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4.

Als Nechljudow aus dem Tore trat, begegnete er auf dem Fußpfad, der über den mit Wegerich und Hirtentäschelkraut bewachsenen Weideplatz führte, dem Bauernmädchen mit der gestickten Schürze und den Daunenringen in den Ohren – sie kam, rasch die dicken, nackten Beine bewegend, bereits wieder nach dem Gutshause zurück. Sie schwenkte den linken Arm quer vor sich hin und her, während sie mit dem rechten Arme einen roten Hahn fest gegen ihren Leib drückte. Der Hahn mit dem hin und her wackelnden roten Kamme schien vollkommen ruhig zu sein und hob und senkte nur abwechselnd den einen seiner schwarzen Füße, mit dessen Krallen er sich an der Schürze des Mädchens festhielt. Als das Mädchen sich dem Herrn näherte, mäßigte es seinen raschen Lauf und ging, sowie es an ihm vorüberkam, ganz im Schritt, blieb dann stehen, warf den Kopf zurück, verneigte sich vor ihm und ging mit dem Hahn erst weiter, als er vorüber war. Als Nechljudow zum Dorfbrunnen hinabstieg, traf er noch eine alte Frau in einem schmutzigen, groben Hemd, die auf dem gekrümmten Rücken zwei schwere, volle Eimer an einer Wassertrage schleppte. Vorsichtig stellte die Alte die Eimer hin und verneigte sich ganz ebenso wie das Mädchen, den Kopf nach hinten überwerfend, vor Nechljudow.

Hinter dem Brunnen begann das Dorf. Es war ein klarer, heißer Tag; um zehn Uhr bereits herrschte eine wahre Glut, die Wolken ballten sich am Himmel zusammen und verdeckten von Zeit zu Zeit die Sonne. Über der ganzen Dorfstraße lag ein scharfer, ätzender, unangenehmer Düngergeruch, der teils von den auf dem glattgefahrenen Wege bergauf gehenden Düngerfuhren, teils von den tief aufgewühlten Senkgruben auf den Höfen ausging, an deren offenen Toren Nechljudow vorüberkam. Die Bauern, die hinter den beladenen Wagen in ihren mit Jauche beschmutzten Hosen und Hemden barfuß bergan schritten, sahen sich nach dem hochgewachsenen, dicken Herrn um, der in dem grauen Hute mit dem in der Sonne schimmernden Seidenband gleichfalls bergan durch das Dorf ging und bei jedem zweiten Schritt mit dem glänzend polierten, gegliederten Stocke, an dem sich oben ein blinkender Knopf befand, den Boden berührte. Die vom Felde heimkehrenden Bauern, die, gegen die Seitenwände der leeren Wagen gelehnt, von der heftigen Bewegung der im Trabe daherfahrenden Wagen zitterten, zogen die Hüte und folgten mit erstaunten Blicken der ungewohnten Erscheinung dieses Menschen, der ihre Dorfstraße entlangschritt; die Weiber traten vor die Tore oder auf die Treppen hinaus, zeigten ihn einander und folgten ihm lange mit den Augen.

Bei dem vierten Tore, das Nechljudow passierte, hielten ihn die soeben unter lautem Ächzen aus dem Hofe kommenden, hoch mit Dünger beladenen Wagen auf, deren Ladung oben festgeklatscht und mit einer Bastdecke zum Sitzen belegt war. Ein sechsjähriges Bürschchen ging barfuß hinter der Fuhre her. Ein junger Bauer in Bastschuhen trieb breit ausschreitend das Pferd aus dem Hofe. Ein langbeiniges, mäusegraues Füllen sprang aus dem Tore, drückte sich, vor Nechljudow erschreckend, ganz dicht an den Wagen, geriet dort jedoch mit den Beinen an die Räder und trabte rasch seiner unruhig wiehernden Mutter voran, die soeben den schweren Wagen durch das Tor zog. Das folgende Pferd lenkte ein magerer, lebhaft dreinschauender Alter, der barfuß, in gestreiften Hosen und einem langen, schmutzigen Hemd über den vorstehenden mageren Hüftknochen, neben dem Wagen herging.

Als die Pferde sich auf den festgewalzten Weg hinausgearbeitet hatten, kehrte der Alte nach dem Tor zurück und verneigte sich vor Nechljudow.

»Bist wohl der Herr Neffe von unsern seligen Fräulein?«

»Ja, ja.«

»Sei uns hübsch willkommen; bist wohl hergekommen, um uns zu besuchen?« fuhr der gesprächige Alte fort.

»Ja, ja. Nun, wie lebt ihr denn hier?« sagte Nechljudow, der nicht wußte, wie er das Gespräch fortführen sollte.

»Wie sollen wir schon leben? Schlecht leben wir!« versetzte der Alte redselig in einer singenden Sprechweise, die ihm offenbar viel Vergnügen machte.

»Wieso denn schlecht?« fragte Nechljudow und trat durch das Tor näher.

»Weil's uns eben schlecht geht. Ein sehr, sehr schlechtes Leben!« sagte der Alte, während er Nechljudow nach einem vom Dünger bereits bis auf die blanke Erde befreiten Platze unter dem Schutzdach folgte.

Nechljudow trat mit ihm unter das Dach.

»Ich habe zwölf Seelen im Hause, zwölf Menschen zu ernähren,« fuhr der Alte fort, während er auf zwei Frauen zeigte, die schwitzend, mit verschobenen Kopftüchern, hoch aufgeschürzt, die nackten Waden bis zur Hälfte mit Jauche beschmutzt, die Düngergabeln in den Händen, auf einem Vorsprung des noch nicht aufgeladenen Düngers standen. »Jeden Monat heißt es sechs Pud Getreide zukaufen – und woher das Geld nehmen?«

»Reicht denn euer eigenes Getreide nicht aus?«

»Unser eigenes Getreide?« versetzte der Alte mit geringschätzigem Lächeln. »Ich habe für drei Seelen Land, und habe im letzten Jahre gar nur acht Haufen geerntet. Nicht mal bis Weihnachten hat es gereicht.«

»Und was habt ihr dann gemacht?«

»Was wir dann gemacht haben? Dann hab' ich den einen Sohn als Knecht weggegeben, und hab' mir bei Euer Gnaden etwas Geld geliehen. Noch vor der Fastenzeit mußten wir anfangen, ganz auf Borg zu leben, und auch die Steuern sind noch nicht bezahlt.«

»Wieviel betragen denn die Steuern?«

»Von meinem Hofe macht es siebzehn Rubel aufs Dritteljahr aus. Gott soll einen schützen vor solch einem Leben – man weiß wirklich nicht, wie man sich durchschlagen soll!«

»Kann ich vielleicht einmal in eure Stube hineingehen?« fragte Nechljudow, während er über den kleinen Hof schritt und dabei von dem gesäuberten Platze auf die noch nicht weggeräumten, von den Gabeln zerwühlten, safrangelben Düngerschichten trat.

»Warum nicht, immer geh hinein!« sagte der Alte und ging raschen Schrittes mit den bloßen Füßen, zwischen deren Zehen die Jauche hervorquoll, an Nechljudow vorüber nach der Tür seiner Hütte, die er vor ihm öffnete.

Die beiden Frauen schoben ihre Kopftücher zurecht, ließen ihre kurzen, faltigen Röcke herunter und sahen ganz erschrocken den sauberen Herrn mit den goldenen Manschettenknöpfen an, der ihre Wohnung betrat.

Aus der Stube sprangen zwei kleine Mädchen im bloßen Hemdchen heraus. Nechljudow bückte sich, nahm den Hut ab und trat zuerst in den Hausflur und dann in die von säuerlichem Speisegeruch erfüllte, schmutzige Stube, deren ohnedies beschränkter Raum durch zwei Webstühle noch mehr eingeengt wurde. In der Stube stand neben dem Ofen eine alte Frau, an deren mageren, sehnigen, wettergebräunten Armen die Ärmel aufgestreift waren.

»Das ist unser Herr, er ist zu uns zu Gaste gekommen,« sagte der Alte.

»Wir bitten einzutreten,« sprach die Alte freundlich, während sie die aufgestreiften Ärmel herunterzog.

»Ich wollte einmal sehen, wie ihr lebt,« sagte Nechljudow.

»So, wie du es hier siehst – so leben wir. Das Haus wird zusammenstürzen – ehe man sich's versieht, schlägt es jemanden tot. Mein Alter aber meint, es sei immer noch gut genug. So leben wir – die reinen Fürsten!« sagte die muntere Alte, nervös mit dem Kopfe zuckend. »Gleich trag' ich das Mittagessen auf, um meine Arbeitsleute satt zu machen.«

»Was gibt's denn zu Mittag?«

»Was es zu Mittag gibt? O, wir nähren uns gut. Der erste Gang: Brot und Kwas, der zweite Gang: Kwas und Brot,« sagte die Alte und zeigte ihre Zahnstummel.

»Nein, ohne Scherz – zeigt mir, was ihr heute essen werdet!«

»Was wir essen werden?« sagte lachend der Alte. »Es ist nichts sehr Feines. Zeig's ihm, Alte!«

Die Alte schüttelte den Kopf.

»Mit einemmal will er unser Bauernessen sehen! Bist doch ein neugieriger Herr, wenn ich dich so ansehe. Alles muß er wissen! Ich sagte dir doch schon: Brot und Kwas, und außerdem Kohlsuppe, und dann haben die Weiber gestern auch noch Kräuter mitgebracht. Zuerst kommt die Kohlsuppe dran, und danach gibt's Kartoffeln.«

»Und weiter nichts?«

»Was soll's noch geben? Mit Milch wird's weiß gemacht,« sagte die Alte lächelnd und sah nach der Tür.

Die Tür ward geöffnet – und der Flur war voll Leute: Kinder, junge Mädchen, Frauen mit Säuglingen im Arm drängten sich in der Öffnung und guckten auf den sonderbaren Herrn, der das Essen der Bauern sehen wollte. Die Alte war offenbar stolz darauf, daß sie so gewandt mit dem Herrn zu verkehren wußte.

»Ja, Herr, schlecht, sehr schlecht ist unser Leben – was ist da schon zu sagen!« meinte der Alte. »Wohin drängt ihr euch denn?« schrie er die in der Tür Stehenden an.

»Nun, lebt wohl,« sagte Nechljudow, der ein Gefühl der Befangenheit und Beschämung hatte, über dessen Ursache er sich keine Rechenschaft geben konnte.

»Wir danken auch gehorsamst, daß du uns beehrt hast,« sagte der Alte.

Im Hausflur standen die Leute noch immer dicht gedrängt. Sie ließen Nechljudow durch, und er ging auf die Straße und dann weiter die Straße entlang aufwärts.

Gleich hinter ihm verließen zwei barfüßige Knaben den Flur – der eine, ältere, in einem schmutzigen, einstmals weißen Hemd und der andere in einem abgenutzten, verschossenen, rosaroten.

Nechljudow sah sich nach ihnen um.

»Und wohin willst du jetzt gehen?« fragte ihn der Knabe in dem weißen Hemd.

»Zu Matrona Charina,« sagte Nechljudow. »Kennt ihr sie?«

Der kleine Knabe im rosa Hemd lachte über etwas, und der ältere fragte mit ernstem Gesichte:

»Was für eine Matrona? Ist sie alt?«

»Ja, sie ist alt.«

»O-oh!« rief er langgedehnt. »Das ist die Semjonicha, die wohnt am Ende des Dorfes. Wir bringen dich hin. Komm mit, Fedjka, wir begleiten ihn!« sagte er zu seinem Kameraden.

»Und die Pferde?«

»Ach, es wird ihnen nichts geschehen.«

Fedjka willigte ein, und sie gingen zu dreien die Straße hinauf durchs Dorf.


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