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18.

Am folgenden Tage hatte Nechljudow sich eben erst angezogen und wollte gerade hinuntergehen, als ein Lakai ihm die Karte seines Moskauer Advokaten brachte. Der Advokat war in eigenen Angelegenheiten herübergekommen und wollte gleichzeitig bei der Verhandlung der Sache der Maslowa im Senat zugegen sein, falls diese bald stattfinden sollte. Das von Nechljudow abgesandte Telegramm hatte sich mit ihm gekreuzt. Als er von Nechljudow erfuhr, wann die Sache der Maslowa zur Verhandlung kommen würde, und wer die Senatoren seien, lächelte er.

»Da hätten wir richtig alle drei Typen von Senatoren beisammen,« sagte er. »Wolff ist der Petersburger Beamte, Skoworodnikow der gelehrte Jurist, und Beh der praktische Jurist und als solcher der lebendigste von allen,« sagte der Advokat. »Auf ihn ist noch der meiste Verlaß. Nun, und wie steht's in der Bittschriftenkommission?«

»Heute wollte ich gerade zum Baron Worobjew fahren, gestern konnte ich keine Audienz bekommen.«

»Gut, dann fahren wir zusammen. Ich bringe Sie hin.«

Kurz vor der Abfahrt begegnete Nechljudow im Vorzimmer einem Lakaien, der ihm ein Billet von Mariette brachte.

»Um Ihnen gefällig zu sein,« schrieb sie, »habe ich ganz gegen mein Prinzip wegen Ihres Schützlings mit meinem Manne gesprochen. Es hat sich herausgestellt, daß diese Person sofort in Freiheit gesetzt werden kann. Mein Mann hat bereits an den Kommandanten geschrieben. Kommen Sie also – Sie sehen, daß das Geschäftliche erledigt ist. Ich erwarte Sie. M.«

»Da haben Sie es!« sagte Nechljudow zu dem Advokaten. »Sieben Monate lang wurde diese Person unschuldig in Einzelhaft gehalten, und nun genügt ein einziges Wort, um sie freizulassen. Warum hat man sie nun so lange festgehalten?«

»Grübeln Sie nicht weiter darüber, es ist nun einmal so,« sagte der Advokat, während sie auf die Freitreppe hinaustraten. »Bitte, wollen Sie einsteigen,« fuhr er fort, als seine elegante Mietsdroschke an der Rampe vorfuhr. »Sie wollten zum Baron Worobjew?«

Der Advokat sagte dem Kutscher die Adresse, und die stattlichen Pferde brachten Nechljudow rasch nach dem Hause, das der Baron bewohnte.

Der Baron war daheim. Im ersten Zimmer befanden sich zwei Damen und ein junger Beamter in Vizeuniform, mit ungewöhnlich leichtem Gange und auffallend langem Halse, an dem der Adamsapfel weit vorsprang.

»Ihr Name?« fragte der junge Beamte, während er ungewöhnlich leicht und graziös von den Damen zu Nechljudow hinüberschritt.

Nechljudow nannte seinen Namen.

»Der Baron hat von Ihnen gesprochen. Sofort!«

Ein Adjutant kam aus der geschlossenen Tür und führte eine verweinte Dame in Trauer heraus. Die Dame suchte mit den mageren Fingern den verwickelten Schleier über ihr Gesicht zu ziehen, um ihre Tränen zu verbergen.

»Bitte,« wandte sich der junge Beamte an Nechljudow, indem er mit leichtem Schritt auf die Tür des Kabinetts zutrat, sie öffnete und einen Moment in der Öffnung stehen blieb.

Als Nechljudow in das Kabinett trat, sah er sich einem untersetzten, kurzgeschorenen Herrn von mittlerem Wuchse, in einem Gehrock, gegenüber, der in einem Lehnstuhl an einem großen Schreibtische saß und vergnügt vor sich hinschaute. Sein gutmütiges Gesicht, an dem besonders die starke Röte im Kontrast zu dem ganz weißen Vollbart auffiel, verzog sich bei Nechljudows Anblick zu einem freundlichen Lächeln.

»Ich freue mich sehr, Sie zu sehen – ich war mit Ihrer Mutter gut bekannt und befreundet. Ich habe Sie als kleinen Jungen und später als Offizier gesehen. Nun, nehmen Sie Platz, erzählen Sie, womit ich Ihnen dienen kann. Ja, ja,« sprach er, mit dem kurzgeschorenen grauen Kopfe nickend, während Nechljudow ihm die Geschichte Fedoßjas erzählte. »Sprechen Sie, ich habe alles verstanden; ja, ja, das ist in der Tat rührend. Wie ist es denn, haben Sie eine Bittschrift eingereicht?«

»Ich habe die Bittschrift vorbereitet,« sagte Nechljudow, das Schriftstück aus der Tasche ziehend. »Aber ich wollte Sie bitten ... ich hoffte, daß man dieser Sache eine besondere Aufmerksamkeit schenken würde.«

»Ganz recht, ich werde die Sache unbedingt selbst zum Vortrag bringen,« sagte der Baron, während er seinem Gesichte einen mitleidigen Ausdruck zu geben suchte, der zu seiner sonst so heiteren Miene gar nicht recht paßte. »Sehr rührend! Sie war offenbar noch ein Kind, der Mann mag sie hart angefahren haben, das stieß sie zurück – dann aber kam die Zeit, daß sie einander liebgewannen ... Ja, ja, ich will es vertreten.«

»Graf Iwan Michajlowitsch sagte, auch er wolle an Allerhöchster Stelle bitten ...«

Kaum hatte Nechljudow diese Worte ausgesprochen, als das Gesicht des Barons plötzlich wie verwandelt war.

»Reichen Sie die Bittschrift nur bei der Kanzlei ein,« sagte er kühl zu Nechljudow. »Ich will sehen, was ich in der Sache tun kann.«

In diesem Augenblick trat der junge Beamte, der offenbar auf seinen leichten Gang nicht wenig stolz war, in das Zimmer.

»Jene Dame bittet, noch zwei Worte sagen zu dürfen.«

»Nun, rufen Sie sie. Ach, mein Teurer, wie viel Tränen man hier zu sehen bekommt, wenn man sie doch alle trocknen könnte! Man tut, was man kann.«

Die Dame trat ein.

»Ich habe noch vergessen, zu bitten, daß ihm nicht gestattet werden möchte, die Tochter fortzugeben, sonst ist er zu allem ...«

»Ich sagte Ihnen doch bereits, daß ich Ihrem Wunsche gemäß verfahren werde.«

»Tun Sie es um Gottes willen, Baron, Sie retten eine Mutter,« sagte sie, ergriff seine Hand und begann sie zu küssen.

»Alles wird getan werden.«

Als die Dame sich entfernt hatte, verabschiedete auch Nechljudow sich von dem Baron.

»Wir wollen tun, was wir können. Wir wollen uns mit dem Justizministerium in Verbindung setzen. Man wird uns antworten, und dann werden wir tun, was sich tun läßt.«

Nechljudow verließ das Kabinett und begab sich in die Kanzlei, um die Bittschrift in Sachen Fedoßjas abzugeben.


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