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22.

»Das ist ja entsetzlich!« sprach Nechljudow, als er mit dem Advokaten, der eben sein Portefeuille ordnete, ins Vorzimmer hinausgetreten war. »In einer Sache, die so absolut klar liegt, klammern sie sich an die Form und lehnen das Gesuch einfach ab! Entsetzlich!«

»Die Sache ist im Gericht verpfuscht worden,« sagte der Advokat.

»Und auch Selenin ist für die Ablehnung! Entsetzlich, entsetzlich!« wiederholte Nechljudow immer von neuem. »Was ist jetzt zu tun?«

»Jetzt werden wir an Allerhöchster Stelle ein Gnadengesuch einreichen. Tun Sie das selbst, solange Sie noch hier sind! Ich werde es Ihnen aufsetzen.«

In diesem Augenblick trat der kleine Wolff in seiner ordengeschmückten Uniform ins Empfangszimmer und ging auf Nechljudow zu.

»Was ist da zu machen, lieber Fürst! Die angeführten Gründe reichten eben nicht aus,« sagte er, zuckte mit den schmalen Schultern und ging, die Augen schließend, seiner Wege.

Gleich nach Wolff kam auch Selenin herein, der von den Senatoren gehört hatte, daß sein alter Freund Nechljudow anwesend sei.

»Sieh doch! Ich hätte nicht erwartet, dich hier zu treffen,« sagte er, auf Nechljudow zutretend, mit lächelnden Lippen, während seine Augen ihren schwermütigen Ausdruck behielten. »Ich erfuhr erst kürzlich, daß du in Petersburg bist.«

»Und ich erfuhr erst heute, daß du Staatsanwalt bist ...«

»Nur Gehilfe,« berichtigte ihn Selenin. »Wie kommst du hierher in den Senat?« fragte er, den Freund melancholisch anblickend. »Was hat dich hergeführt?«

»Ich hoffte hier Gerechtigkeit zu finden und eine unschuldig verurteilte Frau retten zu können.«

»Was für eine Frau?«

»Es handelt sich um die Sache, die soeben entschieden wurde.«

»Ah, die Sache der Maslowa,« sagte Selenin sich besinnend. »Die Beschwerde war vollkommen unbegründet.«

»Es handelt sich nicht um die Beschwerde, sondern um die Frau, die unschuldig ist und doch bestraft werden soll.«

Selenin seufzte.

»Leicht möglich, indes ...«

»Nicht nur möglich ist's, sondern ganz sicher ...«

»Woher weißt du denn das?«

»Weil ich in der Sache Geschworener war. Ich weiß, was für einen Fehler wir gemacht haben.«

Selenin dachte nach.

»Das hätte sofort erklärt werden müssen,« sagte er.

»Ich habe es auch sofort erklärt.«

»Es hätte ins Protokoll aufgenommen werden müssen. Wenn die Kassationsbeschwerde einen solchen Vermerk enthielte ...«

Selenin, der immer sehr beschäftigt war und nur wenig in Gesellschaft kam, hatte offenbar von Nechljudows Roman nichts gehört. Als Nechljudow das merkte, beschloß er, ihn auch weiter über seine Beziehungen zur Maslowa in Unkenntnis zu lassen.

»Es lag doch auch so auf der Hand, daß das Urteil einfach ungereimt ist,« sagte er.

»Der Senat hat kein Recht, das auszusprechen,« sagte Selenin. »Wenn der Senat sich erlauben wollte, die Gerichtsurteile mit Rücksicht darauf, ob er sie für gerecht oder ungerecht hält, zu kassieren, würde er nicht nur jede Richtschnur verlieren und die Gerechtigkeit mehr untergraben als stützen, sondern die Entscheidungen der Geschworenen würden überhaupt jede Bedeutung einbüßen.«

»Ich weiß nur so viel, daß diese Frau vollkommen unschuldig ist, und daß die letzte Hoffnung, sie vor unverdienter Strafe zu bewahren, ihr verloren gegangen ist. Die höhere Instanz hat eine offenkundige Ungesetzlichkeit bestätigt.«

»Bestätigen konnte sie sie nicht, weil sie auf das Wesen der Sache nicht eingegangen ist und auch nicht eingehen durfte,« sagte Selenin, die Augenlider halb schließend. »Du bist vermutlich bei deiner Tante abgestiegen,« fügte er, offenbar in der Absicht, dem Gespräche eine andere Wendung zu geben, hinzu. »Ich hörte gestern, daß du hier bist. Gräfin Katerina Iwanowna hat mich eingeladen, mit dir zusammen den Vortrag eines Wanderpredigers anzuhören,« sagte Selenin, mit den Lippen allein lächelnd.

»Ich bin dagewesen, bin aber angewidert weggegangen,« sagte Nechljudow ärgerlich. Er war ungehalten darüber, daß Selenin das Gespräch auf ein anderes Thema zu lenken suchte.

»Warum angewidert? Es ist immerhin eine Bekundung des religiösen Gefühls, wenn sie auch einseitig und ketzerisch ist.«

»Blödsinn ist es, ganz offenbarer Blödsinn,« sagte Nechljudow.

»Nun, das möchte ich nicht sagen. Sonderbar ist daran nur, daß wir die Lehre unserer Kirche so wenig kennen und auf einmal als eine nagelneue Entdeckung ansehen, was längst zu den Grunddogmen der Kirche gehört,« sagte Selenin mit Eifer, als könnte er seinen einstmaligen Freund nicht rasch genug mit seinen neuen Ansichten bekannt machen, die dieser noch nicht kannte.

Nechljudow blickte Selenin aufmerksam und nicht ohne Verwunderung an. Selenin schlug seine Augen, in denen neben der Schwermut auch eine gewisse Kampflust lag, nicht nieder.

»Ja – glaubst du denn an die Dogmen der Kirche?« fragte ihn Nechljudow.

»Gewiß glaube ich daran,« antwortete Selenin und sah bei seinen Worten Nechljudow gerade in die Augen.

»Sonderbar,« sagte Nechljudow und seufzte dabei leise.

»Übrigens – wir reden wohl später noch davon,« sagte Selenin. »Ich komme schon,« sagte er, zu dem Nuntius gewandt, der sich ihm ehrerbietig näherte. »Wir müssen uns unbedingt noch einmal sehen,« fügte er mit einem Seufzer hinzu. »Nur weiß ich nicht, wann man dich treffen kann? Wann bist du denn zu Hause? Mich kannst du stets um sieben Uhr beim Mittagessen treffen. Ich wohne Nadeschdinskaja« – er sagte ihm die Hausnummer. »Es ist seit jener Zeit, die wir zusammen verbrachten, viel Wasser bergab gelaufen,« fügte er im Weggehen hinzu und lächelte wieder mit den bloßen Lippen.

»Ich komme, wenn ich Zeit finde,« sagte Nechljudow. Er hatte das Gefühl, daß dieser Mensch, der seinem Herzen einmal so nahe gestanden hatte, ihm plötzlich, auf Grund dieses kurzen Gespräches, ganz fremd und unverständlich, wenn nicht feindselig geworden war.


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