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27.

In Moskau angelangt, begab sich Nechljudow zunächst nach dem Gefängnishospital, um der Maslowa die traurige Nachricht zu bringen, daß der Senat das Urteil des Gerichts bestätigt habe, und daß sie sich zur Abreise nach Sibirien vorbereiten müsse.

Auf das Gnadengesuch, das der Advokat ihm aufgesetzt hatte, und das er jetzt mit nach dem Gefängnis brachte, damit es die Maslowa unterschreibe, setzte er nur geringe Hoffnung. Und – wie seltsam es auch scheinen mochte: er wünschte jetzt gar keinen Erfolg dieses Gesuches. Er hatte sich bereits an den Gedanken, daß er mit nach Sibirien gehen und mit den Verschickten und zu Zwangsarbeit Verurteilten zusammen leben würde, gewöhnt, und er konnte sich nur schwer vorstellen, wie er sein Leben und das Leben der Maslowa einrichten sollte, wenn sie freigesprochen worden wäre. Das Wort eines amerikanischen Schriftstellers aus der Zeit, als in Amerika noch die Sklaverei herrschte, fiel ihm ein: das Gefängnis, hatte jener gesagt, ist der einzige Ort, der dem ehrenhaften Bürger eines Staates noch ziemt, in dem die Sklaverei gesetzlich sanktioniert ist. Dieses Wort meinte er jetzt, während er nach dem Gefängnis fuhr, auf sich anwenden zu können.

Der Schweizer des Gefängnishospitals erkannte Nechljudow sogleich wieder und teilte ihm mit, daß die Maslowa nicht mehr bei ihnen sei.

»Wo ist sie denn?«

»Wieder im Gefängnis.«

»Warum ist sie wieder dorthin gebracht worden?« fragte Nechljudow.

»Ach, das ist ja ein Volk, Durchlaucht!« sagte der Schweizer verächtlich lächelnd. »Sie hat mit dem Feldscher angebändelt, und da hat sie der Oberarzt fortgeschickt.«

Nechljudow hätte nicht geglaubt, daß die Maslowa und ihr seelischer Zustand ihm so nahe gingen. Die Nachricht, die er da vernahm, betäubte ihn förmlich. Er hatte ein Gefühl, demjenigen ähnlich, das die Menschen empfinden, wenn sie von einem unerwarteten Unglück Kunde erhalten. Ein tiefes Weh ergriff sein Herz. Das erste, was er bei dieser Nachricht empfand, war eine tiefe Beschämung. Er kam sich vor allem lächerlich vor mit seiner freudigen Vorstellung, daß ihr seelischer Zustand eine Wandlung erfahren habe. Alle diese Äußerungen, als wolle sie sein Opfer nicht annehmen, alle die Vorwürfe und Tränen, sagte er sich, waren nichts weiter als Kunstgriffe einer verderbten Person, die ihn nach Möglichkeit auszubeuten hoffte. Es schien ihm jetzt, als habe er schon bei dem letzten Besuche die Anzeichen der Unverbesserlichkeit bemerkt, die jetzt bei ihr zu Tage traten. Alles das ging ihm jetzt blitzartig durch den Kopf, während er mechanisch den Hut aufsetzte und das Krankenhaus verließ.

»Was soll nun geschehen?« fragte er sich. »Bin ich jetzt noch an sie gebunden? Bin ich nicht durch diese ihre Handlungsweise meiner Verpflichtungen überhoben?«

Kaum aber hatte er sich diese Frage gestellt, als er auch sogleich begriff, daß, wenn er sich nun für nicht mehr gebunden hielt und sie fallen ließ, er nicht sie bestrafen würde, wie er es eigentlich im Sinne hatte, sondern nur sich selbst, und es ward ihm bitter und weh ums Herz.

»Nein! Das, was da vorgefallen ist, kann meinen Entschluß nicht ändern – es kann mich vielmehr nur in ihm bestärken. Mag sie tun, was sich aus ihrem Seelenzustande ergibt! Knüpft sie mit dem Feldscher einen Liebeshandel an, wohlan: das ist ihre Sache ... Meine Sache aber ist, zu tun, was mein Gewissen von mir verlangt,« sagte er sich. »Mein Gewissen verlangt, daß ich meine Freiheit opfere, um meine Schuld wieder gutzumachen, und mein Entschluß, sie zu heiraten, wenn auch nur in einer fiktiven Ehe, und ihr zu folgen, wohin sie auch geschickt wird, bleibt unverändert,« sagte er sich mit bösem Trotz, und indem er das Krankenhaus verließ, begab er sich mit entschiedenen Schritten nach dem großen Tore des Gefängnisses.

Als er an das Tor kam, bat er den diensttuenden Aufseher, dem Inspektor zu melden, daß er die Maslowa zu sehen wünsche. Der Diensttuende kannte Nechljudow und teilte ihm die wichtige Gefängnisneuigkeit mit, daß der frühere Inspektor verabschiedet und an seine Stelle ein neuer, strenger Inspektor getreten sei.

»Mächtig streng geht's jetzt zu – der reine Jammer,« sagte der Aufseher. »Er ist jetzt hier, man wird Sie gleich melden.«

Der Inspektor war in der Tat im Gefängnis anwesend und kam bald zu Nechljudow herein. Der neue Inspektor war ein hochgewachsener, starkknochiger Mann mit vorspringenden Jochbeinen, sehr langsam in seinen Bewegungen und von finsterem Aussehen.

»Besuche können nur an bestimmten Tagen stattfinden, und zwar nur im Besuchszimmer,« sagte er, ohne Nechljudow anzusehen.

»Aber ich muß ein Gnadengesuch an die Allerhöchste Person unterschreiben lassen.«

»Sie können es mir übergeben.«

»Ich muß die Arrestantin selbst sprechen. Es wurde mir früher stets gestattet.«

»Das war früher,« sagte der Inspektor mit einem flüchtigen Blick auf Nechljudow.

»Ich habe vom Gouverneur die Erlaubnis dazu,« sagte Nechljudow, auf seinem Wunsche beharrend, während er seine Brieftasche hervorholte.

»Gestatten Sie,« sagte der Inspektor in unverändertem Tone, ohne Nechljudow in die Augen zu sehen, nahm mit den langen, dürren Fingern, von denen der Zeigefinger einen goldenen Ring trug, das ihm von Nechljudow überreichte Schriftstück und durchlas es langsam. »Bitte, kommen Sie nach dem Bureau,« sagte er dann.

Im Bureau war diesmal niemand anwesend. Der Inspektor nahm am Tische Platz und begann die darauf liegenden Schriftstücke zu durchblättern – offenbar hatte er die Absicht, selbst bei der Zusammenkunft zugegen zu sein. Als Nechljudow fragte, ob er nicht die politische Gefangene Bogoduchowskaja sehen könne, antwortete der Inspektor kurz, das gehe nicht an.

»Zusammenkünfte mit den Politischen sind nicht gestattet,« meinte er und vertiefte sich wieder in die Lektüre der Schriftstücke. Nechljudow, der den Brief an die Bogoduchowskaja in der Tasche hatte, fühlte sich in der Lage eines schuldbewußten Menschen, dessen Absichten entdeckt und zunichte gemacht sind.

Als die Maslowa ins Bureau trat, hob der Inspektor den Kopf empor und sagte, ohne sie oder Nechljudow anzusehen: »Sie dürfen sprechen« – dann wandte er sich wieder den Schriftstücken zu.

Die Maslowa trug, wie früher, die weiße Jacke, den Rock und das Kopftuch. Als sie auf Nechljudow zukam und den kühlen, bösen Ausdruck seines Gesichtes bemerkte, wurde sie feuerrot, schlug die Augen nieder und begann mit der Hand am Jackensaum herumzutasten. Ihre Verwirrung erschien Nechljudow nur als eine Bestätigung dessen, was der Schweizer im Krankenhause ihm erzählt hatte.

Nechljudow wollte mit ihr ganz so verkehren, wie das letztemal, doch brachte er es nicht über sich, ihr die Hand zu reichen – so sehr war sie ihm jetzt zuwider.

»Ich bringe Ihnen eine schlechte Nachricht,« sagte er mit eintöniger Stimme, ohne sie anzusehen – »der Senat hat das Gesuch abschlägig beschieden.«

»Ich habe mir's gedacht,« sagte sie in einem seltsamen Tone, als wolle sie ersticken.

Früher hätte Nechljudow sie gefragt, warum sie das sage, daß sie »es sich gedacht habe«; jetzt sah er sie nur an: ihre Augen standen voll Tränen. – Doch das stimmte ihn nicht nur nicht weicher, sondern reizte ihn noch mehr gegen sie auf.

Der Inspektor erhob sich und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.

Trotz des Widerwillens jedoch, den Nechljudow gegen die Maslowa diesmal empfand, hielt er es doch für notwendig, ihr sein Bedauern über die Entscheidung des Senats auszusprechen.

»Verzweifeln Sie nur nicht,« sagte er – »vielleicht hat das Gnadengesuch an Allerhöchster Stelle Erfolg, und ich hoffe, daß ...«

»Ich denke ja nicht daran ...« sagte sie, während sie mit den feuchten, schielenden Augen ihn wie bittend ansah.

»Woran denn sonst?«

»Sie waren im Krankenhause, und man hat Ihnen jedenfalls von mir erzählt ...«

»Was denn? Ach so ... das ist Ihre persönliche Angelegenheit,« sagte Nechljudow kühl, während seine Stirn sich verfinsterte. Das harte Gefühl gekränkten Stolzes, das einen Augenblick geschwiegen hatte, erwachte in ihm mit neuer Kraft, als sie das Krankenhaus erwähnte. Er, der Mann von Welt, den zu heiraten jedes Mädchen aus den höchsten Kreisen für ein Glück gehalten hätte – er hatte seine Hand dieser Frau angeboten, und sie konnte es nicht abwarten, sondern knüpfte mit einem ersten besten Feldscher eine Liebschaft an, dachte er und blickte sie ingrimmig an.

»Unterschreiben Sie hier die Bittschrift,« sagte er, zog aus der Tasche ein großes Kuvert hervor und legte es auf den Tisch. Sie trocknete die Tränen mit dem Zipfel ihres Tuches, setzte sich an den Tisch und fragte, wo und was sie schreiben solle.

Er zeigte es ihr, und sie begann zu schreiben, nachdem sie den Ärmel an ihrem rechten Arme mit der linken Hand hinaufgestreift hatte. Nechljudow stand neben ihr und blickte schweigend auf ihren über den Tisch gebeugten Rücken, der ab und zu von einem verhaltenen Schluchzen erbebte. In seiner Seele kämpften gute und böse Gefühle, das Gefühl des beleidigten Stolzes und das des Mitleids mit ihr, der Leidenden – und dieses letztere Gefühl trug den Sieg davon.

Was er zuerst empfand – ob sich zuerst in seinem Herzen das Mitleid mit ihr regte, oder ob er zuerst seiner eignen Schuld gedachte, die doch weit schlimmer war als das, was er ihr jetzt im stillen vorwarf – darüber war er sich selbst nicht ganz klar; jedenfalls aber hatte er plötzlich, ganz zur selben Zeit, das Gefühl, daß er schuldig sei und sie sein Mitleid verdiene.

Das Gnadengesuch war unterschrieben; sie wischte ihren von Tinte befleckten Finger an ihrer Jacke ab, stand auf und sah ihn an.

»Was auch darauf folgen, was auch geschehen mag – nichts vermag meinen Entschluß zu ändern,« sagte Nechljudow.

Der Gedanke, daß er ihr verzeihe, stärkte in ihm noch das Gefühl des Mitleids und der Zärtlichkeit gegen sie, und er suchte nach Worten, um sie zu trösten.

»Was ich einmal gesagt habe, dabei bleibt es. Wohin man Sie auch schicken mag – ich gehe mit Ihnen.«

»Es hat keinen Zweck,« unterbrach sie ihn hastig – und strahlte dabei übers ganze Gesicht.

»Überlegen Sie, was Sie für die Reise brauchen.«

»Nichts Besonderes, mein' ich, ich danke Ihnen.«

Der Inspektor kam zu ihnen heran. Nechljudow wartete nicht erst, bis er etwas sagte, sondern verabschiedete sich von Katjuscha und verließ das Bureau. Er hatte ein Gefühl stiller Freude, Ruhe und Liebe zu allen Menschen, wie er es nie vorher gehabt. Was ihn so freute und erhob, war vor allem das Bewußtsein, daß keine Handlung der Maslowa seine Liebe zu ihr in ihm ertöten könne. Mag sie ruhig ihre Liebelei mit dem Feldscher haben – das war ihre Sache; er liebte sie nicht um seinetwillen, sondern um ihretwillen und um Gotteswillen.

Die Liebelei mit dem Feldscher aber, deretwegen die Maslowa aus dem Krankenhause fortgeschickt worden war, und an deren Vorhandensein Nechljudow tatsächlich glaubte, hatte in Wirklichkeit nie bestanden. Die Heilgehilfin hatte sie nach der am Ende des Korridors befindlichen Apotheke geschickt, damit sie dort Brusttee hole, und der allein in der Apotheke anwesende Feldscher Ustinow, ein großer Mensch mit finnigem Gesichte, der sich ihr schon immer aufgedrängt hatte, wurde auch diesmal zudringlich gegen sie. Die Maslowa entwand sich seiner Umarmung und stieß ihn dabei so heftig gegen ein Regal, daß zwei Gläser von diesem herunterfielen. In diesem Augenblick kam der Oberarzt durch den Korridor – er hörte das Klirren der zerschlagenen Gläser, sah die Maslowa hastig, mit rotem Gesichte, aus der Tür der Apotheke stürzen und schrie sie unwillig an:

»Hör' mal, meine Liebe, wenn du hier Liebschaften anknüpfen willst, werde ich dich auf den Trab bringen! Was ist denn das?« wandte er sich an den Feldscher und sah ihn über seine Brille hinweg streng an.

Der Feldscher lächelte und begann sich zu rechtfertigen. Der Doktor hörte seine Erklärungen nicht weiter an, hob den Kopf so hoch auf, daß er durch die Brille sehen konnte, und begab sich in den Saal. An demselben Tage noch sagte er dem Inspektor, er möchte ihm statt der Maslowa eine andere, gesetztere Person schicken. Die Entfernung aus dem Krankenhause, unter der Beschuldigung, daß sie Liebschaften mit Männern anknüpfe, war der Maslowa darum ganz besonders schmerzlich, weil der Verkehr mit Männern, der ihr auch früher schon zuwider gewesen war, ihr jetzt, nach der Begegnung mit Nechljudow, vollends den heftigsten Abscheu einflößte. Die Tatsache, daß der erste beste Mann, wie dieser finnige Feldscher, auf Grund ihrer Vergangenheit und ihrer jetzigen Lage sich für berechtigt hielt, sie zu beleidigen und über ihr abweisendes Verhalten erstaunt zu sein, empörte sie aufs tiefste, erregte ihr Mitleid mit sich selbst und entlockte ihr Tränen. Als sie jetzt Nechljudow erblickt hatte, hatte sie sich vor ihm rechtfertigen und sich von der Anschuldigung reinigen wollen, die man gegen sie erhoben und sicherlich auch ihm mitgeteilt hatte. Kaum aber hatte sie die Rede darauf gebracht, als sie auch sogleich fühlte, daß er ihr nicht glaube, und daß ihr Rechtfertigungsversuch nur seinen Verdacht verstärken könne. Da waren ihr die Tränen aufgestiegen, und sie schwieg.

Die Maslowa glaubte noch immer und fuhr fort, es sich einzureden, daß sie, wie sie bei der zweiten Zusammenkunft es ihm gesagt hatte, ihm nicht verziehen habe und ihn hasse, in Wirklichkeit jedoch liebte sie ihn längst wieder, und liebte ihn so, daß sie unwillkürlich alles tat, was er von ihr verlangte: sie hatte aufgehört, zu trinken und zu rauchen, sie hatte das Kokettieren gelassen und war als Dienerin in das Krankenhaus eingetreten. Alles das hatte sie getan, weil sie wußte, daß er es wünschte. Wenn sie jedesmal, sobald er seine Absicht, sie zu heiraten, äußerte, so entschieden widersprach, so geschah es zunächst, um die stolzen Worte wiederholen zu können, die sie einmal ihm gegenüber hierüber gebraucht hatte, dann aber, und vor allem, weil sie wußte, daß eine Ehe mit ihr sein Unglück sein würde. Sie war fest entschlossen, dieses Opfer nicht anzunehmen. Dabei war es ihr jedoch höchst schmerzlich, zu denken, daß er sie verachte, daß er annehmen könne, sie sei immer noch dieselbe, die sie früher gewesen, und daß er die Wandlung nicht bemerke, die sich in ihr vollzogen. Die Möglichkeit, daß er glauben könnte, sie habe im Krankenhause eine Schlechtigkeit begangen, war ihr schrecklicher als die Nachricht, daß sie nun endgültig zu Zwangsarbeit verurteilt sei.


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