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33.

Der Zug war so lang, daß, als die Vordersten bereits aus dem Gesichtskreis entschwunden waren, die Fuhrwerke mit den Säcken und den Schwachen sich erst in Bewegung setzten. Als die Wagen losfuhren, bestieg auch Nechljudow seine Mietsdroschke und hieß den Kutscher rasch an dem Gefangenentransport vorüberfahren: er wollte sehen, ob nicht zwischen den Männern einige der Gefangenen wären, die er kannte, und ob er nicht zwischen den Frauen die Maslowa entdeckte, die er fragen wollte, ob sie die ihr von ihm übersandten Sachen bekommen habe.

Immer heißer war es geworden. Es war völlig windstill, und der von mehr als tausend Füßen aufgewirbelte Staub schwebte die ganze Zeit über in dicken Schwaden über den Arrestanten, die in der Mitte der Straße dahinschritten. Die Arrestanten gingen in raschem Schritt, und der nicht allzu feurige Gaul, der Nechljudows Droschke zog, überholte den Zug nur sehr langsam. Reihe nach Reihe schritten diese fremdartigen Wesen von seltsamem, unheimlichem Aussehen daher, warfen die tausend gleichförmig bekleideten und beschuhten Beine vor und schwenkten dabei, im Takt zu ihren Schritten, sich gleichsam antreibend, die freien Arme hin und her. Es waren ihrer so viel, und so gleichförmig waren sie im Aussehen, und die Umstände, unter denen sie da einherschritten, waren von so besonderer, merkwürdiger Art, daß Nechljudow den Eindruck hatte, als seien sie gar keine Menschen, sondern Wesen von ganz eigener, grauenhafter Art. Dieser Eindruck wurde in ihm nur dadurch gestört, daß er unter den zu Zwangsarbeit Verurteilten den Mörder Fjodorow und unter den Verschickten den Komiker Ochotin sowie noch einen Landstreicher, der sich einmal an ihn gewandt hatte, erkannte. Fast alle Arrestanten sahen sich um und schielten nach der sie überholenden Droschke und dem in ihr sitzenden Herrn, der sie so aufmerksam musterte. Fjodorow warf den Kopf in die Höhe, zum Zeichen, daß er Nechljudow erkannt habe. Ochotin blinzelte ihm mit den Augen zu. Aber weder der eine noch der andere grüßte ihn, weil sie das für unstatthaft hielten. Als Nechljudow an den Frauen vorüberfuhr, fiel ihm sogleich die Maslowa in die Augen. Sie ging in der zweiten Reihe der Frauen. Die erste in dieser Reihe war eine kurzbeinige, schwarzäugige, häßliche Person, die die Schöße des für sie zu langen Rockes in den Gürtel gesteckt hatte und von der Anstrengung des Marsches ganz rot war – es war Schönlieschen; dann folgte in derselben Reihe die schwangere Frau, die sich kaum vorwärtsschleppte, und die dritte war die Maslowa. Sie trug ihren Sack auf dem Rücken und sah gerade vor sich hin. Ihr Gesicht hatte einen ruhigen, entschlossenen Ausdruck. Die vierte in der Reihe war eine tapfer ausschreitende, hübsche junge Frau in einem kurzen Sträflingsrock und einem nach Bäuerinnenart gebundenen Kopftuch – es war Fedoßja. Nechljudow stieg aus der Droschke und trat an die vorwärtsschreitenden Frauen heran – er wollte die Maslowa nach den Sachen und nach ihrem Ergehen befragen, aber der Unteroffizier, der auf dieser Seite neben der Abteilung herschritt, hatte sogleich bemerkt, daß er sich den Gefangenen näherte, und war auf ihn zugeeilt.

»Das geht nicht, Herr, daß Sie sich den Gefangenen nähern – es ist nicht gestattet,« schrie er, ganz dicht an Nechljudow herantretend. Jetzt erst, da er diesem ins Gesicht sah, erkannte er ihn – wie alle im Gefängnis ihn kannten; er legte grüßend die Hand an die Mütze und sagte:

»Jetzt geht das nicht. Auf dem Bahnhofe dürfen Sie mit ihr reden, jetzt ist es nicht gestattet. Aufgeschlossen – marsch!« schrie er die Gefangenen an und trabte trotz der Hitze in seinen schmucken neuen Stiefeln wieder auf seinen Platz zurück.

Nechljudow ging auf das Trottoir zurück und schritt, während er die Droschke nebenher fahren ließ, vorwärts, den Blick immer auf den Zug der Gefangenen geheftet. Wo die Abteilung auch vorüberkam, überall erregte sie die Aufmerksamkeit der Passanten, der sich ein Gefühl von Mitleid und Grauen zugesellte. Die Vorüberfahrenden steckten die Köpfe aus ihren Equipagen und folgten dem Zuge, so weit ihr Blick ihn erreichen konnte. Die Fußgänger blieben stehen und sahen voll Schreck und Erstaunen auf das grauenhafte Schauspiel. Etliche traten näher und spendeten ein Almosen, das die Eskortesoldaten für die Gefangenen in Empfang nahmen. Einige folgten wie hypnotisiert der Abteilung, blieben dann stehen, schüttelten den Kopf und folgten dem Zuge nur noch mit den Augen. Aus den Torwegen und Hauseingängen stürzten Leute vor und riefen andere hinzu, in den Fenstern erschien Kopf an Kopf, und alles starrte schweigend und unbeweglich auf den schauerlichen Zug. An einer Straßenkreuzung versperrte die Abteilung einer reichen Equipage den Weg. Auf dem Kutschbock saß ein breithüftiger Kutscher mit schmalzig glänzendem Gesichte und etlichen Knopfreihen auf dem Rücken; im Fond des Wagens saßen, auf dem Rücksitz, ein Herr und eine Frau: die Frau mager und blaß, mit hellem Hut und grellbuntem Sonnenschirm, der Mann im Zylinder, mit einem hellen, geckenhaften Paletot. Den Eltern gegenüber saßen zwei Kinder: ein ausgeputztes kleines Mädchen mit losem blondem Haar, frisch wie ein Blümchen, gleichfalls mit einem bunten Schirm, und ein achtjähriger Knabe mit langem, magerem Hals und vortretenden Schlüsselbeinen, in einer mit langen Bändern verzierten Matrosenmütze. Der Herr schalt ärgerlich den Kutscher, daß er dem Transport nicht rechtzeitig ausgewichen sei, während die Dame mit Abscheu die Augenlider zusammenkniff, die Stirn runzelte und zum Schutze gegen die Sonne und den Staub den seidenen Schirm tief über ihr Gesicht gesenkt hielt. Der breithüftige Kutscher hörte sich die ungerechten Vorwürfe seines Herrn mit finsterer Miene an – hatte dieser ihn doch selbst angewiesen, gerade diesen Weg zu wählen; nur mit Mühe konnte er die glänzenden Rapphengste, die unter den Kumthölzern und am Halse ganz mit Schaum bedeckt waren und ungeduldig vorwärts drängten, an den Zügeln zurückhalten.

Der an der Straßenkreuzung postierte Polizist hätte dem Besitzer der eleganten Equipage herzlich gern einen Gefallen getan und den Gefangenenzug angehalten, um den Wagen durchzulassen; doch stand auch er im Banne der düsteren Feierlichkeit, die über dem Zuge lag, und die selbst um eines so vornehmen Herrn willen nicht gestört werden durfte. Er legte nur, zum Zeichen seiner Hochachtung vor dem Reichtum, die Hand an den Mützenschirm und maß die Arrestanten mit strengem Blicke, als wollte er damit ausdrücken, daß er auf jeden Fall entschlossen sei, die Insassen der Equipage gegen sie zu verteidigen. Die Equipage mußte wohl oder übel so lange halten, bis der ganze Zug vorüber war, und setzte sich erst in Bewegung, als das letzte Transportfuhrwerk mit den Säcken und den darauf sitzenden Arrestantinnen vorübergerasselt war. Unter diesen befand sich noch immer jene jammernde und schluchzende hysterische Frau, die sich schon ein wenig beruhigt hatte, jetzt aber, beim Anblick der vornehmen Equipage, von neuem in lautes Schluchzen und Jammern ausbrach. In diesem Augenblick zog der Kutscher die Zügel an, und die Rappen brachten, mit den klingenden Hufen auf das Steinpflaster aufschlagend, den auf den prallen Gummireifen leicht dahinhüpfenden Wagen in flinkem Trabe nach dem Landhause vor der Stadt, nach dem der Herr, die Dame, das kleine Mädchen und der Knabe mit dem dünnen Halse und den vorstehenden Schlüsselbeinen zu einem Sommervergnügen fuhren.

Weder der Vater noch die Mutter gaben den Kindern eine Erklärung dessen, was sie gesehen hatten, so daß diese, um sich die Bedeutung des seltsamen Schauspiels klarzumachen, auf ihren eigenen Scharfsinn angewiesen waren.

Das junge Mädchen, das die Sache nach dem Gesichtsausdrucke der Mutter beurteilte, entschied die Frage dahin, daß diese Menschen da Wesen ganz anderer Art seien als ihre Eltern und deren Bekannte, daß es schlechte Menschen seien, mit denen man eben so verfahren müsse, wie man mit ihnen verfuhr. Das kleine Mädchen hatte sich daher vor jenen Menschen nur gefürchtet und war herzlich froh, als man nichts mehr von ihnen sah.

Der Knabe mit dem langen, mageren Halse dagegen, der während der ganzen Zeit auf den Zug der Arrestanten geschaut hatte, ohne auch nur einen Blick von ihnen abzuwenden, hatte die Frage auf andere Weise entschieden. Er wußte es ganz sicher und zweifellos – denn Gott selbst hatte es ihm eingegeben – daß diese Menschen ebensolche Menschen waren, wie er selbst und alle andern Menschen, und daß irgend jemand ihnen etwas sehr Schlimmes angetan haben mußte – etwas, das ein Mensch dem andern nicht antun dürfe; und sie taten ihm leid, und er empfand ein Grauen – vielleicht vor denen, die dort in Ketten geschmiedet, mit glattrasierten Schädeln daherschritten, vielleicht aber auch vor denen, die sie in Ketten geschmiedet und ihre Köpfe so schändlich entstellt hatten. Und von der Aufregung, in die ihn das alles versetzte, schwollen seine Lippen mehr und mehr an, und er gab sich die größte Mühe, um nur nicht in Tränen auszubrechen, weil er meinte, es schicke sich nicht, über solche Dinge zu weinen.


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