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20.

Am Tage darauf sollte die Angelegenheit der Maslowa zur Verhandlung kommen, und so begab sich Nechljudow nach dem Senat. Der Advokat traf mit ihm an der pompösen Auffahrt des Senatsgebäudes zusammen, wo bereits mehrere Equipagen hielten. Auf der prächtigen Paradetreppe gelangten sie nach dem zweiten Stockwerk, worauf sich der Advokat, der hier alle Wege und Stege kannte, nach einer Tür zur Linken wandte, auf der die Jahreszahl der Einführung der Gerichtsreform auf gemalt war. In dem ersten, langen Zimmer legte Fanarin seinen Paletot ab, erfuhr dann von dem Schweizer, daß die Senatoren sich bereits versammelt hätten und der letzte soeben vorbeigegangen sei, und begab sich so, wie er war, im Frack und mit der weißen Krawatte über der weißen Brust, voll heiterer Zuversicht in das folgende Zimmer. In diesem stand rechts ein großer Schrank, dann folgte ein Tisch, während links eine Wendeltreppe hinaufführte, auf der soeben ein eleganter Beamter in Vizeuniform, mit einem Portefeuille unter der Achsel herabgeschritten kam. In dem Zimmer lenkte ein alter Herr von patriarchalischem Aussehen, mit langem weißem Haar, in einer kurzen Jacke und grauen Beinkleidern, die Aufmerksamkeit auf sich; neben ihm standen zwei Diener in ganz besonders ehrerbietiger Haltung.

Der alte Herr mit dem weißen Haar trat in den großen Schrank hinein und verschwand darin. In diesem Augenblick bemerkte Fanarin einen Kollegen – einen Advokaten im Frack, mit weißer Krawatte, mit dem er sogleich eine lebhafte Unterhaltung anknüpfte.

Nechljudow betrachtete inzwischen die übrigen im Zimmer anwesenden Personen. Es waren ihrer gegen fünfzehn, darunter zwei Damen, eine jüngere im Pincenez und eine andere, grauhaarige. Die Sache, die zunächst heute zur Verhandlung kommen sollte, betraf ein Pressedelikt, und so war das Publikum, das sich versammelt hatte, zahlreicher als sonst. Es waren zumeist Angehörige der Journalistenwelt.

Der Nuntius, ein rotwangiger, stattlicher Mann in einer prächtigen Uniform, kam mit einem Zettel in der Hand auf Fanarin zu und fragte ihn, in welcher Sache er anwesend sei, und als er hörte, er sei wegen des Prozesses der Maslowa gekommen, machte er sich eine Notiz und entfernte sich. In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Schranks, und der alte Herr mit dem patriarchalischen Aussehen trat heraus, doch nicht mehr in der kurzen Jacke, sondern in einer glänzenden, bunten Uniform, die ihn einem Vogel ähnlich machte.

Diese Uniform brachte augenscheinlich den Alten selbst in Verlegenheit, denn er ging rasch – weit rascher, als er sonst zu gehen pflegte – durch die Tür, die der Eingangstür gegenüberlag.

»Das ist Beh, ein höchst ehrenwerter Mann,« sagte Fanarin zu Nechljudow, und nachdem er ihn mit seinem Kollegen bekannt gemacht hatte, erzählte er von dem nach seiner Meinung sehr interessanten Preßprozesses, der sogleich beginnen mußte.

Die Verhandlung begann in der Tat sehr bald, und Nechljudow ging mit dem Publikum zusammen nach links in den Sitzungssaal. Alle, auch Fanarin, gingen hinter die Barriere, auf die für das Publikum bestimmten Plätze. Nur der Petersburger Advokat trat weiter vor, an das Pult vor der Barriere.

Der Sitzungssaal des Senats war kleiner als der Saal des Bezirksgerichts, er war auch einfacher eingerichtet und unterschied sich im übrigen von jenem nur dadurch, daß der Tisch, an dem die Senatoren saßen, nicht mit grünem Tuche, sondern mit himbeerfarbenem Samt überzogen und mit goldener Borte besetzt war; die Attribute der Gerechtigkeit waren jedoch dieselben, wie man sie gleichmäßig an allen Stätten der Justiz findet, nämlich der »Gerichtsspiegel«, das Heiligenbild und das Porträt des Monarchen. Ebenso feierlich wie im Bezirksgericht verkündete der Nuntius: »Der Gerichtshof kommt!« – ebenso wie dort erhoben sich auch hier alle Anwesenden, ebenso traten die Senatoren in ihren Uniformen in den Saal, setzten sich ebenso auf die Sessel mit den hohen Rückenlehnen, stützten ebenso die Ellbogen auf den Tisch und suchten ebenso eine natürliche, ungezwungene Haltung anzunehmen.

Es waren vier Senatoren anwesend. Den Vorsitz führte Nikitin, ein Mann mit glattrasiertem, schmalem Gesicht und stählernen Augen. Dann kam Wolff, der bedeutungsvoll die Lippen zusammenkniff und mit den kleinen, weißen Händen in den Prozeßakten blätterte. Als dritter folgte Skoworodnikow, ein dicker, schwerfälliger Mann mit pockennarbigem Gesichte, der gelehrte Jurist des Kollegiums, und endlich als vierter Beh, der alte Herr von patriarchalischem Aussehen, der zuletzt gekommen war. Zugleich mit den Senatoren kam der Obersekretär und der Oberstaatsanwaltsgehilfe, ein junger Mann mittlerer Größe, hager, glattrasiert, mit sehr dunklem Teint und melancholischen schwarzen Augen. Nechljudow erkannte in ihm sogleich, trotz der seltsamen Uniform und eines Zeitraumes von sechs Jahren, in dem er ihn nicht gesehen, einen seiner besten Freunde aus der Studentenzeit wieder.

»Heißt der Gehilfe des Oberstaatsanwalts nicht Selenin?« fragte er den Advokaten.

»Ja, warum?«

»Ich kenne ihn gut, er ist ein vortrefflicher Mensch ...«

»Und ein vortrefflicher Oberstaatsanwaltsgehilfe, sehr tüchtig! An den hätten wir uns wenden sollen,« sagte Fanarin.

»Er wird jedenfalls gewissenhaft vorgehen,« sagte Nechljudow, der seines Freundschaftsverhältnisses mit Selenin und seiner liebenswürdigen Eigenschaften, seiner Lauterkeit, Ehrlichkeit und Anständigkeit – im besten Sinne dieses Wortes – gedachte.

»Jetzt ist's leider zu spät,« flüsterte Fanarin, dessen Aufmerksamkeit bereits ganz durch den soeben begonnenen Vortrag über den Preßprozeß in Anspruch genommen war. Es wurde über eine Beschwerde gegen das Urteil des Appellationsgerichts verhandelt, das die Entscheidung des Bezirksgerichts, dem Antrage der Beschwerdeführer entgegen, nicht aufgehoben hatte.

Nechljudow begann zuzuhören und gab sich alle Mühe, die Bedeutung dessen, was sich da vor ihm abspielte, zu begreifen, aber ebenso wie im Bezirksgericht bestand die Hauptschwierigkeit für das Verständnis der Sache darin, daß nicht davon die Rede war, was naturgemäß als die Hauptsache erschien, sondern von völlig nebensächlichen Dingen. Es handelte sich um einen Zeitungsartikel, in dem dem Direktor einer Aktiengesellschaft eine betrügerische Handlung vorgeworfen wurde. Als wesentlich und wichtig, so hätte man meinen sollen, hätte hier nur eins erscheinen müssen: ob es wahr ist, daß der Direktor der Aktiengesellschaft seine Vollmachtgeber bestiehlt, und wie es anzufangen ist, daß er aufhört, sie zu bestehlen. Davon war jedoch überhaupt nicht die Rede. Es wurde vielmehr nur davon gesprochen, ob der Herausgeber der Zeitung gesetzlich berechtigt war, den betreffenden Feuilletonartikel abzudrucken oder nicht, und welches Vergehens er sich durch den Abdruck schuldig gemacht hatte, ob einer bloßen Beleidigung oder einer Verleumdung, ob ferner in der Beleidigung auch schon die Verleumdung oder in der Verleumdung die Beleidigung stecke, und noch so dies und das, was für einen schlichten Menschenverstand schwer verständlich war.

Das eine jedoch begriff Nechljudow ganz klar, daß der Senator Wolff, der den Bericht über die Sache erstattete, so eifrig er ihm gestern darzulegen versucht hatte, daß der Senat auf den Kern der Sache nicht eingehen dürfe, gleichwohl in der vorliegenden Verhandlung seinen Bericht ganz offenkundig darauf zugeschnitten hatte, daß das Urteil des Appellationsgerichts aus inhaltlichen Gründen zu kassieren sei, und daß Selenin, ganz im Gegensatz zu seiner sonstigen charakteristischen Zurückhaltung, auffallend leidenschaftlich sich in entgegengesetztem Sinne aussprach. Das leidenschaftliche Auftreten des sonst so zurückhaltenden Selenin, über das Nechljudow sich jetzt so sehr wunderte, hatte seinen Grund darin, daß er den Direktor der Aktiengesellschaft als einen in Geldfragen skrupellosen Mann kannte und überdies zufällig erfahren hatte, daß Wolff noch ganz kurz vor der Verhandlung im Senat von dem Profitmacher zu einem glänzenden Diner geladen war. Als nun Wolff jetzt, zwar nur mit aller Vorsicht, aber doch immerhin mit handgreiflicher Parteilichkeit seinen Bericht erstattete, verlor Selenin seine Fassung und brachte seine Meinung in einer für eine so alltägliche Sache allzu temperamentvollen Form zum Ausdruck. Seine Worte hatten Wolff offenbar verletzt: er wurde rot, zuckte mit den Achseln, gab durch stummes Mienenspiel seiner Verwunderung Ausdruck und ging würdevoll, mit dem Ausdruck der Kränkung, zugleich mit den übrigen Senatoren nach dem Beratungszimmer.

»Wegen welcher Sache sind Sie eigentlich hier?« fragte der Nuntius nochmals Fanarin, als die Senatoren sich entfernt hatten.

»Ich sagte Ihnen doch schon: wegen der Sache der Maslowa,« versetzte Fanarin.

»Ganz recht. Die Sache kommt heute zur Verhandlung. Aber ...«

»Was denn?« fragte der Advokat.

»Ja, sehen Sie – diese Sache sollte ohne die Parteien verhandelt werden, so daß die Herren Senatoren nach der Urteilsfällung nicht wieder herauszukommen brauchten. Aber ... ich will es melden ...«

»Ja – was denn? Wieso denn?«

»Nichts, nichts, ich will es melden,« sagte der Nuntius und machte sich eine Notiz auf seinem Blatt Papier.

Die Senatoren hatten tatsächlich beabsichtigt, nach Erledigung des Verleumdungsprozesses alle übrigen Sachen, darunter auch die Beschwerde der Maslowa, bei Tee und Zigaretten zu erledigen, ohne erst das Beratungszimmer zu verlassen.


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