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28.

Es war nicht ausgeschlossen, daß die Maslowa schon mit dem ersten Gefangenentransport fortkam, und so traf denn Nechljudow seine Vorbereitungen zur Abreise. Er hatte jedoch so viel zu tun, daß er das Gefühl hatte, nie mit seinen Geschäften fertig werden zu können, so viel freie Zeit er auch hatte. Es ging ihm jetzt gerade umgekehrt wie früher. Früher mußte er sich immer den Kopf darüber zerbrechen, was er tun solle, und der Gegenstand seines Tuns und seines ganzen Interesses war stets ein und derselbe, nämlich: Dmitrij Iwanowitsch Nechljudow. Aber obschon alle seine Lebensinteressen sich auf diesen einen Dmitrij Iwanowitsch konzentrierten, hatte ihn doch alles, was er tat und trieb, geärgert und gelangweilt. Jetzt bezog sich alles, was er tat, auf andere Menschen, und nicht auf Dmitrij Iwanowitsch – und nun war ihm mit einem Mal all sein Tun interessant und anziehend, und er war nie verlegen um eine Beschäftigung. Ja noch mehr: während er früher, als er sich noch ausschließlich mit den Angelegenheiten des Dmitrij Iwanowitsch beschäftigt hatte, stets Ärger und Verdruß empfunden hatte, versetzte die Beschäftigung mit fremden Angelegenheiten ihn zumeist in eine freudige Stimmung.

Die Angelegenheiten, die Nechljudow zu jener Zeit in Anspruch nahmen, zerfielen im wesentlichen in drei Gruppen. Er hatte sie selbst mit seiner gewohnten Pedanterie so eingeteilt und dementsprechend die darauf bezüglichen Schriftstücke in drei verschiedenen Portefeuilles untergebracht.

Die erste Angelegenheit betraf die Maslowa und die Hilfe, die er ihr zu bringen gedachte. Es handelte sich hierbei hauptsächlich um die Einreichung und Befürwortung des Gnadengesuches an den Monarchen und die Vorbereitungen zur Reise nach Sibirien.

Die zweite Angelegenheit war die Ordnung seiner Gutsverhältnisse. In Panowo war den Bauern das Land unter der Bedingung überlassen worden, daß sie zur Bestreitung ihrer gemeinsamen bäuerlichen Bedürfnisse eine Rente zahlen sollten. Um nun dieser Abmachung die nötige Rechtskraft zu geben, mußte ein Vertrag aufgesetzt und unterschrieben werden. In Kusminskoje lag die Sache noch so, wie er sie bei seiner letzten Anwesenheit geordnet hatte: das Geld für die Landpacht sollte er erhalten, doch waren die Zahlungstermine noch festzusetzen, und außerdem war noch zu bestimmen, wieviel von dem Pachtertrage er zu seinem Lebensunterhalt gebrauchen würde, und wieviel den Bauern zur Bestreitung ihrer gemeinsamen Bedürfnisse verbleiben sollte. Da er nicht wußte, wie hoch die Kosten sich belaufen würden, die ihm die bevorstehende Fahrt nach Sibirien verursachen würde, wollte er auf diese Einkünfte noch nicht ganz verzichten, zumal er sie ohnedies schon um die Hälfte vermindert hatte.

Die dritte Angelegenheit war seine Fürsorge für die Gefangenen, die sich immer häufiger an ihn um Hilfe wandten. Als er sich mit diesen seinen Klienten in Verbindung setzte, war er anfangs immer gleich voll Eifer ans Werk gegangen, um ihr Los zu erleichtern; dann aber waren so viele Hilfesuchende erschienen, daß es ihm unmöglich wurde, ihnen allen zu helfen – und dies eben hatte ihn noch auf eine vierte Angelegenheit gebracht, die ihn in letzter Zeit mehr als alle übrigen beschäftigte.

Diese vierte Angelegenheit bestand in der Entscheidung der Frage: was ist, wozu dient und wie entstand diese seltsame Institution, die man das Strafgesetz nennt, als dessen Produkt dieses Gefängnis, mit dessen Bewohnern er zum Teil bekannt geworden, und überhaupt alle diese Einschließungsstätten, von der Peter-Pauls-Festung bis zu der Kerkerinsel Sachalin, zu erachten sind, in denen Hunderte und Tausende von Opfern dieses ihm so seltsam erscheinenden Strafgesetzes schmachten?

Aus dem persönlichen Verkehr mit den Gefangenen, aus der Unterhaltung mit den Advokaten, dem Gefängnisgeistlichen und dem Inspektor und aus den Listen der Gefangenen kam Nechljudow zu der Schlußfolgerung, daß die Gesamtheit der Gefangenen, der sogenannten »Verbrecher«, in fünf verschiedene Kategorien zerfiel. Die erste Kategorie bildeten die vollkommen Unschuldigen, die Opfer der Rechtsirrtümer, wie der vermeintliche Brandstifter Menjschow, die Maslowa und andere. Diese Kategorie war nicht sehr zahlreich – sie betrug nach den Beobachtungen des Gefängnisgeistlichen etwa sieben Prozent, aber gerade die Lage dieser Leute erregte ein besonderes Interesse. Die zweite Kategorie bildeten jene Leute, welche für Handlungen bestraft wurden, die sie unter besonderen Ausnahmeumständen, im Zorn, in der Eifersucht, im Rausch usw. begangen hatten – Handlungen, die, wie man fast mit Sicherheit behaupten konnte, unter denselben Umständen auch alle diejenigen begangen hätten, die sie richteten und bestraften. Diese Kategorie umfaßte nach Nechljudows Beobachtungen mehr als die Hälfte sämtlicher Verbrecher. Die dritte Kategorie wurde von Leuten gebildet, die für Handlungen bestraft wurden, die ihrer Meinung nach durchaus einwandfrei und sogar gut waren, die aber nach den Begriffen derjenigen, die die Gesetze verfaßt hatten, als Verbrechen galten. Zu dieser Kategorie gehörten die Leute, die heimlichen Branntweinhandel getrieben, Waren geschmuggelt, Gras gepflückt oder in den großen Waldungen der Gutsbesitzer oder der Krone Holz gesammelt hatten. Zu dieser Kategorie zählte Nechljudow auch die kaukasischen Bergbewohner, die auf Raub ausgingen, sowie die Nichtgläubigen, welche die Kirchen bestahlen.

Zu der vierten Kategorie gehörten Leute, die nach Nechljudows Meinung nur darum zu den Verbrechern gezählt wurden, weil sie in sittlicher Hinsicht höher standen als der Durchschnitt der Gesellschaft. Dahin gehörten die Sektierer, die Angehörigen der unterworfenen Völker, die für die Unabhängigkeit ihrer Nation eingetreten waren, und dahin waren auch die politischen Verbrecher, die Sozialisten und die Streikenden zu zählen, die wegen Widerstandes gegen die bestehende Gewalt verurteilt waren. Der Prozentsatz solcher Leute war nach Nechljudows Beobachtung sehr groß.

Die fünfte Kategorie endlich bildeten die Menschen, an denen die Gesellschaft weit mehr verschuldet hatte, als sie an der Gesellschaft. Das waren die Verwahrlosten, unter dem Einfluß stetiger Unterdrückung und Verführung Verkommenen, wie jener junge Mensch, der die alten Läufer gestohlen hatte, und Hunderte von anderen, die Nechljudow im Gefängnis und außerhalb desselben gesehen hatte, und die gleichsam systematisch und mit Notwendigkeit durch die Lebensverhältnisse zu solchen Handlungen getrieben waren, die man »Verbrechen« heißt. Zu diesen Leuten gehörten nach Nechljudows Beobachtung sehr viele Diebe und Mörder, deren er etliche in letzter Zeit näher kennengelernt hatte. Zu diesen Leuten zählte er nach näherer Bekanntschaft auch jene Verworfenen und gänzlich Verdorbenen, die die neuere Kriminalistenschule als Menschen von spezifischem Verbrechertypus bezeichnet, und deren Vorhandensein in der Gesellschaft als das Hauptargument für die Notwendigkeit der Strafgesetze und der Strafen angeführt wird. Diese sogenannten entarteten, verbrecherischen anomalen Typen waren nach Nechljudows Meinung gleichfalls nur Menschen, denen gegenüber die Gesellschaft weit mehr schuldig war, als sie es der Gesellschaft gegenüber waren, bei denen jedoch die Schuld der Gesellschaft zeitlich weiter zurücklag, vielleicht schon an ihren Eltern und Großeltern begangen war.

Unter diesen Leuten war Nechljudow ganz besonders ein Gewohnheitsdieb namens Ochotin aufgefallen. Er war der uneheliche Sohn einer Prostituierten, in einem Asyl für Obdachlose aufgezogen, und hatte anscheinend bis zu seinem dreißigsten Jahre nie einen Menschen mit höherer Moral als der eines Polizisten kennen gelernt. Von Jugend an war er in eine Diebesbande geraten, und dabei besaß er ein ganz ungewöhnliches komisches Talent, durch das er alle Welt für sich einzunehmen wußte. Als er Nechljudow um seine Verwendung bat, tat er es in einer höchst eigenartigen Weise, indem er sich in seiner Rede über sich selbst, über die Richter, über das Gefängnis und über alle Gesetze, ob menschlichen oder göttlichen Ursprungs, lustig machte. Ein anderer seiner Schützlinge war der schöne Fjodorow, der mit einer Bande, deren Anführer er war, einen alten Mann, einen Beamten, ermordet und ausgeraubt hatte. Fjodorow war ein Bauer – man hatte seinen Vater auf höchst ungesetzliche Art um Haus und Hof gebracht, und er selbst war Soldat geworden und verdankte seine Bestrafung der Geliebten eines Offiziers, zu der er selbst in Leidenschaft erglüht war. Er war eine anziehende, temperamentvolle Natur, ein Mensch, der um jeden Preis das Leben genießen wollte, der nie einen Menschen gesehen hatte, der sich aus irgendeinem Grunde einen Genuß versagt hätte, der nie auch nur ein Wort davon gehört hatte, daß es im Leben auch noch andere Zwecke gebe als den Genuß. Es wurde Nechljudow klar, daß beide, Ochotin wie Fjodorow, reichbegabte Naturen waren, die nur entartet und verwahrlost waren, wie auch Pflanzen, um die sich niemand kümmert, schließlich entarten und verwahrlosen. Er hatte auch einen Landstreicher und eine Frau gesehen, die durch ihren Stumpfsinn und ihre Fühllosigkeit abstoßend wirkten, doch konnte er in ihnen durchaus nicht jenen Verbrechertypus entdecken, von dem die italienische Schule spricht, vielmehr sah er in ihnen nur Menschen, die ihm persönlich unsympathisch waren, wie er auch unter den Salonleuten im Frack, in Epauletten und in Spitzenkleidern solchen begegnet war, die seine Antipathie erweckten.

Die Untersuchung der Frage nun, warum alle diese mannigfachen Kategorien von Menschen eingekerkert waren, während andere, ganz ebensolche Menschen in Freiheit umhergingen und über jene andern sogar zu Gericht saßen, bildete die vierte Angelegenheit, die zu jener Zeit Nechljudow beschäftigte.

Anfangs hoffte Nechljudow in den Büchern Antwort auf diese Fragen zu finden, und er kaufte alle Schriften, die sich irgend auf sie bezogen. Er kaufte die Bücher von Lombroso und Garofalo, von Ferri und Liszt, von Maudsley und Tarde, und er las diese Werke mit Aufmerksamkeit. Aber je weiter er in der Lektüre kam, desto mehr wurde er enttäuscht. Es ging ihm so, wie es stets solchen Leuten geht, die sich mit der Wissenschaft befassen – nicht, um eine Rolle in der Wissenschaft zu spielen, um zu schreiben, zu disputieren, zu dozieren, sondern damit sie ihnen gewisse einfache Fragen des Lebens beantworte: die Wissenschaft beantwortete ihm tausend mannigfaltige, sehr verzwickte und schwierige Fragen, die sich auf die Strafgesetzgebung bezogen, ließen aber die eine Frage, auf die er Antwort heischte, unbeantwortet. Er fragte nach einer sehr einfachen Sache: er fragte, warum und mit welchem Rechte die einen Menschen die andern einsperren, quälen, verschicken, peitschen und töten, während sie doch ganz genau ebensolche Menschen sind wie diejenigen, die sie quälen, peitschen und töten. Man antwortete ihm aber mit allerhand Auseinandersetzungen über die Frage, ob der Mensch eine Willensfreiheit besitze oder nicht? Ob man einen Menschen nach seinen Schädelmaßen usw. für einen Verbrecher halten dürfe oder nicht? Welche Rolle die Vererbung beim Verbrechen spiele? Ob es eine angeborene Unsittlichkeit gebe? Was Sittlichkeit, was Wahnsinn, Entartung, Temperament sei? Wie das Klima, die Ernährung, die Unwissenheit, die Nachahmung, der Hypnotismus, die Leidenschaften auf das Verbrechen einwirken? Was die Gesellschaft sei? Welche Pflichten sie habe? usw. usw.

Diese Erörterungen erinnerten Nechljudow an die Antwort, die ihm einmal von einem aus der Schule kommenden kleinen Knaben gegeben worden war. Nechljudow hatte den Kleinen gefragt, ob er schon buchstabieren könne. Der Kleine hatte die Frage bejaht. »Nun, dann buchstabiere einmal das Wort ›Pfote‹!« – »Was für eine Pfote – eine Hundepfote?« hatte der Kleine mit pfiffigem Lächeln geantwortet. Von derselben Art waren die Antworten, die Nechljudow auf seine einzige fundamentale Frage in den wissenschaftlichen Büchern fand.

Es gab da sehr viel Verständiges, Gelehrtes und Interessantes; die eine Frage jedoch, mit welchem Rechte die einen Menschen die andern strafen, fand nirgends eine Beantwortung. Und nicht nur, daß diese Antwort fehlte: alle Auseinandersetzungen waren auch lediglich darauf zugespitzt, die Strafe zu erklären und zu rechtfertigen, während ihre Notwendigkeit als Axiom angesehen wurde. Nechljudow las viel, doch mit häufigen Unterbrechungen, und er schrieb den Umstand, daß er keine Antwort auf die ihn beschäftigende Frage fand, dieser unzusammenhängenden Art der Lektüre zu. Er hoffte, die Antwort später zu finden, und wagte daher noch nicht, an die Richtigkeit der Antwort zu glauben, die sich ihm in letzter Zeit immer öfter und öfter aufgedrängt hatte.


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