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2.

Am nächsten Tage erwachte Nechljudow gegen neun Uhr morgens. Der junge Buchhalter, der seinem Herrn gegenüber den Dienstfertigen spielen wollte, brachte ihm, sobald er hörte, daß er sich in seinem Bette bewege, sogleich die Stiefeletten, die so spiegelblank waren wie noch nie, trug ihm das kalte, kristallklare Quellwasser ins Zimmer und meldete, daß die Bauern sich bereits versammelten. Nechljudow kam vollends zur Besinnung und sprang aus dem Bett. Das Gefühl des Bedauerns, das er gestern empfunden, als er sich vorstellte, wie nun der Landbesitz verzettelt und die Wirtschaft aufgelöst werden würde, war spurlos verschwunden. Er wunderte sich jetzt selbst darüber, wie er nur zu solchen Empfindungen gekommen war, und voll Freude über das Werk, das er sich vorgenommen, ja sogar ein wenig stolz darauf, schlüpfte er rasch in seine Kleider. Aus dem Fenster seines Zimmers konnte er den mit Zichorien überwachsenen Tennisplatz sehen, auf dem sich die Bauern, der Anweisung des Verwalters gemäß, versammelten. Die Frösche hatten am Abend vorher nicht umsonst gequakt: das Wetter war trübe. Seit dem Morgen fiel ein stiller, warmer Regen ohne Wind, und kleine Tröpfchen hingen an den Blättern und Zweigen und im Grase. Der Duft des Laubes drang ins Fenster, und zugleich mit ihm der Geruch der Erde, die noch mehr Regen ersehnte.

Nechljudow hatte, während er sich ankleidete, mehrmals zum Fenster hinausgeblickt und beobachtet, wie die Bauern sich auf dem Platze versammelten. Einer nach dem andern kamen sie heran, verneigten sich voreinander, stellten sich im Kreise auf und begannen, auf ihre Stöcke gestützt, miteinander zu reden. Der Verwalter, ein wohlbeleibter, muskulöser Mann in einer kurzen Jacke mit grünem Stehkragen und ungeheuer großen Knöpfen, kam zu Nechljudow, um ihm zu sagen, daß alle versammelt seien, sie könnten jedoch warten, und Nechljudow möge zuerst seinen Kaffee oder Tee trinken, beides sei bereit.

»Nein, ich will lieber gleich mit Ihnen gehen,« sagte Nechljudow, der bei dem Gedanken an die Unterredung mit den Bauern ganz unerwartet ein Gefühl der Bangigkeit und Beschämung empfand.

Er war im Begriff, einen Herzenswunsch der Bauern zu erfüllen, an dessen Gewährung sie nicht einmal zu denken wagten – er wollte ihnen zu billigem Preise sein Land übergeben, das heißt ihnen eine Wohltat erweisen, und dennoch empfand er etwas wie Scham über sein Tun.

Als Nechljudow sich den versammelten Bauern näherte und diese ihre blondgelockten, kahlen oder grauen Köpfe vor ihm entblößten, war er so verwirrt, daß er eine ganze Weile keine Worte fand. Der feine Regen fiel weiter in kleinen Tröpfchen und blieb an dem Haar, den Bärten und den wolligen Röcken der Bauern hängen. Die Bauern blickten den Gutsherrn an und warteten, was er ihnen wohl sagen würde; er aber war so verlegen, daß er ihnen nichts zu sagen vermochte. Das peinliche Schweigen wurde durch den ruhigen, selbstbewußten deutschen Verwalter unterbrochen, der sich für einen Kenner des russischen Bauern hielt und ein gutes Russisch sprach. Dieser kräftige, überernährte Mensch bildete ebenso wie Nechljudow selbst einen auffallenden Gegensatz zu den mageren Bauern mit ihren runzeligen Gesichtern und den knochigen Schultern, die unter ihren Röcken deutlich erkennbar vorstanden.

»Hört also,« begann der Deutsche – »der Fürst will euch eine Wohltat erweisen – er will euch Land geben, ihr seid es nur leider nicht wert.«

»Wieso denn nicht wert, Wassilij Karlytsch? Haben wir nicht unsere Arbeit für dich getan? Wir waren sehr zufrieden mit der verstorbenen Herrin, Gott habe sie selig, und auch der junge Fürst wird uns wohl nicht im Stiche lassen,« begann ein rotblonder Bauer, der sich anscheinend gern reden hörte.

»Wir klagen durchaus nicht über die Herren, nur daß wir sehr eingeengt leben müssen,« sagte ein zweiter Bauer, ein Mann mit breitem Gesichte und langem Bart. »Zu eng ist's uns eben auf unserm Stückchen Land.«

»Darum gerade habe ich euch rufen lassen – ich will euch das ganze Land übergeben, wenn ihr es wünscht,« sprach Nechljudow.

Die Bauern schwiegen, als verständen sie ihn nicht oder glaubten ihm nicht.

»In welchem Sinne denn, heißt das, das Land übergeben?« sagte ein Bauer in mittleren Jahren, der ein ärmelloses Wams trug.

»Ich will es an euch verpachten, ihr sollt es gegen einen kleinen Zins für eigne Rechnung bearbeiten.«

»Das wäre ja sehr schön,« sprach ein alter Bauer.

»Wenn nur die Pacht nicht zu hoch ist,« meinte ein anderer.

»Warum sollten wir das Land nicht in Pacht nehmen? Wir sind's doch gewohnt, wir leben doch davon, daß wir das Land bebauen!«

»Für Sie ist's so auch bequemer – Sie bekommen Ihr Geld, und all der Streit und Ärger hört auf,« ließen andere Stimmen sich vernehmen.

»An dem Streit und Ärger seid nur ihr allein schuld,« sagte der Deutsche. »Wenn ihr arbeiten und Ordnung halten würdet ...«

»Das wird uns nur leider sehr schwer gemacht, Wassilij Karlytsch,« versetzte ein spitznäsiger, magerer Alter. »Du sagst: warum hast du dein Pferd ins Korn laufen lassen? Ja, wer hat es denn hineinlaufen lassen? Ich arbeite den ganzen geschlagenen Tag, jahraus, jahrein auf dem Felde, mit der Sense oder mit dem Pflug oder sonstwie, und wenn ich dann nachts die Pferde hüte, schlafe ich eben ein, und ein Pferd geht dir in den Hafer – und du ziehst mir dafür das Fell über die Ohren!«

»Ihr müßt eben mehr auf Ordnung halten.«

»Du hast gut reden – auf Ordnung halten! Unsere Kraft reicht eben nicht aus,« erwiderte ein hochgewachsener, brünetter, noch junger Bauer mit auffallend starkem Haarwuchs.

»Ich sagte euch doch, ihr müßtet Zäune errichten,« sagte der Verwalter.

»Dann gib uns doch Holz,« ließ ein kleiner, unansehnlicher Mann, der im Hintergrunde stand, sich vernehmen. »Ich wollte im vorigen Sommer einen Zaun errichten und hatte mir im Walde etwas Stangenholz geholt – dafür hast du mich auf drei Monate ins Loch gebracht, wo mich die Läuse gefressen haben. So geht's uns, wenn wir unser Feld abzäunen wollen.«

»Was erzählt er da?« fragte Nechljudow den Verwalter.

»Das ist der erste Dieb im Dorfe!« sagte der Verwalter auf deutsch. »Jedes Jahr ist er im Walde abgefaßt worden ... Lern' du erst fremdes Eigentum achten,« fügte er, zu dem Bauern gewandt, hinzu.

»Achten wir dich etwa nicht?« sagte ein alter Bauer. »Wir müssen dich doch achten, weil du uns ganz in der Hand hast und Riemen aus uns schneidest.«

»Nun, euch geschieht doch kein Unrecht – wenn ihr nur kein Unrecht begeht!«

»Wie denn, kein Unrecht geschieht uns? Und daß du mich im vorigen Jahr ins Gesicht geschlagen hast – war das kein Unrecht? Und verklagen konnte ich dich nicht, gegen den Reichen gibt's einmal kein Recht.«

»Halt dich nur immer ans Gesetz!«

Ein Wortturnier begann nun, bei dem die Beteiligten selbst nicht recht zu wissen schienen, um was sie stritten. Man spürte auf der einen Seite eine durch Furcht gedämpfte Erbitterung, auf der andern Seite das Bewußtsein der Überlegenheit und Macht. Es war Nechljudow peinlich, diesem Streit zuzuhören, und er suchte die Diskussion wieder auf die Frage der Pachtfestsetzung und der Bestimmung der Zahlungstermine zu lenken.

»Wie steht es also mit der Landübernahme? Seid ihr einverstanden? Und wie hoch wollt ihr den Pachtschilling bemessen, wenn ich euch das ganze Land übergebe?«

»Sie verkaufen die Ware, Sie müssen also auch den Preis bestimmen.«

Nechljudow nannte einen Preis. Obschon nun der von ihm festgesetzte Preis weit niedriger war als der sonst in der Umgegend gezahlte Pachtpreis, begannen die Bauern doch, wie es bei ihnen einmal üblich war, zu feilschen, und meinten, der verlangte Preis sei viel zu hoch. Nechljudow hatte erwartet, sein Anerbieten würde mit Freuden aufgenommen werden, doch war von irgend welcher Freude nichts zu merken. Daß der Vorschlag jedoch ihren Beifall fand, merkte Nechljudow alsbald daran, daß bei der Besprechung der Frage, wer das Land pachten solle, ob die ganze Gemeinde oder nur eine Vereinigung bestimmter Bauern, ein heftiger Streit zwischen den Bauern ausbrach. Einige von ihnen wollten die weniger leistungsfähigen Bauern und die schlechten Zahler von der Beteiligung an der Pacht ausgeschlossen wissen, die aber, die man ausschließen wollte, wehrten sich dagegen nach Kräften. Dank dem Eingreifen des Verwalters wurden endlich Pachtzins und Zahlungsfristen festgesetzt, und die Bauern begaben sich unter lebhaftem Gespräch ins Dorf, während Nechljudow mit dem Verwalter ins Kontor ging, um den Vertragsentwurf aufzusetzen.

Alles verlief so, wie Nechljudow es gewünscht und erwartet hatte: die Bauern bekamen das Land um etwa dreißig Prozent billiger, als es sonst in der Umgegend zu haben war; sein Einkommen verminderte sich fast um die Hälfte, war jedoch immer noch reichlich genug, zumal noch die Summe hinzukam, die er für die Holzbestände und das zu veräußernde Inventar erwarten konnte. Alles schien aufs beste geordnet – und doch wurde Nechljudow ein beklemmendes, peinliches Gefühl der Beschämung nicht los. Er sah, daß die Bauern, obschon einige von ihnen ihm gedankt hatten, doch unzufrieden waren und jedenfalls mehr erwartet hatten. Das Ergebnis war also, daß er seine eigenen Einnahmen zwar um einen ganz beträchtlichen Teil gekürzt, den Bauern aber bei weitem nicht das gegeben hatte, was sie erwartet hatten.

Am nächsten Tage wurde der Vertrag unterschrieben, und von den Vertrauensleuten der Bauern begleitet, trat Nechljudow vor das Haus, um den zur Abfahrt bereitstehenden Wagen zu besteigen. Er hatte das unangenehme Gefühl, eine Sache, die er begonnen, nicht ganz zu Ende geführt zu haben. Er setzte sich in die schmucke dreispännige Kalesche des Verwalters und fuhr nach der Bahnstation, nachdem er von den Bauern, die bedenklich und mißgestimmt die Köpfe schüttelten, Abschied genommen hatte. Er war mit sich selbst unzufrieden. Worin seine Unzufriedenheit wurzelte, wußte er selbst nicht, jedenfalls aber wurde er die ganze Zeit über ein Gefühl der Niedergeschlagenheit und Beschämung nicht los.


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