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35.

Die Droschke fuhr mit dem Arrestanten, an einer Feuerwache vorbei, auf den Hof des Revieramts und hielt bei einer der Anfahrten.

Auf dem Hofe wuschen die Feuerwehrleute mit aufgestreiften Ärmeln, laut sprechend und lachend, ein Wagengestell. Sobald die Droschke hielt, ward sie von etlichen Polizisten umringt, die den leblosen Körper des Arrestanten unter den Achseln und an den Beinen faßten und ihn von der unter ihm knarrenden Droschke hoben.

Der Polizist, der den Arrestanten gebracht hatte, war aus der Droschke gestiegen, schwenkte seinen steif gewordenen Arm ein paarmal hin und her, nahm dann die Mütze ab und bekreuzte sich. Der Tote wurde durch eine Tür getragen und dann eine Treppe hinaufgebracht. Nechljudow folgte den Trägern. In dem kleinen, schmutzigen Raume, nach dem man den Toten brachte, standen vier Betten. Auf zweien der Betten saßen zwei Kranke in Schlafröcken; der eine hatte einen schiefen Mund und einen umwickelten Hals, der andere war ein Schwindsüchtiger. Zwei der Betten waren frei, und auf das eine legte man den Arrestanten. Ein kleiner Mensch mit blitzenden Augen und beständig zuckenden Augenbrauen, in bloßen Unterkleidern und Strümpfen, kam mit raschen, kleinen Schritten auf den hereingebrachten Gefangenen zu, blickte zuerst auf ihn und dann auf Nechljudow und brach in ein lautes Gelächter aus. Es war ein Irrsinniger, der sich im Vorzimmer der Wache aufzuhalten pflegte.

»Sie wollen mich erschrecken,« sagte er – »aber es wird ihnen nicht gelingen!«

Gleich nach den Polizisten, die den Toten hereingebracht hatten, trat der Revieraufseher mit dem Feldscher ein.

Der Feldscher ging an den Toten heran, befühlte die mit Sommersprossen bedeckte, noch weiche, doch schon die bleiche Farbe des Todes tragende Hand des Arrestanten, hielt sie eine Zeitlang fest und ließ sie dann los. Sie fiel leblos auf den Leib des Toten zurück.

»Der ist fertig,« sagte der Feldscher mit einem Kopfnicken; doch öffnete er, offenbar, um der Vorschrift zu genügen, das nasse, grobe Hemd des Toten, strich sich das krause Haar vom Ohr zurück und legte dieses an die gelbliche, unbewegliche, hohe Brust des Arrestanten. Alle schwiegen. Der Feldscher richtete sich auf, nickte nochmals mit dem Kopfe und berührte darauf mit dem Finger zuerst das eine und dann das andere Lid über den offenstehenden, starren blauen Augen.

»Mich könnt ihr nicht erschrecken, mich könnt ihr nicht erschrecken!« sprach der Irrsinnige, der die ganze Zeit über in der Richtung nach dem Feldscher hin ausgespien hatte.

»Was ist mit ihm?« fragte der Revieraufseher.

»Was soll sein?« versetzte der Feldscher. »In die Totenkammer muß er gebracht werden.«

»Stimmt die Sache auch?« fragte der Revieraufseher.

»Ich meine doch, das sieht man,« sagte der Feldscher, während er die offene Brust des Toten bedeckte. »Ich kann aber auch nach Matwjej Iwanytsch schicken; er kann sich ihn ja ansehen. Hol' ihn mal, Petrow!« sagte der Feldscher und trat von dem Toten hinweg.

»Er kommt nach der Totenkammer,« sagte der Revieraufseher. »Und du kommst in die Kanzlei, um die Sache zu Protokoll zu geben,« fügte er, zu dem Eskortesoldaten gewandt, hinzu, der die ganze Zeit über nicht von der Seite des Arrestanten gewichen war.

»Zu Befehl,« antwortete der Eskortesoldat.

Die Polizisten nahmen den Toten auf und trugen ihn wieder die Treppe hinunter. Nechljudow wollte ihnen folgen, doch der Irrsinnige hielt ihn zurück.

»Sie sind doch nicht mit in der Verschwörung? Dann geben Sie mir eine Zigarette,« sagte er.

Nechljudow holte sein Zigarettenetui heraus und reichte es ihm hin. Der Irrsinnige begann, in einem fort die Augenbrauen emporziehend, ihm hastig zu erzählen, daß man ihn mit allerhand Suggestionen quäle.

»Sie sind nämlich alle gegen mich und foltern und peinigen mich durch ihre Medien ...«

»Verzeihen Sie,« sagte Nechljudow und ohne ihn zu Ende zu hören, ging er auf den Hof hinaus, um in Erfahrung zu bringen, wohin man den Toten bringen würde.

Die Polizisten hatten mit ihrer Last bereits den ganzen Hof durchschritten und betraten soeben die Einfahrt des Kellergeschosses. Nechljudow wollte an sie herangehen, doch der Revieraufseher herrschte ihn an:

»Was wollen Sie da?«

»Nichts,« antwortete Nechljudow.

»Nichts? Dann gehen Sie Ihrer Wege!«

Nechljudow fügte sich und begab sich zu seiner Droschke. Der Kutscher schlief. Nechljudow weckte ihn und fuhr nach dem Bahnhof weiter.

Er war noch keine hundert Schritte gefahren, als er einem der Lastfuhrwerke des Gefangenentransports begegnete, neben dem gleichfalls ein Eskortesoldat mit dem Gewehr auf der Schulter daherschritt, und auf dem ein zweiter, anscheinend bereits gestorbener Arrestant lag. Er lag in dem Wagen auf dem Rücken, und sein rasierter Kopf mit dem schwarzen Bärtchen und der auf die Nase heruntergeglittenen kuchenförmigen Mütze zitterte und wackelte bei jedem Stoß des Fuhrwerks hin und her. Der Kutscher des Lastwagens ging, das Pferd lenkend, in seinen dicken Stiefeln neben dem Fuhrwerk her. Hinter dem Wagen folgte ein Polizist. Nechljudow berührte die Schulter seines Kutschers.

»Was machen die Leute nur?« sagte der Kutscher, während er das Pferd anhielt.

Nechljudow stieg aus der Droschke und ging, an der Feuerwache vorüber, hinter dem Lastfuhrwerk zum zweiten Male nach dem Hofe der Revierwache. Die Feuerwehrleute auf dem Hofe waren bereits mit dem Waschen des Wagengestells fertig, und an ihrem Platze stand der Brandmajor, ein Mann von großer Figur und starkem Knochenbau, in einer blaugeränderten Mütze; er hatte die Hände in den Taschen und sah mit strengem Blick auf einen Falbenhengst mit feistem Halse, den ein Feuerwehrmann vor ihm auf und ab führte. Der Hengst lahmte auf dem einen Vorderbein, und der Brandmajor sprach ärgerlich irgendetwas zu einem neben ihm stehenden Tierarzt.

Auch der Revieraufseher stand dabei. Als er den zweiten Toten erblickte, trat er auf den Lastwagen zu.

»Wo habt ihr ihn aufgelesen?« fragte er und schüttelte mißbilligend den Kopf.

»Auf der Alten Gorbatowskaja,« antwortete der Polizist, der den Wagen begleitete.

»Ein Gefangener?« fragte der Brandmajor.

»Zu Befehl.«

»Das ist heute schon der zweite,« sagte der Revieraufseher.

»Eine schöne Wirtschaft! Es ist aber auch ein schlimmes Volk,« sagte der Brandmajor, und zu dem Feuerwehrmann, der den lahmen Falben auf und ab führte, sprach er laut: »Führ' das Tier in den Eckstall! Ich will dich lehren, Halunke, hier die Pferde lahm zu fahren, die dreimal so viel wert sind wie du, Schelm!«

Der Tote wurde von den Polizisten ebenso wie der erste vom Wagen gehoben und nach dem Einlieferungszimmer gebracht. Nechljudow folgte ihnen wie hypnotisiert.

»Was wollen Sie hier?« fragte ihn ein Polizist.

Er ging, ohne zu antworten, dahin, wohin man den Toten trug.

Der Irrsinnige saß auf einem der Betten und rauchte gierig die Zigarette, die ihm Nechljudow gegeben hatte.

»Ah, Sie sind zurückgekommen,« sagte er und begann laut zu lachen. Als er den Toten sah, runzelte er die Stirn. »Wieder einer,« sagte er. »Was soll ich mit ihnen? Ich bin doch kein Kind, nicht wahr?« wandte er sich mit fragendem Lächeln an Nechljudow.

Nechljudow hatte inzwischen den Toten betrachtet, dessen Anblick ihm jetzt niemand mehr entzog. Er konnte nun sein Gesicht, das vorher mit der Mütze bedeckt war, ganz deutlich sehen. So häßlich der erste Arrestant gewesen war, so auffallend hübsch und wohlgestaltet war dieser zweite. Es war ein Mensch, der in der vollen Blüte seiner Kraft gestanden hatte. Der zur Hälfte rasierte Kopf entstellte ihn zwar, doch die nicht sehr hohe, gewölbte Stirn mit den leichten Vorsprüngen über den schwarzen, jetzt leblos starrenden Augen war ebenso schön, wie die nicht große, leicht gebogene Nase über dem feinen, schwarzen Schnurrbart. Die jetzt ins Bläuliche schimmernden Lippen waren zu einem Lächeln verzogen; das kleine Bärtchen rahmte die untere Partie des Gesichtes nur eben ein, und an der rasierten Seite des Kopfes war ein zierliches Ohr zu sehen. Der Ausdruck des Gesichts war ruhig, streng und gut. Man sah es diesem Gesichte an, welche Möglichkeiten geistiger Entwicklung in diesem Menschen vernichtet waren. Man sah es an den feinen Knochen der Hände und der zusammengeschmiedeten Beine wie an den gutentwickelten Muskeln der wohlproportionierten Glieder, was für ein schönes, kraftvolles, gewandtes Menschentier man hier vor sich hatte – ein Tier, in seiner Art weit edler und vollkommener als jener falbe Hengst, über dessen Lahmheit der Brandmajor so arg in Zorn geraten war. Und doch hatte man diesen hier zu Tode gequält, und es fand sich nicht nur niemand, der ihn auch nur als ruiniertes Arbeitstier, geschweige denn als Menschen bedauert hätte. Das einzige Gefühl, das sein Tod bei allen Beteiligten hervorrief, war der Ärger über die Scherereien, mit denen die Wegräumung dieses Körpers, der bald in Verwesung übergehen würde, verbunden war.

Im Einlieferungszimmer erschienen der Arzt mit dem Feldscher und der Reviervorsteher. Der Arzt war ein kräftiger, untersetzter Mann in einem Jackett aus leichtem Sommerstoff und ebensolchen engen Beinkleidern, die seine Schenkel prall hervortreten ließen. Der Reviervorsteher war ein kleiner, dicker Mensch mit kugelrundem, rotem Gesichte, das infolge seiner Gewohnheit, die Backen aufzublasen und dann die Luft langsam auszustoßen, noch runder erschien. Der Arzt setzte sich auf das Bett zu dem Toten, wie es der Feldscher bei dem ersten Arrestanten gemacht hatte, betastete dann die Hände, behorchte das Herz und erhob sich, seine Beinkleider zurechtziehend.

»Mehr tot als dieser da kann man nicht sein,« sagte er.

Der Reviervorsteher nahm den Mund voll Luft und stieß sie langsam aus.

»Aus welchem Gefängnis?« wandte er sich an den Eskortesoldaten.

Der Soldat gab ihm Antwort und wies dann nach den Fußfesseln, die der Tote noch trug.

»Ich werde sie ihm abnehmen lassen; es gibt ja dafür, Gott sei Dank, Schmiede genug,« sagte der Reviervorsteher, blies wieder die Backen auf und ging, langsam die Luft ausstoßend, nach der Tür.

»Woher kommt das nur?« wandte sich Nechljudow an den Arzt.

»Was denn? Daß die Leute an Hitzschlag sterben? Kein Wunder – den ganzen Winter sitzen sie ohne Bewegung, ohne Licht im Loch, und mit einem Mal kommen sie dann in die Sonne, noch dazu an einem Tage wie heute, und marschieren im Haufen drauf los. Die Luftzufuhr fehlt – na, und da gibt's eben einen Hitzschlag.«

»Warum läßt man sie dann aber hinaus?«

»Da müssen Sie schon an zuständiger Stelle fragen. Wer sind Sie überhaupt?«

»Ich? Ein Privatmann ...«

»So–o! Empfehle mich, habe leider keine Zeit,« sagte der Arzt, zog seine Beinkleider zurecht und begab sich zu den Betten der Kranken.

»Na, wie geht es dir?« wandte er sich an den blassen Mann mit dem schiefen Munde und dem umwickelten Halse.

Der Irrsinnige saß inzwischen auf seinem Bett; er hatte aufgehört zu rauchen und spuckte in der Richtung nach dem Arzte aus.

Nechljudow ging auf den Hof hinunter und schritt an den Feuerwehrpferden und der Schildwache in dem Messinghelm vorüber durch den Torweg. Er weckte seinen wieder eingeschlafenen Kutscher und fuhr nach dem Bahnhof.


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