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3.

Von Kusminskoje begab sich Nechljudow nach dem Gute, das er von den Tanten geerbt hatte – demselben, wo er Katjuscha zum erstenmal gesehen hatte. Auch hier gedachte er die Landverhältnisse in gleicher Weise wie in Kusminskoje zu ordnen; außerdem wollte er alles in Erfahrung bringen, was noch über Katjuscha und das Kind, das sie geboren – sein Kind – in Erfahrung zu bringen wäre: ob das Kind wirklich gestorben, und wie es gestorben sei. Er kam früh am Morgen in Panowo an, und das erste, was ihm auffiel, als er in den Hof einfuhr, war der Zustand der Verödung und Hinfälligkeit, in dem sich sämtliche Gebäude, namentlich das Wohnhaus, befanden. Das eiserne Dach, das seit langer Zeit nicht mehr gestrichen worden war, war ganz rot vom Rost, und einige Platten waren, wahrscheinlich vom Sturme, nach oben umgeschlagen. Die Bretter, mit denen das Haus verschalt war, waren dort, wo die verrosteten Nägel sie nicht mehr festhielten, von den Leuten heruntergerissen worden. Die beiden Freitreppen – die vordere sowohl wie die hintere, die ihm ganz besonders lebhaft in Erinnerung geblieben war – waren verfault und abgebrochen, nur einige Querbalken waren noch davon übrig. In den Fenstern waren statt der Verglasung vielfach Bretter eingesetzt, und das Seitengebäude, in dem der Verwalter lebte, sowie die Küche und die Pferdeställe waren sämtlich alt, morsch und feucht. Nur der Garten war nicht nur nicht alt und morsch, sondern vielmehr üppig emporgeschossen, überall war er dicht verwachsen und stand jetzt in voller Blütenpracht: weißen Wolken gleich schimmerten über den Zaun hinweg die blühenden Kirsch-, Apfel- und Pflaumenbäume. Auch die Fliederbüsche blühten, ganz ebenso wie damals vor elf Jahren, als Nechljudow mit der sechzehnjährigen Katjuscha und den andern »Fang schon!« spielte und sich dort hinten an den Brennesseln so arg verbrannt hatte. Ein Lärchenbaum, den Sofia Iwanowna neben dem Hause gepflanzt, und der damals kaum die Höhe eines Zaunpfahles gehabt hätte, war jetzt zum großen Baum herangewachsen, der schon einen Balken hergegeben hätte, und prangte eben im ersten gelbgrünen, flaumig-zarten Nadelschmuck. Das Wasser im Flusse stand hoch und ging rauschend und schäumend über die Schleusen an der Mühle. Auf der Wiese jenseits des Flusses weidete die buntscheckige Kuhherde, die den Bauern gehörte.

Der Verwalter, ein Seminarist, der die Kurse nicht beendet hatte, empfing Nechljudow lächelnd auf dem Hofe, lud ihn, immer weiter lächelnd, in das Kontor ein und trat lächelnd, als wollte er durch sein Lächeln ihn auf etwas ganz Besonderes vorbereiten, hinter die Barriere. Dort flüsterte er ein Weilchen mit irgend jemandem und schwieg dann. Der Fuhrmann nahm sein Trinkgeld in Empfang und verließ den Hof, und nun ward es vollends still. Gleich darauf lief ein barfüßiges Mädchen in einem gestickten Hemde, mit Ohrringen aus Daunen geschmückt, am Fenster vorüber, und dem Mädchen folgte ein Bauer in plumpen, hohen Stiefeln auf dem Fuße.

Nechljudow nahm am Fenster Platz, blickte in den Garten und horchte hinaus. Durch das kleine, zweiflügelige Fenster wehte eine frische Brise herein, die den Geruch des aufgegrabenen Gartenlandes herantrug, leicht über Nechljudows feuchte Stirn strich und mit den Notizblättern spielte, die auf dem durch tiefe Messereinschnitte beschädigten Fensterbrett lagen. Am Flußufer ging es tra-pa-tap, tra-pa-tap – die Weiber waren dort bei der Wäsche und schlugen um die Wette mit den Waschbleueln darauf los, daß es weithin über den im Sonnenlicht schimmernden, hochgestauten Fluß schallte, während von der Mühle her das gleichmäßige Rauschen des fallenden Wassers dazwischentönte. Und plötzlich war es Nechljudow, als erinnere er sich, daß er dereinst, vor langer Zeit, da er noch jung und unschuldig war, dieselben aufklatschenden Schläge der Waschbleuel auf die nasse Wäsche und dasselbe Rauschen des Wassers hier am Flusse gehört hatte, und ebenso wie heute hatte ihm damals der Frühlingswind die feuchte Stirn gestreift und die Notizblätter auf dem Fensterbrett mit den Einschnitten bewegt. Und er sah sich als achtzehnjährigen, unschuldigen Jungen, der er damals gewesen, und fühlte sich ganz als solcher, in derselben Frische und Reinheit und unbegrenzten, von den kühnsten Möglichkeiten träumenden Hoffnungsfreudigkeit. Zu gleicher Zeit aber wußte er – wie es auch im Traume geschieht – daß das alles nicht mehr Wirklichkeit war, und es ward ihm ganz unsäglich traurig zumute.

»Wann wünschen Sie zu speisen?« fragte der Verwalter ihn lächelnd.

»Wann Sie wollen – ich bin nicht hungrig. Ich will einen Gang durchs Dorf machen.«

»Möchten Sie nicht erst gefälligst ins Haus gehen? Es ist drinnen alles in Ordnung, wenn es auch äußerlich übel aussieht ... Vielleicht werfen Sie einen Blick hinein? ...«

»Nein, später ... Sagen Sie, bitte – lebt hier im Dorfe noch eine gewisse Matrona Charina?«

Es war die Tante Katjuschas, nach der er fragte.

»Gewiß, die lebt hier im Dorfe – ich habe mit ihr viele Scherereien. Sie betreibt einen heimlichen Branntweinausschank. Ich weiß es und sage es ihr auf den Kopf zu, und ich schelte sie auch aus, aber anzeigen möcht' ich sie nicht, denn sie dauert mich – sie ist schon alt und hat ein paar Enkel bei sich,« sagte der Verwalter, immer mit demselben Lächeln, das einerseits den Wunsch ausdrückte, sich seinem Herrn angenehm zu machen, andererseits der Überzeugung Ausdruck gab, daß Nechljudow alle Dinge genau in demselben Lichte sehe wie er selbst.

»Wo wohnt sie? Ich möchte zu ihr gehen.«

»Am Ende des Dorfes, das drittletzte Haus auf jener Seite. Zur linken Hand werden Sie einen Ziegelbau sehen, und gleich dahinter liegt ihre Hütte. Ich will Sie lieber begleiten,« sagte der Buchhalter mit einem freudigen Lächeln.

»Nein, ich danke Ihnen, ich werde sie schon finden. Lassen Sie, bitte, inzwischen den Bauern sagen, sie möchten sich versammeln: ich muß mit ihnen über das Land sprechen,« sagte Nechljudow, der hier mit den Bauern, am liebsten noch heute abend, dieselben Vereinbarungen wie in Kusminskoje treffen wollte.


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