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15.

Graf Iwan Michajlowitsch Tscharskij, der Gatte von Katerina Iwanowna, war Minister außer Diensten und ein Mann von festen Überzeugungen.

Die Überzeugungen des Grafen Iwan Michajlowitsch hatten von Jugend an darin bestanden, daß, wie es dem Vogel eigen ist, sich von Würmern zu nähren, mit Flaum und Federn bekleidet zu sein und zu fliegen, es ganz ebenso ihm, dem Grafen, eigen sei, sich von teuren, durch teure Köche bereiteten Gerichte zu nähren, die bequemsten und teuersten Kleider zu tragen und mit den besten und raschesten Pferden zu fahren, und daß darum alles dies für ihn bereit sein müsse. Außerdem war Graf Iwan Michajlowitsch der Meinung, daß, je mehr Einkünfte verschiedenster Art er aus der Staatskasse bezog, je mehr Orden er besaß und je öfter er mit hochgestellten Persönlichkeiten beiderlei Geschlechts zusammenkam und sprach, dies für ihn um so vorteilhafter sein müsse.

Alles andere war, im Vergleich mit diesen Grunddogmen, dem Grafen Iwan Michajlowitsch völlig gleichgültig und uninteressant. Alles andere konnte so oder umgekehrt sein – ihn ließ es völlig kalt. Diesem Glauben entsprechend, hatte Graf Iwan Michajlowitsch vierzig Jahre lang in Petersburg gelebt und gewirkt und im Verlauf dieser vierzig Jahre den Posten eines Ministers erklommen.

Die hervorragendsten Fähigkeiten des Grafen Iwan Michajlowitsch, durch die er diesen Erfolg errungen, bestanden erstens darin, daß er in den Sinn amtlicher Schriftstücke und gesetzlicher Bestimmungen einzudringen vermochte und klar verständliche, wenn auch stilistisch nicht hervorragende Darlegungen auszuarbeiten und orthographisch richtig niederzuschreiben verstand; zweitens darin, daß er eine sehr repräsentable Erscheinung war und, wo es nötig war, nicht nur eine stolze, sondern sogar eine unnahbare, majestätische Haltung einzunehmen wußte, erforderlichenfalls aber auch eine bis zur Kriecherei devote Haltung beobachten konnte; drittens darin, daß er sich an keine allgemeinen Prinzipien oder Regeln hielt, weder in sittlicher noch in politischer Beziehung, und daß er daher mit aller Welt übereinstimmen konnte, wenn er dies für notwendig hielt, ebenso gut jedoch zu aller Welt in Gegensatz trat, wenn ihm das richtiger erschien. Bei einem solchen Verhalten kam es ihm vor allem darauf an, den »Ton« durchzuhalten und nicht in allzu krassen Widerspruch mit sich selbst zu treten; im übrigen war es ihm vollkommen gleichgültig, ob seine Handlungen an sich sittlich oder unsittlich waren, und ob sie dem russischen Reiche oder der ganzen Welt das größte Heil oder das größte Unheil brachten.

Als er Minister geworden war, waren nicht nur alle von ihm abhängigen Leute – und es gab deren sehr viele – und seine Vertrauten, sondern auch viele Abseitsstehenden sowie er selbst davon überzeugt, daß er ein sehr kluger Staatsmann sei. Als jedoch eine gewisse Zeit verstrichen war und er nichts ausgerichtet und nichts Hervorragendes geleistet hatte, und als nach dem Gesetze des Kampfes ums Dasein andere repräsentable und prinzipienlose Beamte, die ebenso gut wie er amtliche Schriftstücke zu verstehen und niederzuschreiben wußten, ihn aus seiner Stellung verdrängt hatten, als er gezwungen war, den Abschied zu nehmen – da wurde es allen klar, daß er nicht nur kein besonders kluger, sondern im Gegenteil ein sehr beschränkter und ungebildeter, wenn auch recht selbstbewußter Mensch war, der sich mit seiner staatsmännischen Weisheit knapp bis zur Höhe der Leitartikel irgend einer konservativen Zeitung erhob. Es zeigte sich, daß er sich in nichts von jenen andern ungebildeten und selbstbewußten Beamten unterschied, die ihn aus seiner Stellung herausgedrängt hatten, und er begriff das auch selbst, ließ sich jedoch dadurch durchaus nicht in seiner Überzeugung beirren, daß er alljährlich recht ansehnliche Summen aus der Staatskasse und dazu neue Orden zu bekommen habe.

Graf Iwan Michajlowitsch hörte Nechljudows Darlegungen an, wie er früher die Berichte seines Kanzleidirektors angehört hatte, und nachdem er sie angehört hatte, sagte er, daß er ihm zwei Karten – eine davon an den Senator Wolff vom Kassationsdepartement – mitgeben werde.

»Man spricht zwar von Wolff verschiedenes, auf alle Fälle jedoch ist er ein Mann, der durchaus ›comme il faut‹ ist,« sagte er. »Er ist mir verpflichtet und wird jedenfalls tun, was er kann.«

Die zweite Karte gab Graf Iwan Michajlowitsch seinem Gaste für ein sehr einflußreiches Mitglied der Bittschriftenkommission. Der Fall der Fedoßja Birjukowa, wie ihn Nechljudow erzählte, interessierte den Grafen außerordentlich. Als Nechljudow ihm sagte, er habe in dieser Angelegenheit an Ihre Majestät selbst schreiben wollen, meinte der Graf, die Geschichte der Birjukowa sei in der Tat ungemein rührend, und man könne sie wohl gelegentlich der Allerhöchsten Person erzählen. Versprechen wollte er jedoch nichts, die Bittschrift sollte erst einmal auf dem regulären Wege eingereicht werden. Und falls sich eine günstige Gelegenheit darbot, vielleicht in dem »kleinen Komitee«, zu dem er gelegentlich hinzugezogen wurde, dann konnte er ja, so dachte er es sich, den Fall zur Sprache bringen.

Mit den beiden Karten des Grafen und dem Briefchen der Tante an Mariette ausgerüstet, machte sich Nechljudow sogleich auf den Weg.

Er begab sich zunächst zu Mariette. Er hatte sie, die aus einer armen aristokratischen Familie stammte, als halbwüchsiges junges Mädchen gekannt. Er wußte, daß sie einen Mann geheiratet hatte, der zwar eine große Karriere gemacht hatte, jedoch sonst nicht gerade im besten Rufe stand, und es war ihm, wie immer, recht peinlich und unangenehm, sich mit einer Bitte an einen Menschen wenden zu müssen, dem er seine Achtung versagen mußte. Er empfand in solchen Fällen stets einen inneren Zwiespalt, eine Unzufriedenheit mit sich selbst und eine Unentschlossenheit, ob er die Gefälligkeit des Betreffenden annehmen solle oder nicht, doch entschied er sich stets im ersteren Sinne. Er fühlte sich in einer falschen Lage, so als Bittsteller zwischen lauter Leuten, die er nicht mehr für seinesgleichen hielt, während sie ihn noch immer als ihresgleichen ansahen. Er hatte die Empfindung, daß er wieder in das altgewohnte Geleise kam und unwillkürlich auf jenen leichtfertigen, unsittlichen Ton einging, der in diesem Kreise herrschte. Schon bei Tante Katerina Iwanowna hatte er das bemerkt – heute morgen schon, als er mit ihr über die ernstesten Dinge redete, war er unversehens in diesen unernsten, scherzenden Ton verfallen.

Im allgemeinen machte Petersburg, wo er schon lange nicht mehr gewesen war, auf ihn den alten, in physischer Beziehung anregenden, in sittlicher Hinsicht dagegen abstumpfenden Eindruck: alles ist dort so sauber, so bequem, so gut eingerichtet, vor allem aber sind die Menschen dort so wenig anspruchsvoll, daß das Leben in dieser Stadt ganz besonders leicht erscheint.

Der stattliche, saubere, höfliche Droschkenkutscher brachte ihn, an stattlichen, sauberen, höflichen Polizisten vorüber, über das gute, sauber gesprengte Pflaster an schönen, sauberen Gebäuden vorüber nach jenem Hause, in dem Mariette wohnte.

An der Auffahrt stand ein Paar englischer Pferde mit Scheuklappen, und ein Kutscher in Livree, der ganz wie ein Engländer aussah, mit einem nur bis zur Hälfte der Wangen reichenden Backenbart, saß mit der Peitsche in der Hand in stolzer Haltung auf dem Kutschbock der Equipage.

Der in einer ungewöhnlich sauberen Livree steckende Schweizer öffnete die Tür zum Flur, wo ein Wagenlakai in einer noch saubereren, betreßten Uniform mit prächtigem, sorgfältig frisiertem Backenbart sowie ein diensttuender Ordonnanzsoldat in einer sauberen neuen Uniform stand.

»Der General empfangen nicht, und die Frau Generalin auch nicht. Sie geruhen sogleich auszufahren.«

Nechljudow nahm den Brief der Gräfin Katerina Iwanowna nebst einer seiner eignen Visitenkarten heraus, trat an den kleinen Tisch, auf dem ein Buch zum Einschreiben für die Besucher lag, und begann schon zu schreiben, daß er sehr bedaure, die Herrschaften nicht angetroffen zu haben, als der Lakai sich plötzlich der Treppe zuwandte, der Schweizer nach der Rampe hinaustrat und »Vorfahren!« schrie und der Ordonnanzsoldat in Fronthaltung, die Hände an den Hosennähten, wie erstarrt dastehend, mit den Augen einer kleinen, schlanken Dame folgte, die soeben mit einer der Wichtigkeit ihrer Person nicht recht entsprechenden Fixigkeit die Treppe herabkam.

Mariette trug einen großen Hut mit einer Feder und ein schwarzes Kleid nebst schwarzem Umhang und neuen schwarzen Handschuhen; ihr Gesicht war von einem Schleier bedeckt.

Als sie Nechljudow erblickte, schlug sie den Schleier zurück, daß ihr liebliches Gesicht mit den glänzenden Augen sichtbar wurde, und blickte ihn fragend an.

»Ah, Fürst Dmitrij Iwanowitsch!« begann sie munter mit ihrer angenehmen Stimme. »Ich würde Sie immer sofort erkennen ...«

»Wie, auch meinen Namen haben Sie behalten?«

»Aber gewiß – wir waren doch sogar einmal verliebt in Sie, ich sowohl wie meine Schwester,« begann sie auf französisch. »Aber Sie haben sich verändert. Wie schade, daß ich jetzt wegfahren muß! Übrigens, gehen wir zurück,« sagte sie, unentschlossen stehen bleibend.

Sie sah auf die Wanduhr.

»Nein, es geht nicht. Ich fahre zur Kamenskaja, zur Seelenmesse. Es war ein furchtbarer Schlag für sie.«

»Was für eine Kamenskaja ist das?«

»Haben Sie nicht von ihr gehört? Ihr Sohn ist im Duell gefallen, er schlug sich mit dem jungen Posen. Der einzige Sohn! Entsetzlich! Die Mutter ist wie vernichtet.«

»Ja, ich habe davon gehört.«

»Ich will schon lieber hinfahren, kommen Sie morgen, oder heute abend,« sagte sie und ging mit leichten, raschen Schritten nach der Außentür.

»Heute abend kann ich leider nicht,« sagte er, während er mit ihr auf die Rampe hinaustrat. »Ich habe ein Anliegen an Sie,« sagte er und sah auf die Equipage mit den beiden Füchsen, die eben an die Rampe heranfuhr.

»Was ist's denn?«

»Hier, ein Briefchen von meiner Tante,« sagte Nechljudow und reichte ihr das schmale Kuvert mit dem großen Monogramm. »Es wird Sie über alles informieren.«

»Ich weiß: die Gräfin Katerina Iwanowna glaubt, ich besitze in amtlichen Dingen einen Einfluß auf meinen Gatten. Sie ist im Irrtum, ich kann da gar nichts machen und will es auch nicht. Aber der Gräfin und Ihnen zu Gefallen bin ich bereit, einmal von meinem Prinzip abzugehen. Um was handelt es sich?« sagte sie, während sie mit der kleinen, behandschuhten Hand vergeblich nach der Tasche suchte.

»Man hat ein junges Mädchen auf die Festung gebracht, das krank und in keiner Weise schuldig ist.«

»Wie heißt die Betreffende?«

»Schustowa, Lydia Schustowa. Es steht wohl in dem Briefe.«

»Nun, ich will es versuchen,« sagte sie, stieg mit leichtem Schwung in die elegante Kalesche, deren frische Lackierung in der Sonne glänzte, und öffnete den Sonnenschirm. Der Lakai setzte sich auf den Kutschbock und gab dem Kutscher das Zeichen zum Abfahren. Der Wagen setzte sich in Bewegung, in demselben Augenblick jedoch berührte Mariette mit dem Sonnenschirm den Rücken des Kutschers, und die feinfelligen, schmucken englisierten Stuten blieben stehen, streckten die vom Zügel angezogenen Köpfe und begannen auf den schlanken Beinen zu tänzeln.

»Kommen Sie jedenfalls – aber, bitte, keine Geschäfte!« sagte sie, und über ihr Gesicht huschte ein Lächeln, dessen Wirkung sie sehr wohl kannte, worauf sie, als sei die Vorstellung beendet, den Schleier wie einen Vorhang wieder über ihr Gesicht fallen ließ. »Nun, fahren wir,« sagte sie und berührte wieder mit dem Schirm den Kutscher.

Nechljudow lüftete den Hut. Die Vollblutstuten schnaubten und schlugen mit den klingenden Hufen kurz auf das Pflaster, worauf die Equipage, nur hier und da mit den neuen Radschienen auf den Unebenheiten des Weges sanft emporhüpfend, rasch davonrollte.


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