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8.

Als Nechljudow das Haus betrat, fand er in dem Kontor, das in ein Schlafzimmer für ihn umgewandelt worden war, ein hohes Bett mit Daunenkissen und einer dunkelroten, zweischläfrigen, kunstvoll mit Figuren bestickten steifseidenen Bettdecke, die offenbar einmal zur Aussteuer der Verwaltersfrau gehört hatte. Der Verwalter bot Nechljudow den Rest vom Mittagessen als Abendbrot an, dieser lehnte jedoch dankend ab. Der Verwalter entschuldigte sich wegen der kargen Bewirtung und mangelhaften Quartiereinrichtung, wünschte Nechljudow eine gute Nacht und ging.

Die Weigerung der Bauern, auf seinen Vorschlag einzugehen, brachte Nechljudow durchaus nicht aus der Fassung. Im Gegenteil – obschon man dort, in Kusminskoje, seinen Vorschlag angenommen und ihm sogar gedankt hatte, hier aber ihm Mißtrauen und selbst Feindseligkeit entgegenbrachte, war er doch in durchaus ruhiger, freudiger Stimmung. Im Kontor war es schwül und unsauber. Nechljudow begab sich in den Hof und wollte in den Garten gehen, doch gedachte er jener Nacht vor zehn Jahren, des Fensters der Mädchenstube, des hinteren Flurs – und es war ihm peinlich, an diesem durch so frevelhafte Erinnerungen entweihten Orte umherzuzugehen. Er setzte sich auf die Treppe, und während er den die warme Luft durchziehenden kräftigen Duft des jungen Birkenlaubes einatmete, blickte er lange nach dem sich in immer tieferes Dunkel hüllenden Garten und horchte auf die Mühle, auf die Nachtigallen und noch irgend einen andern Vogel, der im Gebüsche neben der Treppe sein monotones Pfeifen ertönen ließ. In der Wohnung des Verwalters wurde das Licht ausgelöscht; im Osten, hinter der Scheune, ging mit silbernem Schein hell leuchtend der Mond auf, greller und greller zuckte das Wetterleuchten über dem dicht verwachsenen, blühenden Garten und dem verfallenen Hause, in der Ferne rollte der Donner, und ein Drittel des Himmels war von schwarzem Gewölk bedeckt. Die Nachtigallen und die andern Vögel verstummten. Durch das Rauschen des Wassers an der Mühle ließ sich das Schnattern der Gänse vernehmen, dann begannen im Dorfe und auf dem Hofe des Verwalters die Hähne zu krähen, die in schwülen Gewitternächten früher als sonst zu krähen pflegen. Es gibt ein Sprichwort, daß das frühe Krähen der Hähne eine fröhliche Nacht ankündige. Für Nechljudow war diese Nacht mehr als fröhlich: es war für ihn eine freudige, glückliche Nacht. In seiner Vorstellung lebten die Eindrücke jenes glücklichen Sommers wieder auf, den er hier als ein unschuldiger Jüngling verbracht hatte, und er fühlte sich jetzt wieder ganz so, wie er nicht nur damals, sondern überhaupt in allen guten Augenblicken seines Lebens gewesen war. Er fühlte sich – nicht nur in der Erinnerung, sondern in der Wirklichkeit – ganz so, wie er damals gewesen war, als er, ein vierzehnjähriger Knabe, inbrünstig gebetet hatte, daß Gott ihm die Wahrheit offenbaren möchte, als er, noch ein Kind, weinend auf dem Schoße der Mutter gesessen, von ihr Abschied genommen und ihr versprochen hatte, stets gut zu sein und sie nie zu betrüben; er fühlte sich so, wie er gewesen, als er und Nikolenjka Irtenjew den Entschluß faßten, einander stets zu helfen, ein gutes Leben zu führen und alle Menschen nach Möglichkeit glücklich zu machen.

Er erinnerte sich jetzt, wie in Kusminskoje die Versuchung an ihn herangetreten war, und wie es ihm plötzlich leid getan hatte, das Haus und den Wald, die Wirtschaft und das Land aufzugeben, und er fragte sich, ob es ihm jetzt noch leid tue. Und es erschien ihm höchst seltsam, daß es ihm überhaupt hatte leid tun können. Er erinnerte sich alles dessen, was er heute gesehen: der Frau mit den Kindern, deren Mann im Gefängnis saß, weil er zwei Birken in seinem, Nechljudows, Walde gefällt hatte, und der entsetzlichen Matrona, die da glaubte, oder wenigstens zu glauben vorgab, daß die Mädchen ihres Standes sich zu Geliebten der Herren hergeben müßten; er erinnerte sich ihrer Äußerungen über die neugeborenen Kinder und der Art, wie diese nach dem Findelhause gebracht wurden, erinnerte sich des unglücklichen, greisenhaften, ewig lächelnden, aus Nahrungsmangel sterbenden Kindes in dem Flickenhäubchen und der schwachen, schwangeren Frau, die man für ihn, Nechljudow, arbeiten ließ, weil sie, von der Arbeit erschöpft, ihre hungrige Kuh nicht hatte von der Wiese zurückhalten können.

Der helle, fast volle Mond stieg über der Scheune empor, schwarze Schatten legten sich über den Hof, und das Eisenblech auf dem Dache des baufälligen Hauses glänzte im Mondschein. Und als wollte sie die günstige Gelegenheit, da es hell geworden, benutzen, begann die Nachtigall im Garten, die für ein Weilchen verstummt war, laut zu flöten und zu trillern.

Nechljudow erinnerte sich, wie er in Kusminskoje begonnen hatte, über sein Leben nachzudenken und die Frage, was er nun weiter tun solle, nebst all ihren Unterfragen zu entscheiden. Er erinnerte sich, wie er sich in diese Fragen verwickelt hatte und sie nicht zu entscheiden vermochte – so viele Erwägungen hatte jede einzelne von ihnen notwendig gemacht. Er legte sich jetzt wieder diese Fragen vor und wunderte sich, wie einfach alles war. Es war einfach, weil er jetzt nicht daran dachte, was aus ihm werden würde, weil ihn dies jetzt gar nicht mehr interessierte, sondern weil er nur daran dachte, was er zu tun habe. Und wie seltsam: was für ihn selbst notwendig war, konnte er auf keine Weise entscheiden, was er dagegen tun müsse um der andern willen, darüber war er keinen Augenblick im Zweifel. Er war jetzt nicht mehr darüber im Zweifel, daß er den Bauern das Land übergeben müsse. Er war nicht im Zweifel, daß er Katjuscha nicht verlassen dürfe, daß er ihr helfen und zu allem bereit sein müsse, um seine Schuld ihr gegenüber wieder gut zu machen. Er war nicht im Zweifel, daß er dieses ganze Gebiet des Gerichts- und Strafwesens, in dem er, wie er deutlich fühlte, etwas ganz anderes sah als alle andern Leute, eingehend studieren und sich darüber klar werden müsse. Was bei alledem herauskommen würde, wußte er nicht – dagegen wußte er unzweifelhaft, daß er das Erste so gut wie das Zweite und Dritte unbedingt tun müsse. Und diese feste Überzeugung stimmte ihn so freudig.

Das schwarze Gewölk war näher und näher gerückt, und man sah nicht nur ein bloßes Wetterleuchten, sondern jähe Blitze, die den ganzen Hof und das zerfallene Haus mit der zerbrochenen Vortreppe beleuchteten, und hörte den Donner, der sich schon über dem Kopfe vernehmen ließ. Alle Vögel waren verstummt – dafür begannen die Blätter zu rauschen, und der Wind kam bis an die Treppe, auf der Nechljudow saß, und bewegte sein Haar. Ein Tropfen fiel nieder, dann ein zweiter, auf den breiten Blättern der Kletten und auf dem eisernen Dache begann es zu trommeln, und die ganze Luft flammte hell auf; alles ward still, und Nechljudow hatte noch nicht Zeit gehabt, bis drei zu zählen, als gerade über seinem Kopfe ein furchtbares Krachen erdröhnte und am Himmel weiterrollte.

Nechljudow trat ins Haus.

»Ja, ja,« dachte er – »das Werk, das durch unser Leben gewirkt wird, dieses ganze Werk, der ganze Sinn dieses Werkes ist unbegreiflich und kann von mir nicht begriffen werden: warum haben die Tanten gelebt, warum ist Nikolenjka Irtenjew gestorben, und warum lebe ich? Warum war Katjuscha da? Und meine wahnsinnige Tat, mein ganzes wüstes Leben, das darauf folgte – alles das zu verstehen, das ganze Werk des Herrn zu begreifen, steht nicht in meiner Macht. Doch Seinen Willen zu tun, der in meinem Gewissen geschrieben steht – das liegt in meiner Macht, so viel weiß ich sicher! Und wenn ich ihn tue, bin ich zweifellos ruhig.«

Der Regen goß bereits in Strömen herab und floß rieselnd vom Dache in die Wassertonnen. Der Blitz erleuchtete schon seltener den Hof und das Haus. Nechljudow kehrte in das Zimmer zurück, zog sich aus und legte sich in das Bett, nicht ohne eine geheime Angst vor den Wanzen, deren Anwesenheit die von den Wänden losgerissenen, schmutzigen Tapeten vermuten ließen.

»Nein – nicht als Herr, sondern als Diener soll man sich fühlen,« dachte er, und er freute sich über diesen Gedanken.

Seine Befürchtungen betreffs der Wanzen erwiesen sich als sehr berechtigt: kaum hatte er das Licht ausgelöscht, als die Insekten sich gleich über ihn hermachten und ihm ganz fürchterlich zusetzten.

»Das Land abgeben, nach Sibirien fahren ... Flöhe, Wanzen, Unsauberkeit ... nun, wenn es schon ertragen werden muß, dann will ich's eben tragen.« Er war jedoch beim besten Willen nicht im Stande, es zu ertragen, und so setzte er sich an das offene Fenster und beobachtete still das abziehende Gewölk und den Mond, der wieder am Himmel erschienen war.


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