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14.

In Petersburg hatte Nechljudow vier Angelegenheiten zu erledigen: zunächst beim Senat das Kassationsgesuch der Maslowa, dann bei der Bittschriftenkommission die Sache der Fedoßja Birjukowa, weiterhin in der Gendarmerieverwaltung die Freilassung der Schustowa, um deren Betreibung ihn Wjera Bogoduchowskaja ersucht hatte, und endlich die Herbeiführung einer Zusammenkunft zwischen einer Mutter und ihrem in der Festung internierten Sohne, um die ihn gleichfalls die Bogoduchowskaja durch einen ihm übersandten Zettel gebeten hatte.

Seit er zum letztenmal bei Maslennikow gewesen, noch mehr aber seit dem Besuche auf seinen Besitzungen fühlte Nechljudow in seinem ganzen Wesen einen ausgesprochenen Abscheu gegen den Kreis von Menschen, in dem er bisher gelebt hatte. Diesem Kreise wurden nach seiner Meinung all die Leiden, welche die große Masse der Millionen zu tragen hat, damit eine kleine Schar in Genuß und Wohlbehagen sorglos dahinlebe, geflissentlich verborgen – so geflissentlich und sorgfältig, daß die Angehörigen dieses Kreises die Leiden der Millionen und die Ruchlosigkeit ihres eigenen Lebens nicht zu sehen vermochten. Nechljudow konnte mit den Leuten dieses Kreises nicht mehr unbefangen und ohne Selbstvorwurf verkehren. Und doch wies ihn die Gewöhnung, wiesen ihn seine verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Beziehungen auf diesen Kreis hin, und vor allem bedurfte er, um für seine Schützlinge, die Maslowa und all die andern, denen er beistehen wollte, ein günstiges Resultat zu erzielen, der Beihilfe und Gefälligkeit von Leuten dieses Kreises, die nicht nur seine Achtung nicht besaßen, sondern sogar häufig seinen Unwillen und seine Geringschätzung herausforderten.

In Petersburg angelangt, nahm Nechljudow bei seiner Tante von mütterlicher Seite, der Gräfin Tscharskaja, der Frau eines ehemaligen Ministers, Wohnung und befand sich damit sogleich mitten in jener aristokratischen Gesellschaft, die ihm so fremd geworden war. Das war ihm unangenehm, doch konnte er nicht anders handeln. Er hätte die Tante beleidigt, wenn er in einem Gasthofe abgestiegen wäre. Überdies hatte diese Tante große Verbindungen und konnte ihm in all den Angelegenheiten, die er in Petersburg zu betreiben gedachte, im höchsten Maße nützlich sein.

»Sag' mal, was höre ich da von dir? Ganz wunderliche Geschichten!« sprach die Gräfin Katerina Iwanowna zu ihm, als er nach seiner Ankunft mit ihr beim Kaffee saß. »Du bist ja der reine Lord Howard geworden, nimmst dich der Verbrecher an, besuchst sie im Gefängnis, arbeitest an ihrer Besserung ...«

»Nicht doch, ma tante, ich denke nicht daran.«

»Warum denn nicht? Das ist doch sehr lobenswert. Es soll aber irgendeine romantische Geschichte dahinterstecken – nun, erzähl' mal!«

Nechljudow erzählte ihr von seinen Beziehungen zur Maslowa – ganz so, wie alles gewesen.

»Ich weiß, die arme Helene hat mir etwas erzählt – damals, als du beiden alten Damen wohntest. Sie wollten dich ja wohl mit ihrer Pflegetochter verheiraten?« – Die Gräfin Katerina hatte Nechljudows Tanten väterlicherseits immer verachtet. »Die also ist es? Ist sie noch hübsch?«

Katerina Iwanowna war eine sechzigjährige, gesunde, muntere, energische und redselige Frau. Sie war von großer Figur und sehr voll, auf ihrer Oberlippe bemerkte man den leichten Anflug eines schwarzen Schnurrbarts. Nechljudow liebte sie und ließ sich schon seit seiner Kindheit gern von ihrer Energie und Munterkeit mit fortreißen.

»Nein, ma tante, das ist alles zu Ende. Ich möchte ihr nur helfen, weil sie unschuldig verurteilt ist, und zwar durch meine Schuld, wie ich überhaupt an ihrem ganzen Schicksal schuld bin. Ich fühle mich verpflichtet, alles, was in meiner Macht liegt, für sie zu tun.«

»Aber man hat mir doch erzählt, du wollest sie heiraten?«

»Ja, ich wollte es wohl, aber sie will nicht.«

Katerina Iwanowna schob die Stirn vor und sah den Neffen ganz verwundert an, ohne ein Wort zu sagen. Plötzlich veränderte sich ihr Gesicht, und ein zufriedener Ausdruck erschien darauf.

»Nun, sie ist vernünftiger als du. Ach, was für ein Narr bist du doch! Und du würdest sie wirklich heiraten?«

»Unbedingt.«

»Trotz ihrer Vergangenheit?«

»Erst recht. Ich bin doch an allem schuld.«

»Nein, du bist einfach ein komischer Kauz,« sagte die Tante, mit Mühe ein Lächeln unterdrückend. »Ein furchtbar komischer Kauz, aber eben darum hab' ich dich so gern, weil du ein solcher Kauz bist,« wiederholte sie, offenbar ganz verliebt in dieses Wort, das nach ihrer Meinung den intellektuellen und sittlichen Zustand ihres Neffen treffend bezeichnete. »Du kommst mit der Sache zu gelegener Zeit, siehst du – Aline hat nämlich ein wunderbares Asyl für solche Magdalenen gestiftet. Ich bin einmal dagewesen. Ganz widerwärtige Personen sind es, ich habe mich gleich darauf gewaschen. Aber Aline ist mit Leib und Seele dabei. Wir wollen auch die Deinige dahin schicken, was? Wenn ein Mensch sie bessern kann, dann ist es Aline.«

»Aber sie ist ja zu Zwangsarbeit verurteilt, ich bin hierher gekommen, um die Kassation des Urteils zu betreiben. Das ist mein erstes Anliegen an Sie!«

»Ach so! Wo ist denn die Sache anhängig?«

»Beim Senat.«

»Beim Senat? Aber mein lieber Vetter Leo ist ja im Senat, er sitzt allerdings in der Abteilung für Heraldik. Von den sonstigen Senatsmitgliedern kenne ich niemand. Das sind alles Gott weiß was für Leute – entweder Deutsche: Geh, Feh, Deh, das ganze Alphabet herunter, oder es sind allerhand Iwanows, Semjonows, Nikitins, oder der Abwechselung wegen ein Iwanenko, Simonenko, Nikitenko, lauter Leute aus einer andern Welt. Na, aber ich will es doch meinem Manne sagen, er kennt alle möglichen Leute. Ja, ich will es ihm sagen – aber du mußt es ihm auseinandersetzen, denn mich versteht er nie. Was ich ihm auch sagen mag, immer entgegnet er mir, er ›verstehe nichts‹. Das ist nun einmal seine Parole. Alle verstehen mich, nur er nicht.«

In diesem Augenblick brachte ein Lakai in Wadenstrümpfen einen Brief auf einem silbernen Präsentierteller.

»Sieh da – von Aline! Welcher Zufall! Da wirst du auch gleich den Kiesewetter hören.«

»Kiesewetter? Wer ist das?«

»Kiesewetter? Komm nur heute abend, dann wirst du erfahren, wer Kiesewetter ist. Der Mann spricht in einer Weise, daß die verstocktesten Verbrecher weinend in die Knie sinken und Buße tun.«

Die Gräfin Katerina Iwanowna war, wie sonderbar das auch scheinen mochte, und wie wenig es zu ihrem Charakter paßte, eine begeisterte Anhängerin jener Lehre, die den Kern den Christentums in dem Glauben an die Erlösung erblickt. Sie besuchte die Versammlungen, in denen diese damals in Mode stehende Lehre gepredigt wurde, und versammelte gelegentlich auch die Gläubigen bei sich. Obschon nun nach dieser Lehre nicht nur alle Zeremonien und Heiligenbilder, sondern auch alle Sakramente zu verwerfen sind, hingen bei der Gräfin Katerina Iwanowna doch in allen Zimmern und selbst über ihrem Bett Heiligenbilder, und sie erfüllte alle Forderungen der Kirche, ohne darin einen Widerspruch zu sehen.

»Den müßte deine Magdalena einmal hören – sie würde sofort bekehrt werden!« sagte die Gräfin. »Bleib unbedingt heute abend zu Hause, du wirst ihn hören. Ein ganz wunderbarer Mensch!«

»Die Sache interessiert mich nicht, ma tante.«

»Und ich sage dir, es ist wirklich interessant! Komm auf alle Fälle. Nun sag' mir, was du sonst noch auf dem Herzen hast. Kram' deinen Sack aus!«

»Es ist da noch eine Sache in der Festung.«

»In der Festung? Nun, da kann ich dir eine Empfehlung an Baron Kriegsmut geben. Ein sehr braver Mensch. Aber du kennst ihn ja: er ist ein Regimentskamerad deines verstorbenen Vaters. Er macht in Spiritismus, aber das tut nichts, er ist sonst ein sehr guter Kerl. Was willst du denn dort?«

»Ich möchte ihn bitten, daß er einer Mutter, deren Sohn dort sitzt, eine Zusammenkunft mit diesem letzteren gestatten möchte. Man sagte mir jedoch, daß nicht Kriegsmut, sondern Tscherwjanski darüber zu bestimmen habe.«

»Tscherwjanski kann ich nicht leiden – aber er ist doch der Mann von Mariette! Vielleicht wendest du dich an diese, sie wird es um meinetwillen tun. Sie ist eine sehr nette Frau.«

»Dann ist da noch eine Frauensperson, die seit mehreren Monaten verhaftet ist, ohne daß irgendjemand weiß, weshalb.«

»Nun, sie selbst wird schon wissen, weshalb sie sitzt, sie wissen das immer ganz genau. Und es geschieht ihnen schon recht, diesen Kurzgeschorenen.«

»Ich weiß nicht, ob ihnen recht geschieht. Aber sie leiden. Sie sind doch eine Christin, ma tante, und glauben an das Evangelium – und Sie können so hart sein ...«

»Das macht nichts, das hat damit gar nichts zu tun. Das Evangelium bleibt Evangelium, und was widerwärtig ist, bleibt widerwärtig. Es wäre viel schlimmer, wenn ich mich verstellte und so täte, als ob ich die Nihilisten – und namentlich diese kurzgeschorenen Nihilistinnen – liebte, während ich sie doch nicht leiden kann.«

»Warum können Sie sie nicht leiden?«

»Weil sie die Nase in Sachen hineinstecken, die sie nichts angehen. Die Politik ist kein Geschäft für Frauen.«

»Nun, aber Mariette macht doch auch ein wenig in Politik – das finden Sie in Ordnung?« sagte Nechljudow.

»Mariette? Mariette ist Mariette. Und diese andern sind Gott weiß wer: irgendeine Chaltjupkina will sich hinstellen und die Leute belehren!«

»Durchaus nicht – sie wollen einfach dem Volke helfen.«

»Man weiß auch ohne sie, wem zu helfen ist, und wem nicht.«

»Aber das Volk steckt doch bis an den Hals im Elend! Ich komme soeben vom Dorfe. Muß es denn unbedingt sein, daß der Bauer bis zur Erschöpfung seiner Kräfte arbeitet und sich dabei nicht satt ißt, während wir in erschreckendem Luxus leben?« sagte Nechljudow, den die Gutmütigkeit der Tante dazu verführte, alles auszusprechen, was er dachte.

»Ja – willst du vielleicht, daß ich arbeite und nichts essen soll?

»Nein – daß Sie nichts essen sollen, will ich nicht,« versetzte Nechljudow unwillkürlich lächelnd – »wohl aber will ich, daß wir alle arbeiten und uns alle satt essen sollen.«

Die Tante senkte wieder die Stirn und sah ihn, die Augen fest auf ihn richtend, mit forschendem Ausdruck an.

»Du wirst noch schlimm enden, mein Lieber,« sagte sie.

»Warum?«

In diesem Augenblick trat ein hochgewachsener, breitschultriger General ins Zimmer. Es war der Gatte der Gräfin Tscharskaja, der ehemalige Minister.

»Ah, Dmitrij – willkommen!« sagte er, ihm die frisch rasierte Wange zum Kusse reichend. »Wann bist du angelangt?«

Er küßte schweigend seine Frau auf die Stirn.

»Nein, er ist unbezahlbar,« wandte sich die Gräfin an ihren Mann. »Er befiehlt mir, an den Fluß zu gehen und Wäsche zu spülen, und nichts als Kartoffeln zu essen. Er ist ein ganz schrecklicher Narr, aber tu trotzdem für ihn, um was er dich bittet. Ein zu komischer Kauz,« sagte sie. »Übrigens, hast du gehört: die Kamenskaja soll so verzweifelt sein, daß man für ihr Leben fürchtet,« wandte sie sich an ihren Gatten – »du solltest sie besuchen!«

»Ja, das ist entsetzlich,« sagte der Mann.

»Nun, geht jetzt, sprecht euch aus, ich muß Briefe schreiben.«

Kaum war Nechljudow ins Nebenzimmer getreten, als sie ihm vom Salon aus zurief:

»Soll ich also an Mariette schreiben?«

»Wenn ich bitten darf, ma tante.«

»Ich schreibe nichts davon, was du betreffs der Kurzgeschorenen wünschst – das kannst du ihr auseinandersetzen, und sie wird es ihrem Manne sagen. Übrigens, glaube nicht, daß ich bösartig bin. Sie sind alle ganz abscheulich, deine Schützlinge, aber ich wünsche ihnen nichts Böses. Gott mit ihnen! Nun, geh schon – heute abend aber sei unbedingt zu Hause. Du wirst den Kiesewetter hören, und wir werden beten. Wenn du nicht widerstrebst, wirst du davon seelischen Gewinn haben. Ich weiß ja – Hélène, und ihr alle, waret in diesem Punkte immer sehr zurückgeblieben. Auf Wiedersehen also!«


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