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13.

Als die Maslowa in den Krankensaal zurückgekehrt war, in dem acht Kinderbettchen standen, begann sie auf Geheiß der Schwester, eins der Betten zu machen. Sie neigte sich dabei mit dem Laken allzuweit über, glitt aus und wäre fast gefallen. Ein kleiner Rekonvaleszent mit umwickeltem Halse, der ihr zusah, lachte laut auf, und die Maslowa konnte sich nun nicht mehr beherrschen, sondern brach, während sie sich auf das Bett setzte, in ein so lautes, ansteckendes Lachen aus, daß auch einige der Kinder mitzulachen begannen und die Schwester ärgerlich auf sie losschrie:

»Na, was wieherst du denn so? Glaubst wohl, du bist noch drüben, wo du früher warst? Geh, hol' das Essen für die Kinder!«

Die Maslowa schwieg, nahm das Geschirr und ging dahin, wohin man sie schickte. Doch wechselte sie noch rasch einen Blick mit dem umwickelten Kleinen, dem gleichfalls das Lachen verboten worden war, und platzte abermals heraus. Mehrmals im Laufe des Tages, sowie sie irgend allein war, zog sie die Photographie ein wenig aus dem Kuvert und betrachtete sie mit Entzücken. Doch erst am Abend, als ihr Dienst vorüber und sie allein in dem Zimmerchen war, das ihr und einer Wärterin als Schlafraum diente, nahm sie die Photographie ganz aus dem Kuvert heraus und schaute lange auf das verblaßte und vergilbte Bild. Unbeweglich saß sie da und liebkoste gleichsam mit den Blicken jede kleinste Einzelheit der Gesichter, der Kleider, der Balkonstufen und der Sträucher, von deren Hintergrunde sich sein Gesicht, und das ihrige, und die Gesichter der Tanten abhoben. Sie konnte sich nicht sattsehen an allem, namentlich an sich selbst, an ihrem jugendlichen, hübschen Gesichte mit dem um Stirn und Schläfen sich ringelnden Haar. So ganz war sie vertieft in das Beschauen des Bildes, daß sie es gar nicht bemerkte, als ihre Zimmergenossin, die Krankenwärterin, eintrat.

»Was hast du denn da? Hat er dir das gegeben?« fragte die gutmütige, dicke Wärterin, sich über die Photographie beugend. »Bist du das etwa?«

»Wer denn sonst?« sagte die Maslowa lächelnd, während sie der Wärterin ins Gesicht sah.

»Und wer ist das? Er selbst? Und das ist wohl seine Mutter?«

»Nein, seine Tante. Würdest du mich darauf erkannt haben?« fragte die Maslowa.

»Gott bewahre! Nie im Leben hätt' ich dich erkannt. Das ist ein ganz anderes Gesicht. Es liegt doch, mein' ich, eine ganze Reihe Jahre dazwischen?«

»Jahre? Ein ganzes Leben liegt dazwischen!« sagte die Maslowa, und ihre lebhafte Munterkeit war plötzlich verschwunden. Ihr Gesicht nahm einen düsteren Ausdruck an, und eine Falte schnitt sich zwischen den Augenbrauen ein.

»Wie denn, du hast doch ein leichtes Leben gehabt?«

»Das nennst du ein leichtes Leben?« versetzte die Maslowa, schloß die Augen und schüttelte den Kopf. »Schlimmer als Zwangsarbeit war es.«

»Aber wieso denn?«

»Wieso? Jeden Tag dasselbe, von acht Uhr abends bis vier Uhr morgens – immer dasselbe!«

»Aber warum geben sie es dann nicht auf?«

»Sie möchten es schon aufgeben, aber sie können nicht. Ach, was ist da zu reden!« schrie die Maslowa, sprang auf, warf die Photographie in die Schublade des kleinen Tisches, lief, gewaltsam ihre zornigen Tränen zurückhaltend, in den Korridor hinaus und schlug die Tür hinter sich zu.

Während sie die Photographie betrachtete, hatte sie das Gefühl gehabt, als sei sie noch ebenso, wie sie dort dargestellt war, und sich ausgemalt, wie glücklich sie damals gewesen, und wie glücklich sie noch jetzt mit ihm hätte sein können. Die Worte der Zimmergefährtin hatten sie daran erinnert, was sie jetzt war; sie hatten ihr das ganze Grauen und Entsetzen jenes Lebens zum Bewußtsein gebracht, das sie zwar immer halb unbewußt empfunden, jedoch nie ganz klar gefühlt hatte. Jetzt erst erinnerte sie sich lebhaft aller jener schrecklichen Nächte, namentlich einer Nacht in der Butterwoche, als sie einen Studenten erwartete, der ihr versprochen hatte, sie freizumachen. Sie erinnerte sich, wie sie in dem weit ausgeschnittenen, mit Wein begossenen, rotseidenen Kleide, eine grellrote Schleife in dem krausen Haar, gegen zwei Uhr nachts einige Gäste hinausbegleitet, sich dann in der Tanzpause, ermüdet und betrunken, zu der mageren, knochigen, finnigen Klavierspielerin, die den Geiger begleitete, gesetzt und vor ihr über ihr schweres Leben geklagt hatte, wie dann auch die Klavierspielerin sagte, sie habe ihre Stellung satt und wolle sich verändern, und wie dann ihre Freundin Klara dazugekommen sei und sie plötzlich alle drei sich entschlossen hätten, dieses Leben aufzugeben. Schon hatten sie, in der Meinung, daß der Trubel der Nacht vorüber sei, auseinandergehen wollen, als plötzlich eine Schar von neuen trunkenen Gästen lärmend in den Saal trat. Der Geiger spielte ein Ritornell, die Klavierspielerin begann auf dem Instrument eine lustige russische Weise, die erste Figur einer Quadrille, herunterzupauken, und ein betrunkener, nach Wein riechender, schlucksender kleiner Mensch in weißer Krawatte und im Frack – den er dann in der zweiten Figur ablegte – umfaßte sie, während ein zweiter, dicker, bärtiger Mensch, gleichfalls im Frack – sie kamen beide von irgend einem Balle – Klara umfaßte und sie alle vier eine ganze lange Zeit umherwirbelten und sich drehten, und schrieen und tranken ... Und so war es ein, zwei, drei Jahre und länger gegangen – wie sollte sie sich da nicht verändert haben? Und die Ursache von alledem war er! Und plötzlich erwachte wieder in ihr die alte Erbitterung gegen ihn, und sie hätte auf ihn losschimpfen und ihn mit Vorwürfen überschütten mögen. Es tat ihr leid, daß sie sich heute die Gelegenheit hatte entschlüpfen lassen, ihm noch einmal offen heraus zu sagen, daß sie ihn durchschaue, und daß sie sich nicht von ihm einfangen lasse, ihm nicht erlaube, sie seelisch zu mißbrauchen, wie er sie schon körperlich mißbraucht habe, und sie zum Gegenstand seiner Großmut zu machen. Um nun auf irgend eine Weise dieses quälende Gefühl des Mitleids mit sich selbst und diesen Drang, ihm Vorwürfe zu machen, in sich zu ersticken, weckte sie in sich das Gelüste, Branntwein zu trinken. Wäre sie jetzt im Gefängnis gewesen, dann hätte sie sicher das Nechljudow gegebene Wort gebrochen und hätte Branntwein getrunken – hier aber konnte nur der Feldscher ihr welchen geben, und dem ging sie aus dem Wege, weil er bereits zudringlich gegen sie geworden war. So saß sie denn eine Weile auf der kleinen Bank im Korridor, kehrte dann in ihr Stübchen zurück, und ohne auf die Frage Ihrer Stubengenossin zu antworten, weinte sie lange über ihr verlorenes Leben.


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