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30.

Als Nechljudow nach Hause kam und den Zettel seiner Schwester auf dem Schreibtisch vorfand, begab er sich sogleich zu ihr. Es war am Abend. Ignatij Nikiforowitsch ruhte im Zimmer nebenan aus, und Natalia Iwanowna empfing den Bruder allein. Sie trug ein schwarzseidenes Kleid mit eng anliegender Taille und einer roten Schleife an der Brust; ihr schwarzes Haar war nach der Mode toupiert und frisiert. Sie suchte sich offenbar ein jugendliches Aussehen zu geben, um ihrem Manne, der mit ihr in gleichem Alter stand, zu gefallen. Als sie den Bruder erblickte, sprang sie vom Diwan auf und ging ihm mit raschem Schritt, während ihre seidenen Röcke rauschten, entgegen. Sie küßten sich und sahen einander lächelnd an. Es vollzog sich zwischen ihnen jener geheimnisvolle, in Worten nicht auszudrückende Austausch von Blicken, in dem alles wahr und aufrichtig war, und dem dann der Austausch von Worten folgte, in denen die Wahrheit schon fehlte. Sie hatten sich seit dem Tode der Mutter nicht gesehen.

»Du bist stärker geworden und siehst jünger aus,« sagte er.

Ihre Lippen kräuselten sich vor Vergnügen.

»Und du bist magerer geworden.«

»Nun, was macht Ignatij Nikiforowitsch?« fragte Nechljudow.

»Er hat sich ein wenig hingelegt. Er hat die ganze Nacht nicht geschlafen.«

Sie hätten sich so mancherlei zu sagen gehabt, aber ihre Worte blieben nichtssagend, und ihre Blicke drückten nur aus, daß das, was sie sich hätten sagen sollen, ungesagt blieb.

»Ich bin bei dir gewesen,« sagte sie.

»Ja, ich weiß es. Ich bin aus der alten Wohnung fortgezogen. Sie war mir zu groß, und ich fühlte mich darin einsam und gelangweilt. Von den Sachen brauche ich nichts, du kannst alles für dich nehmen – alle Möbel usw.«

»Ja, Agrafena Petrowna sagte es mir bereits. Ich bin dort gewesen. Ich danke dir bestens. Aber ...«

In diesem Augenblick brachte der Hotelkellner das silberne Teeservice herein.

Sie schwiegen, während der Lakai die Tassen hinstellte. Natalia Iwanowna setzte sich in den Lehnstuhl dem Tischchen gegenüber und schüttete schweigend den Tee ein. Auch Nechljudow schwieg.

»Nun, wie liegen die Dinge, Dmitrij? Ich weiß alles,« sagte Natascha dann in entschiedenem Tone und sah ihn an.

»Ich freue mich, daß du alles weißt.«

»Kannst du wirklich noch hoffen, sie zu bessern, nach einem solchen Leben?« sagte Natalia Iwanowna.

Er saß, ohne sich aufzustützen, in gerader Haltung auf einem kleinen Stuhle und hörte ihr aufmerksam zu, in dem Bemühen, sie richtig zu verstehen und ihr klar zu antworten. Die frohe Stimmung, die das Wiedersehen mit der Maslowa in ihm hervorgerufen hatte, erfüllte noch immer seine Seele mit stiller Zufriedenheit und mit Wohlwollen gegen alle Menschen.

»Nicht sie will ich bessern, sondern mich selbst,« antwortete er.

Natalia Iwanowna seufzte.

»Es gibt doch noch andere Mittel als die Heirat,« sagte sie.

»Und ich meine, es ist so am besten; ich komme auf diese Weise in eine Welt hinein, in der ich mich nützlich machen kann.«

»Ich glaube nicht, daß du dabei glücklich werden wirst,« sagte Natalia Iwanowna.

»Nicht auf mein Glück kommt es an.«

»Gewiß nicht; aber auch sie, wenn sie überhaupt Herz hat, kann dadurch nicht glücklich werden ... ja, sie kann diese Heirat nicht einmal wünschen.«

»Sie wünscht sie auch nicht.«

»Ich verstehe, aber das Leben ...«

»Was ist's mit dem Leben? ...«

»Es verlangt etwas anderes.«

»Es verlangt nichts weiter, als daß wir tun, was wir sollen,« sagte Nechljudow, während er in ihr immer noch schönes, wenn auch um die Augen und den Mund schon mit feinen Runzeln bedecktes Gesicht sah.

»Ich verstehe das nicht,« sagte sie mit einem Seufzer.

»Die Ärmste, wie konnte sie sich so verändern!« dachte Nechljudow im stillen; er stellte sich Natascha in ihren jungen Jahren vor, als sie noch unverheiratet gewesen, und ein von erwachenden Kindheitserinnerungen eingegebenes Gefühl der Zärtlichkeit regte sich in ihm.

In diesem Augenblick trat Ignatij Nikiforowitsch ins Zimmer – wie immer, mit hoch erhobenem Kopfe und die Brust weit vorgestreckt. Sein Schritt war weich und leicht, und er lächelte, während seine Brille, seine Glatze und sein schwarzer Vollbart glänzten.

»Guten Tag, guten Tag, wie geht's Ihnen?« sagte er, indem er die Worte absichtlich unnatürlich betonte.

In der ersten Zeit nach der Verheiratung Nataschas hatten sie versucht, sich auf den Duzfuß zu stellen; doch war es schließlich beim »Sie« geblieben.

Sie reichten einander die Hand, und Ignatij Nikiforowitsch ließ sich leicht in einen Sessel sinken.

»Ich störe doch Ihre Unterhaltung nicht?«

»Nein, ich brauche das, was ich sage und tue, vor niemand zu verbergen.

Nechljudow hatte kaum dieses Gesicht und diese stark behaarten Hände erblickt, kaum diesen selbstgefälligen, gönnerhaften Ton vernommen, als seine liebenswürdige, frohe Stimmung auch sogleich verschwunden war.

»Wir sprachen eben von seinen Plänen und Absichten,« sagte Natalia Iwanowna. »Soll ich dir einschenken?« fügte sie, nach der Teekanne greifend, hinzu.

»Bitte, ja; von welchen Absichten?«

»Von meiner Absicht, mit der Arrestantenabteilung, bei der sich jene Frau befindet, vor der ich mich schuldig fühle, nach Sibirien zu gehen,« versetzte Nechljudow.

»Ich hörte, daß es nicht bei dieser Reise allein bleiben soll, daß noch andere Absichten vorliegen ...«

»Ja, ich will sie heiraten, sobald sie auf meinen Vorschlag eingeht.«

»Ei sieh doch! Vielleicht klären Sie mich über die Motive dieser Absicht auf, wenn es Ihnen nicht unangenehm ist – ich verstehe sie nämlich nicht ...«

»Die Motive sind die, daß diese Frau ... daß ihr erster Schritt auf dem Wege des Lasters ...« Nechljudow war über sich selbst böse, weil er nicht gleich den richtigen Ausdruck fand. »Die Motive sind die, daß ich der Schuldige bin, während sie die Strafe erleidet.«

»Wenn sie eine Strafe erleidet, dann ist auch anzunehmen, daß sie wohl nicht ohne Schuld ist.«

»Sie ist vollkommen unschuldig,« sagte Nechljudow und erzählte mit unnötiger Erregtheit die Geschichte der Maslowa.

»Ja, das war eine Nachlässigkeit des Vorsitzenden, die wiederum die Unüberlegtheit in der Antwort der Geschworenen verschuldete. Aber für solche Fälle ist doch der Senat da.«

»Der Senat hat eine ablehnende Antwort gegeben.«

»Dann haben jedenfalls nicht die erforderlichen Kassationsgründe vorgelegen,« sagte Ignatij Nikiforowitsch, der offenbar die allgemeine Überzeugung teilte, daß die Wahrheit und das Recht natürliche Produkte der gerichtlichen Verhandlungen seien. »Der Senat darf nicht auf den wesentlichen Kern der ihm vorliegenden Sachen eingehen. Wenn wirklich ein Rechtsirrtum begangen ward, so bleibt nur das Gnadengesuch an den Monarchen übrig.«

»Es ist eingereicht worden, doch ist die Wahrscheinlichkeit eines Erfolges verschwindend gering. Man wird Erkundigungen im Ministerium einziehen, das Ministerium wird den Senat befragen, und der Senat wird einfach auf seine Entscheidung zurückgreifen. Und wie gewöhnlich wird der Unschuldige seine Strafe erleiden.«

»Erstens wird das Ministerium nicht beim Senat anfragen,« sagte Ignatij Nikiforowitsch mit herablassendem Lächeln, »sondern es wird vom Gericht die Originalakten einfordern, und wenn es einen Fehler entdeckt, wird es seine Entscheidung in entsprechendem Sinne abgeben; und zweitens werden Unschuldige nie oder nur in ganz seltenen Ausnahmefällen bestraft. Bestraft werden immer nur die Schuldigen,« sprach Ignatij Nikiforowitsch ohne Hast, mit selbstzufriedenem Lächeln.

»Ich habe Gelegenheit gehabt, mich vom Gegenteil zu überzeugen,« entgegnete Nechljudow mit einem feindseligen Gefühl gegen den Schwager. »Ich habe mich überzeugt, daß die größere Hälfte der von den Gerichten verurteilten Leute unschuldig ist.«

»Wieso denn?«

»Einfach unschuldig, im vollen Sinne dieses Wortes, wie diese Frau an der Vergiftung unschuldig ist, wie der Bauer, den ich jüngst kennen lernte, an dem Morde unschuldig ist, dessen er angeklagt ist, wie jener Sohn und jene Mutter an der Brandstiftung unschuldig waren, deretwegen sie beinahe verurteilt worden wären, während der Besitzer des niedergebrannten Gehöftes die Tat selbst begangen hatte.«

»Gewiß, versteht sich, es hat zu allen Zeiten Justizirrtümer gegeben und wird immer welche geben. Eine Einrichtung, die von Menschen begründet wurde, kann nicht vollkommen sein.«

»Fernerhin sind sehr viele unschuldig, weil sie, in einem bestimmten Kreise aufgewachsen und erzogen, die von ihnen begangenen Handlungen nicht für Verbrechen halten.«

»Verzeihen Sie, das ist nicht richtig: jeder Dieb weiß, daß der Diebstahl etwas Böses ist, daß man nicht stehlen soll, und daß der Diebstahl unsittlich ist,« sagte Ignatij Nikiforowitsch mit seinem ruhigen, selbstbewußten, ein wenig geringschätzigen Lächeln, das Nechljudow ganz besonders aufbrachte.

»Nein, er weiß es nicht; man sagt ihm: du sollst nicht stehlen, und dabei sieht und weiß er, daß die Fabrikanten seine Arbeit stehlen, indem sie einen Teil seines Lohnes einbehalten, und daß auch die Beamten der Regierung ihn unaufhörlich bestehlen.«

»Das ist schon mehr Anarchismus,« sagte Ignatij Nikiforowitsch ruhig, die Bedeutung der Worte seines Schwagers definierend.

»Ich weiß nicht, was es ist, ich sage nur, wie es ist,« fuhr Nechljudow fort. »Er weiß, daß die Beamten ihn bestehlen. Er weiß, daß wir, die Gutsbesitzer, uns zu Herren des Grund und Bodens gemacht haben, der Gemeineigentum sein sollte, und ihn dann, wenn er auf dem Lande, das wir ihm wie den andern gestohlen haben, sich Reisig einsammelt, um seinen Ofen zu heizen, ins Gefängnis sperren und ihm einzureden suchen, daß er der Dieb sei.«

»Ich verstehe das nicht – und soweit ich es verstehe, bin ich nicht damit einverstanden. Der Grund und Boden kann unmöglich niemandes Eigentum sein. Wenn Sie ihn jetzt verteilen,« sagte Ignatij Nikiforowitsch in der vollen, ruhigen Überzeugung, daß Nechljudow ein Sozialist sei, daß der Sozialismus auf eine gleichmäßige Verteilung des Grund und Bodens unter alle Menschen hinauslaufe, und daß eine solche Verteilung höchst töricht und von ihm mit Leichtigkeit zu widerlegen sei – »wenn Sie ihn jetzt gleichmäßig verteilen, wird er morgen wieder in die Hände der Fleißigeren und Tüchtigeren übergehen ...«

»Niemand denkt daran, den Grund und Boden an alle gleichmäßig zu verteilen. Der Grund und Boden soll niemandes Eigentum sein, soll kein Gegenstand des Kaufs und Verkaufs noch eines Leihvertrages sein.«

»Das Eigentumsrecht ist etwas dem Menschen Angeborenes. Ohne das Recht des Eigentums wird niemand ein Interesse an der Bearbeitung des Grund und Bodens haben. Vernichten Sie das Eigentumsrecht, und wir kehren in den Zustand der Wildheit zurück,« versetzte Ignatij Nikiforowitsch in überlegenem Tone.

»Ganz im Gegenteil: dann erst wird das Land nicht unbenutzt daliegen wie jetzt, wo die Grundbesitzer denjenigen den Boden vorenthalten, die ihn ausnutzen möchten, während sie selbst sich auf das Ausnützen nicht verstehen.«

»Aber, Dmitrij Iwanowitsch, hören Sie: das ist ja vollkommener Wahnsinn! Ist es denn möglich, in unserer Zeit das Grundeigentum zu vernichten? Ich weiß, das ist Ihr altes Steckenpferd. Aber lassen Sie mich es offen heraussagen ...« Ignatij Nikiforowitsch wurde blaß, und seine Stimme begann zu zittern – offenbar ging diese Frage ihm sehr nahe. »Ich würde Ihnen raten, diese Frage sehr genau zu überlegen, bevor Sie an ihre praktische Lösung herantreten!«

»Sie sprechen von meinen persönlichen Angelegenheiten?«

»Ja. Ich bin der Meinung, daß wir alle, die wir eine gewisse soziale Stellung innehaben, die Pflichten tragen müssen, die sich aus dieser Stellung ergeben, daß wir die Lebensbedingungen des Standes aufrecht erhalten müssen, in dem wir geboren wurden, und sie so, wie wir sie von unseren Vätern ererbten, auch wieder auf unsere Kinder weiter vererben.«

»Ich halte es für meine Pflicht ...«

»Gestatten Sie –« fuhr Ignatij Nikiforowitsch fort, ohne sich unterbrechen zu lassen – »ich spreche nicht in meinem Interesse oder in dem Interesse meiner Kinder. Das Vermögen meiner Kinder ist sichergestellt, und ich verdiene so viel, daß wir anständig leben können, und meine Kinder werden, wie ich hoffe, ebenso leben können. Wenn ich daher gegen Ihre – gestatten Sie mir den Ausdruck – nicht ganz reiflich erwogene Handlungsweise Protest erhebe, so geschieht das nicht auf Grund persönlicher Interessen, sondern weil ich mit Ihnen im Prinzip nicht übereinstimme. Ich würde Ihnen raten, die Sache noch einmal in Erwägung zu ziehen, darüber zu lesen ...«

»Nun, überlassen Sie mir es schon selbst, über meine Angelegenheiten zu entscheiden und meine Lektüre nach meinem eigenen Geschmack zu wählen,« sagte Nechljudow erblassend. Er fühlte, daß seine Hände kalt wurden, daß er seine Selbstbeherrschung verlor – und er schwieg und griff nach seinem Glase, um einen Schluck Tee zu trinken.


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