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38.

Die Hitze in dem großen Waggon dritter Klasse, der den ganzen Tag von der Sonne durchglüht und nun mit Menschen vollgepackt worden war, war so erstickend, daß Nechljudow es vorzog, draußen auf der Plattform des Waggons zu bleiben. Doch auch hier war das Atmen sehr erschwert, und Nechljudow atmete erst aus voller Brust auf, als der Zug das Häusermeer verlassen hatte und der Zugwind ihm entgegenwehte.

»Man hat sie getötet,« sprach er für sich, die Worte wiederholend, die er zu der Schwester gesagt hatte. Und in seiner Vorstellung trat, alle andern Eindrücke des heutigen Tages zurückdrängend, mit greifbarer Deutlichkeit das schöne Gesicht des zweiten der beiden vom Hitzschlag getroffenen Arrestanten mit dem lächelnden Ausdruck der Lippen, der ernsten Stirn und dem kleinen, kräftig geformten Ohr unter dem glattrasierten, bläulichen Schädel hervor. »Und das Schrecklichste dabei ist, daß man ihn zwar getötet hat, daß aber kein Mensch weiß, wer ihn getötet hat. Getötet aber wurde er auf jeden Fall. Man führte ihn, wie alle übrigen Gefangenen, auf Maslennikows Befehl hinaus. Maslennikow hat den Befehl vermutlich ganz in der gewohnten Weise erteilt, hat das Schriftstück mit dem vorgedruckten Kopfe unterschrieben und mit seinem albernen Schnörkel versehen und wird jetzt auf keinen Fall zugeben, daß ihn irgendeine Schuld trifft. Noch weniger braucht sich der Gefängnisarzt, der die Gefangenen untersucht hat, für schuldig zu halten. Er hat seine Pflicht pünktlich erfüllt, hat die Schwachen ausgesondert und konnte keinesfalls diese furchtbare Hitze vorausahnen noch auch annehmen, daß man sie so spät und in einem so dichten Haufen zusammengedrängt abführen würde. Und der Inspektor? Der hat doch nur den Befehl ausgeführt, daß an dem und dem Tage so und so viele zu Zwangsarbeit Verurteilte, so und so viele Verschickte, so und so viele Männer und Frauen wegtransportiert werden sollen. Ebensowenig kann der Eskorteoffizier für schuldig erachtet werden, dessen Pflicht doch einzig darin bestand, da und da so und so viele Sträflinge zu übernehmen und sie dort und dort abzuliefern. Er führte die Abteilung ganz vorschriftsmäßig, wie immer, auf den Bahnhof, und konnte keineswegs voraussehen, daß so kräftige Männer wie die beiden, die Nechljudow gesehen hatte, den Marsch nicht aushalten und zusammenbrechen würden. Niemand ist schuldig – und doch sind Menschen getötet worden, und zwar unter Beihilfe eben jener Leute, denen keine Schuld beigemessen werden kann.

»Alles kommt daher,« dachte Nechljudow, »daß alle diese Leute – die Gouverneure, Inspektoren, Revieraufseher, Polizisten – vor sich nicht Menschen zu sehen glaubten, denen gegenüber sie zu einem menschlichen Verhalten verpflichtet waren, sondern daß sie nur ihren Dienst und die Erfüllung dessen, was dieser Dienst erfordert, im Auge hatten, und daß sie die Forderungen des Dienstes über die Forderungen der Menschlichkeit stellten. Das allein vermag die Sache zu erklären,« dachte Nechljudow.

Nechljudow war so tief in seine Gedanken versunken, daß er gar nicht bemerkt hatte, wie das Wetter plötzlich umgeschlagen war. Die Sonne hatte sich hinter einer niedrig ziehenden, zerrissenen Wolke versteckt, während vom westlichen Horizont her eine dichte, hellgraue Gewitterwolke näherrückte, die sich bereits dort irgendwo in der Ferne über den Feldern und Wäldern in reichlichem, schräg fallendem Regen ergoß. Von Zeit zu Zeit zerriß ein Blitz die Wolke, und in das Gerassel der Waggons dröhnte immer häufiger das Rollen des Donners hinein. Die Wolke zog näher und näher, und die schräg fallenden Regentropfen gingen, vom Winde gejagt, als dunkle Flecke auf Nechljudows Rock und auf die Plattform nieder. Er ging auf die andere Seite, atmete die feuchtfrische Luft und den Brotduft der regendurstigen Erde ein und blickte auf die vorüberjagenden Gärten und Wälder, auf die gelbschimmernden Roggenfelder, die hellgrünen Haferstreifen und die schwarzen Furchen der dunkelgrünen, blühenden Kartoffelfelder. Alles erschien wie frisch lackiert: was grün war, erschien noch grüner, was gelb gewesen, noch gelber, was schwarz – noch schwärzer.

»Noch mehr, noch mehr davon!« sprach Nechljudow zu sich selbst und sah freudigen Blickes auf die Felder und Gärten, die unter dem Segen des erquickenden Regens aufzuleben schienen.

Der heftige Regen hielt nicht lange an. Die Wolke war weitergezogen, und auf die nasse Erde fielen bereits die letzten geraden, dichten, kleinen Tropfen. Die Sonne blickte wieder hervor, alles strahlte und glänzte, und im Osten wölbte sich über dem Horizont ein nicht hoher, doch sehr heller Regenbogen, in dem das Violett ganz besonders hervortrat.

»Ja, woran dachte ich doch gleich?« fragte sich Nechljudow, als alle diese Wandlungen in der Natur vorüber waren und der Zug eben in einen Bahndurchstich mit hohen Böschungen einlenkte. »Ganz recht, ich dachte daran, daß alle diese Menschen, der Inspektor, der Eskorteoffizier, kurz alle diese dienenden Leute – sonst zumeist recht sanftmütige, gutherzige Menschen – nur durch den Dienst so böse geworden sind.«

Er erinnerte sich an die Gleichgültigkeit, mit der Maslennikow alles das aufgenommen hatte, was er ihm von den Vorgängen im Gefängnis erzählt hatte, erinnerte sich der Strenge des Inspektors und des hartherzigen Verhaltens des Eskorteoffiziers, der die Leute nicht nach dem Bahnhof fahren ließ und nichts davon wissen wollte, daß der gebärenden Frau in dem Waggon Hilfe geleistet würde. Alle diese Menschen waren anscheinend gegen das Gefühl der Menschenliebe gefeit, waren dafür undurchdringlich, wie diese gepflasterte Erde da für den Regen, dachte Nechljudow, während er die mit buntfarbigen Steinen befestigte Böschung des Bahndurchstichs betrachtete, an der das Regenwasser in kleinen Bächen hinabrann, ohne in das Erdreich einzudringen. »Vielleicht war es notwendig, die Böschungen mit Steinen zu befestigen, aber es ist doch ein trauriger Anblick, den diese des Pflanzenwuchses beraubte Erdstreifen bieten, auf denen Getreide, Gras, Sträucher und Bäume wachsen könnten, so wie sie dort weiter oberhalb des Durchstichs wachsen. Ganz ähnlich ist's auch mit den Menschen,« ging es Nechljudow durch den Kopf. »Vielleicht sind auch diese Inspektoren und Polizisten notwendig, aber es ist furchtbar, Menschen zu sehen, die der wichtigsten menschlichen Eigenschaft, der Liebe und des Mitleids gegen ihresgleichen, ermangeln. Die ganze Sache läuft darauf hinaus, daß die Menschen glauben, es könne Umstände geben, unter denen sie mit ihresgleichen ohne Liebe umgehen dürfen. Solche Umstände gibt es jedoch nicht. Mit Sachen darf man ohne Liebe umgehen: man darf ohne Liebe Bäume fällen, Ziegelsteine formen, Eisen schmieden; mit Menschen jedoch darf man nicht ohne Liebe umgehen, wie man mit Bienen nicht ohne Sorgfalt umgehen darf. Das liegt einmal im Wesen der Bienenzucht; geht man mit ihnen nicht sorgfältig genug um, dann fügt man ihnen wie sich selbst nur Schaden zu. So ist es auch mit den Menschen, und es kann nicht anders sein, weil die gegenseitige Liebe zwischen den Menschen das Grundgesetz alles menschlichen Lebens ist. Wohl kann der Mensch sich nicht zwingen zu lieben, wie er sich etwa zwingen kann zu arbeiten; daraus folgt jedoch nicht, daß man mit den Menschen ohne Liebe umgehen dürfe, zumal wenn man selbst von ihnen etwas verlangt. Fühlst du keine Liebe zu den Menschen, dann verhalte dich wenigstens ruhig,« sprach Nechljudow zu sich selbst – »beschäftige dich mit dir selbst, mit toten Sachen, womit du immer willst, nur nicht mit den Menschen. Wie man nur dann ohne Schaden und mit Nutzen essen kann, wenn das Bedürfnis zu essen da ist, so kann man nur dann mit Menschen ohne Schaden und mit Nutzen Verkehr haben, wenn man sie liebt. Sei nur immer lieblos gegen die Menschen, wie du es gestern gegen den Schwager warst, und du findest bald keine Grenze für die Grausamkeit und Hartherzigkeit gegenüber den andern, und findest auch keine Grenze für deine eigenen Leiden. Ja, ja, so ist es,« dachte Nechljudow. »Und es ist gut so, es ist gut!« sprach er zu sich selbst und hatte den zwiefachen Genuß, einerseits den kühlen, frischen Luftzug nach der qualvollen Hitze zu verspüren, und andererseits zu wissen, daß er in einer Frage, die ihn schon lange beschäftigte, zu einer höheren Stufe der Einsicht gelangt sei.


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