwarzen Füßen an der bunten Schürze des Mädchens herumgekrabbelt war und jetzt, in kleine, stellenweise noch mit Haaren bedeckte Stücke zerlegt, das Hauptgericht der Mahlzeit bildete. Nach der Suppe folgte eben dieser Hahn mit den angebrannten Haaren, und dann kamen Quarkkuchen, die mit überreichlich viel Butter und Zucker zubereitet waren. So wenig schmackhaft das auch alles war, Nechljudow aß es, ohne darauf zu achten, was er aß, so sehr war er von seiner Idee in Anspruch genommen, die mit einem Mal jenes Gefühl schmerzlicher Wehmut verscheucht hatte, mit dem er aus dem Dorfe zurückgekehrt war.

Die Frau des Verwalters guckte zur Tür herein, während das Mädchen mit dem Daunenschmuck in den Ohren ganz ängstlich das Essen auftrug und der Verwalter, auf die Kochkünste seiner Gattin nicht wenig stolz, immer freudiger und freudiger lächelte.

Nach dem Mittagessen forderte Nechljudow den Verwalter auf, sich mit ihm zusammenzusetzen und sein Projekt zu prüfen. Er hatte das Bedürfnis, das, was ihn beschäftigte, mit irgend jemandem durchzusprechen, und er legte dem Verwalter den ganzen Plan der Übergabe des Landes an die Bauern ausführlich dar und erbat gleichzeitig seine Meinung über das Projekt.

Der Verwalter lächelte und tat so, als habe er denselben Gedanken schon längst gehabt, und als sei er sehr erfreut über das, was er vernommen. In Wirklichkeit jedoch hatte er nichts von der ganzen Sache begriffen, nicht etwa, weil Nechljudow sich unklar ausgedrückt hätte, sondern weil sich aus diesem Projekt ergab, daß Nechljudow seinen eigenen Vorteil um fremden Vorteils willen opfern wollte, während der Verwalter es als unumstößliche Wahrheit ansah, daß jeder Mensch nur seinen eigenen Vorteil, sei es auch auf Kosten anderer, sucht. Diese Überzeugung wurzelte so fest in ihm, daß er irgendetwas in Nechljudows Ausführungen nicht verstanden zu haben meinte, als dieser sagte, das ganze Einkommen vom Grund und Boden solle wieder dem gemeinsamen Kapital der Bauern zufließen.

»Ganz recht, ich verstehe. Sie wollen also die Zinsen dieses Kapitals beziehen?« sagte er, übers ganze Gesicht strahlend.

»Keineswegs! Verstehen Sie mich doch recht: ich will das Land ganz unentgeltlich weggeben.«

»Sie wollen also davon gar keine Einkünfte mehr haben?« fragte der Verwalter, und das Lächeln verschwand von seinem Gesichte.

»Nein, ich verzichte auf alles.«

Der Verwalter stieß einen schweren Seufzer aus, begann aber dann sogleich wieder zu lächeln. Jetzt hatte er die Sache begriffen. Er hatte begriffen, daß Nechljudow nicht ganz klar bei Verstande sei, und er begann sogleich in dem Projekt Nechljudows, der auf sein Land ganz und gar verzichten wollte, einen Punkt zu suchen, an dem vielleicht sein eigner Vorteil wieder einsetzen könnte. Jedenfalls suchte er sich das Projekt so zurechtzulegen, daß er bei der Abgabe des Grund und Bodens an die Bauern nicht zu kurz kam.

Als er begriffen hatte, daß auch dies nicht möglich war, wurde er böse, interessierte sich nicht weiter für das Projekt und fuhr nur noch seinem Herrn zuliebe fort zu lächeln. Da Nechljudow sah, daß der Verwalter ihn nicht verstand, entließ er ihn und setzte sich allein an den zerschnittenen und mit Tinte begossenen Tisch, um sein Projekt zu Papier zu bringen.

Die Sonne war bereits hinter die mit jungem Grün bedeckten Linden gesunken, und die Mücken kamen in Schwärmen ins Zimmer und stachen Nechljudow. Eben hatte er seine Niederschrift beendet, als vom Dorfe her das Brüllen der Herden, das Knarren der Tore, die dem heimkehrenden Vieh geöffnet wurden, und die Reden der zu der Versammlung bestellten Bauern sich vernehmen ließen. Nechljudow sagte dem Verwalter, es sei nicht nötig, daß die Bauern ins Kontor gerufen würden, er würde selbst ins Dorf kommen, nach dem Hofe, auf dem sie sich versammeln würden. Er trank in Eile ein Glas Tee, das der Verwalter ihm anbot, und begab sich nach dem Dorfe.


 << zurück weiter >>