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37.

Bis zur Abfahrt des Personenzuges, mit dem Nechljudow fahren wollte, blieben noch zwei Stunden. Nechljudow hatte in dieser Zeit noch zu seiner Schwester fahren wollen, nach den Eindrücken dieses Morgens jedoch fühlte er sich in höchstem Maße erregt und zugleich erschöpft, und so nahm er im Wartezimmer der ersten Klasse auf einem kleinen Diwan Platz, wo er plötzlich von einer solchen Müdigkeit befallen wurde, daß er sich auf die Seite legte, die Hand unter die Backe schob und sogleich einschlief.

Ein Kellner im Frack, mit einem Abzeichen und einer Serviette, weckte ihn.

»Mein Herr – he, mein Herr, sind Sie nicht der Fürst Nechljudow? Eine Dame sucht Sie.«

Nechljudow sprang auf, rieb sich die Augen und besann sich darauf, wo er war, und was er alles an diesem Morgen erlebt hatte.

Er erinnerte sich des Marsches der Gefangenen, der Toten, der Waggons mit den Gitterfenstern und der darin eingesperrten Frauen, von denen die eine hilflos in Geburtswehen lag und die andere ihm hinter dem Eisengitter schmerzlich zugelächelt hatte. Das Bild, das seine Umgebung ihm darbot, war ein ganz anderes: da sah er einen Tisch mit Flaschen, Vasen, Kandelabern und Gedecken, und gewandte Kellner, die um den Tisch hin und her flitzten, und im Hintergrunde des Saales, vor einem Schrank, hinter den Flaschen und Schalen mit Früchten, den Büfettier, und die Rückseiten der Abreisenden, die ans Büfett getreten waren.

Während Nechljudow sich aus seiner liegenden Stellung aufrichtete und nach und nach zur Besinnung kam, bemerkte er, daß alle im Zimmer Anwesenden mit Neugier einen Vorgang verfolgten, der sich in der Tür abspielte. Er blickte nach der gleichen Richtung und sah einen Zug von Menschen, die eine Dame mit luftigem Schleier um den Kopf in einem Sessel trugen. Der vordere Träger war ein Lakai, der Nechljudow bekannt vorkam. Auch der hintere Träger, ein Schweizer in betreßter Mütze, war ihm bekannt. Hinter dem Tragsessel ging eine elegante Zofe in einer Schürze, mit Löckchen um die Stirn, die ein kleines Bündel, ein Lederfutteral mit irgendeinem runden Gegenstand darin und ein paar Schirme trug. Noch weiter hinten folgte, die Brust weit herausdrückend, Fürst Kortschagin in einer Reisemütze, mit der hängenden Unterlippe und dem kurzen, dicken Halse, der jeden Augenblick einen Schlaganfall befürchten ließ. Dann kamen Missi, Vetter Mischa und der Nechljudow bekannte Diplomat Osten mit dem langen Halse, dem vorspringenden Adamsapfel und der allezeit lustigen Miene und Stimmung. Er ging neben der lächelnden Missi, der er anscheinend irgendeine spaßige Geschichte mit eindringlichen Worten zu Ende erzählte. Ganz hinten kam der Doktor, der mit grimmigem Gesicht an seiner Zigarette rauchte.

Die Kortschagins reisten von ihrem in der Nähe der Stadt gelegenen Gute zu einer Schwester der Fürstin, deren Gut an der Nischnijnowgoroder Eisenbahn lag.

Der Zug der Träger samt dem Zimmermädchen und dem Arzte wandte sich, bei allen Anwesenden Neugier und Respekt hervorrufend, dem Damenzimmer zu. Der alte Fürst dagegen setzte sich an den Tisch, rief sogleich einen Kellner heran und bestellte etwas zu essen und zu trinken. Auch Missi und Osten waren im Speisesaal geblieben und wollten sich eben setzen, als sie in der Tür eine Bekannte erblickten und ihr entgegengingen. Diese Bekannte war Natalia Iwanowna, die, von Agrafena Petrowna begleitet, eben in den Saal trat und sich nach allen Seiten umblickte. Sie hatte fast zu gleicher Zeit Missi und den Bruder bemerkt und ging zuerst auf Missi zu, während sie Nechljudow nur zunickte. Nachdem sie jedoch Missi durch einen Kuß begrüßt hatte, wandte sie sich sogleich zu ihm.

»Endlich habe ich dich gefunden,« sagte sie.

Nechljudow erhob sich, begrüßte Missi, Mischa und Osten und blieb dann im Gespräch stehen. Missi erzählte ihm von einem Feuer, das in ihrem Hause auf dem Gute ausgebrochen sei und sie gezwungen habe, jetzt zur Tante zu ziehen. Osten gab eine komische Geschichte zum besten, die bei dem Feuer passiert war. Nechljudow achtete nicht weiter auf das, was Osten erzählte, sondern wandte sich zu seiner Schwester:

»Wie froh bin ich, daß du gekommen bist,« sprach er.

»Ich bin schon eine ganze Weile hier,« sagte sie. »Ich bin mit Agrafena Petrowna gekommen« – sie zeigte nach Agrafena Petrowna hin, die in einem Hute und einem wasserdichten Mantel in einiger Entfernung stand und Nechljudow, den sie nicht stören wollte, ein wenig schüchtern, doch dabei mit freundlicher Würde ihre Verbeugung machte. »Wir haben dich überall gesucht.«

»Und ich war hier eingeschlafen. Ich freue mich wirklich, daß du gekommen bist,« wiederholte Nechljudow. »Ich hatte schon einen Brief an dich angefangen,« sagte er.

»Wirklich?« sagte sie erschrocken. »Worüber denn?«

Als Missi bemerkte, daß das Gespräch zwischen den Geschwistern intim wurde, ging sie mit ihren Kavalieren auf die Seite. Nechljudow setzte sich mit der Schwester auf einen kleinen Sammetdiwan am Fenster, neben das Handgepäck – ein Plaid und einen Karton – irgendeines Reisenden.

»Ich wollte gestern, nachdem ich euch verlassen hatte, wieder zurückkehren und ihm gute Worte geben, doch wußte ich nicht, wie er das aufnehmen würde,« sagte Nechljudow. »Ich habe deinem Manne böse Dinge gesagt, und das bedrückte mich,« sagte er.

»Ich wußte das, ich war überzeugt davon,« sagte die Schwester, »daß du es nicht in böser Absicht getan hast. Du weißt doch ...«

Die Tränen traten ihr in die Augen, und sie berührte seine Hand. Es lag in ihrem letzten, unbeendeten Satze ein zärtlicher Sinn, den er sogleich verstand, und der ihn tief rührte. Sie wollte ihm sagen, daß außer der Liebe zu ihrem Manne, die ihre Seele ganz beherrschte, doch auch die Liebe zu ihm, dem Bruder, ihr wert und teuer sei, und daß jeder Zwist mit ihm ihr bitteres Leid bereite.

»Ich danke, ich danke dir ... Oh, was ich heute gesehen habe,« sagte er, als ihm plötzlich das Bild des zweiten, am Hitzschlag verstorbenen Arrestanten vor die Seele trat. »Zwei Menschen hat man heute getötet – zwei Gefangene ...«

»Wieso getötet?«

»Einfach getötet. Man führte sie in diese Hitze hinaus, und da starben die beiden am Hitzschlag.«

»Nicht möglich! Wie ging denn das zu? Heute? Jetzt eben?«

»Ja, jetzt eben, ich habe die Leichen gesehen.«

»Aber wieso denn getötet? Wer hat sie getötet?« fragte Natalia Iwanowna.

»Jene, die sie mit Gewalt hinausführten,« sagte Nechljudow gereizt – er fühlte, daß die Schwester auch diese Sache mit den Augen ihres Mannes ansah.

»Ach, mein Gott,« sagte Agrafena Petrowna, während sie näher an die Geschwister herantrat.

»Ja, wir haben nicht die geringste Vorstellung davon, was mit diesen Unglücklichen geschieht, und doch ist es notwendig, daß das bekannt wird,« versetzte Nechljudow, während er nach dem alten Fürsten hinsah, der mit vorgebundener Serviette am Tische vor einem leckeren Gericht saß und sich in diesem Augenblick zufällig gleichfalls nach Nechljudow umsah.

»Nechljudow!« rief er laut. »Wollen Sie nicht eine Erfrischung nehmen? Das tut sehr gut, wenn man eine Reise macht.«

Nechljudow lehnte ab und wandte sich um.

»Was willst du denn aber dabei tun?« fuhr Natalia Iwanowna fort.

»Was ich vermag. Ich weiß nicht, was – aber ich fühle, daß ich irgend etwas tun muß. Jedenfalls werde ich tun, was ich kann.«

»Ja, ja, ich verstehe. Nun, und was ist mit ihnen« – sie blinzelte lächelnd nach den Kortschagins hinüber – »ist dort wirklich alles zu Ende?«

»Ja – und ich glaube: beiderseits ohne Bedauern.«

»Schade. Mir tut es leid. Ich habe sie gern. Doch nehmen wir an, das sei erledigt – warum willst du dich dann anderweitig binden?« fügte sie schüchtern hinzu. »Welchen Zweck hat eigentlich deine Reise?«

»Ich reise, weil ich reisen muß,« sagte Nechljudow in trockenem, ernstem Tone, als wollte er das Gespräch abbrechen. Doch bedauerte er sogleich wieder sein kühles Verhalten gegen die Schwester. »Warum soll ich ihr nicht alles sagen, was ich denke? Mag auch Agrafena Petrowna es hören,« sagte er sich, mit einem Blick auf die alte Kammerfrau, deren Anwesenheit ihm sogar ein Anreiz war, der Schwester seinen Entschluß noch einmal mitzuteilen.

»Du spielst auf meine Absicht an, Katjuscha zu heiraten. Nun ja, ich bin entschlossen, es zu tun – aber sie weigert sich ganz bestimmt und fest, darauf einzugehen,« sagte er, und seine Stimme zitterte, wie sie stets zu zittern pflegte, wenn er davon sprach. »Sie will mein Opfer nicht annehmen, und sie bringt doch damit selbst ein Opfer, das für sie, in ihrer Lage, sehr groß ist, und das ich nicht annehmen kann, da es vielleicht nur auf einer augenblicklichen Laune beruht. Und so folge ich ihr denn und werde stets dort sein, wo sie sein wird, und werde ihr nach Möglichkeit beistehen und ihr Schicksal erleichtern.«

Natalia Iwanowna erwiderte nichts. Agrafena Petrowna blickte fragend auf Natalia Iwanowna und schüttelte den Kopf. In diesem Augenblick kam aus dem Damenzimmer wieder der Zug heraus. Der schöne Lakai Philipp und der Schweizer trugen den Sessel mit der Fürstin. Sie ließ die Träger halten, winkte Nechljudow zu sich heran und reichte ihm mit kläglicher Duldermiene, mit Schrecken seinen kräftigen Händedruck erwartend, die ringgeschmückte weiße Hand.

»Diese Hitze – entsetzlich!« sagte sie. »Ich ertrage das nicht. Dieses Klima tötet mich,« fuhr sie fort, ließ sich noch des weiteren über die Schattenseiten des russischen Klimas aus, lud dann Nechljudow ein, sie zu besuchen, und gab den Trägern ein Zeichen.

»Besuchen Sie uns also ganz bestimmt,« fügte sie, bereits wieder in den Lüften schwebend und ihr langes Gesicht nach Nechljudow umwendend, hinzu.

Nechljudow ging auf den Perron hinaus. Der Zug mit der Fürstin bog nach rechts, zur ersten Wagenklasse hin, ab, während Nechljudow mit einem Träger, der seine Sachen trug, und mit Taras, der seine eigenen Säcke auf den Rücken geladen hatte, nach links ging.

»Das ist mein Reisebegleiter,« sagte Nechljudow zur Schwester und zeigte dabei auf Taras, dessen Geschichte er ihr bereits früher erzählt hatte.

»Fährst du wirklich dritter Klasse?« fragte Natalia Iwanowna, als Nechljudow vor einem Waggon dritter Klasse stehen blieb und sein Gepäckträger mit Taras in den Waggon stieg.

»Ja, es paßt mir besser so, ich fahre mit Taras zusammen,« sagte er. »Noch eins wollte ich dir sagen,« fuhr er dann fort – »ich habe in Kusminskoje das Land noch nicht den Bauern übergeben, so daß für den Fall meines Todes deine Kinder das Gut erben.«

»Dmitrij, hör' auf ...« sagte Natalia Iwanowna.

»Und wenn ich es auch den Bauern übergeben sollte, so will ich doch dafür sorgen, daß alles andere deinen Kindern bleibt, da ich kaum jemals heiraten werde. Und sollte ich selbst heiraten, so würde ich doch keine Kinder haben ... so daß also ...«

»Dmitrij, ich bitte dich, sprich nicht so,« sagte Natalia Iwanowna, während Nechljudow es ihr ansah, daß sie über das, was er sagte, recht erfreut war.

Ganz vorn, vor der ersten Klasse, stand ein kleines Häufchen von Menschen, die immer noch auf den Waggon sahen, in den die Fürstin Kortschagin hineingetragen worden war. Alle übrigen hatten bereits ihre Plätze eingenommen. Die verspäteten Passagiere trabten hastig, mit klappernden Schritten, über die Bretter des Perrons, die Schaffner schlugen die Coupétüren zu und forderten die Reisenden auf, ihre Plätze einzunehmen, die Begleitenden aber, hinauszugehen.

Nechljudow betrat den von der Sonne durchglühten, heißen, von übelriechendem Dunst erfüllten Waggon und ging sogleich wieder auf die Plattform hinaus. Natalia Iwanowna stand in ihrem eleganten kleinen Hut und ihrem Umhang mit Agrafena Petrowna draußen vor dem Waggon und bemühte sich offenbar vergeblich, ein Gesprächsthema zu finden. Sie konnte ihm nicht gut sagen: »Vergiß nicht zu schreiben« – denn über diese Phrase, die beim Abschiednehmen so oft wiederkehrt, hatten sie sich beide früher manches Mal lustig gemacht. Die Unterhaltung über die Geldangelegenheiten und die Erbschaft hatten die zärtlichen Beziehungen, die zwischen Bruder und Schwester bestanden, mit einem Mal unterbrochen. Es war, als sei etwas Fremdes zwischen sie getreten, so daß Natalia Iwanowna froh war, als der Zug sich endlich in Bewegung setzte und sie ihm, mit dem Kopfe nickend, die letzten traurig-freundlichen Worte: »Leb' wohl, Dmitrij – nun, leb' wohl!« – zurufen konnte. Kaum aber war der Waggon außer Sicht gekommen, als sie nur noch der Gedanke beschäftigte, wie sie ihrem Manne das Gespräch mit dem Bruder mitteilen sollte, wobei ihr Gesicht einen ernsten, besorgten Ausdruck annahm.

Auch Nechljudow hatte sich, obschon er der Schwester gegenüber stets nur die herzlichsten Gefühle hegte und nichts vor ihr verbarg, jetzt in ihrer Gegenwart bedrückt und unbehaglich gefühlt und suchte so rasch wie möglich von ihr loszukommen. Er hatte die Empfindung, daß jene Natascha, die ihm einstmals so nahe gestanden, nicht mehr existierte, daß von ihr nur noch die Sklavin jenes ihm fremden und widerwärtigen, schwarzen, starkbehaarten Menschen übriggeblieben war. Er hatte das deutlich gesehen, denn ihr Gesicht war plötzlich ganz lebendig geworden und förmlich erstrahlt, als er das Thema, für das ihr Gatte so viel Interesse hatte, nämlich die Landangelegenheit und die Erbschaft, aufs Tapet brachte. Und das hatte ihm bitter wehgetan.


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