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19.

Der Mann, von dem die Milderung des Schicksals der Gefangenen in Petersburg abhing, war ein alter, verdienter, mit den Jahren jedoch schwachsinnig gewordener General, der aus einer deutschen Baronsfamilie stammte. Er besaß eine Unmasse von Orden, trug jedoch von allem diesen Auszeichnungen nur eine einzige, ein weißes Kreuz im Knopfloch, das er während seiner Dienstzeit im Kaukasus sich erworben hatte, wo die unter seinem Kommando stehenden, mit Flinten und Bajonetten bewaffneten russischen Bauern mehr als tausend ihre Freiheit, ihre Häuser und Familien verteidigende Menschen getötet hatten. Er hatte dann in Polen und noch irgendwo gedient, wo er sich auf gleiche Weise verdient gemacht und weitere Orden und sonstige Uniformverzierungen hinzuerworben hatte. Schließlich hatte man ihm dann den Posten gegeben, den er augenblicklich bekleidete, und der ihm außer einer schönen Wohnung ein gutes Gehalt und reiche Ehren gewährte. Er erfüllte mit aller Strenge die Vorschriften seiner vorgesetzten Behörde und legte auf diese Erfüllung ein großes Gewicht. Er schlug die Bedeutung jener Vorschriften ganz besonders hoch an: alles in der Welt konnte sich nach seiner Meinung ändern, nur diese Vorschriften nicht.

Seine Amtspflicht bestand darin, politische Verbrecher und Verbrecherinnen in den Kasematten und Einzelzellen festzuhalten. Viele von diesen Leuten gingen im Laufe der Jahre zu Grunde, sie verloren den Verstand, starben an der Schwindsucht oder begingen Selbstmord, und der alte General wußte das, aber er sah alle diese Fälle, die sich infolge der strengen Erfüllung der Vorschriften ereigneten, ähnlich an wie die Unglücksfälle, die sich etwa infolge von Gewittern, Überschwemmungen und ähnlichem ereigneten. Sein Gewissen war ruhig – die Vorschriften mußten unbedingt erfüllt werden, und die Folgen davon kümmerten ihn nicht.

Als Nechljudow vor der im Gefängnisgebäude liegenden Wohnung des alten Generals vorfuhr, spielte das Glockenspiel der Turmuhr gerade die Melodie des Kirchenliedes »Wie ruhmvoll ist der Herr«, und dann schlug es zwei Uhr. Der General saß um diese Zeit in einem dunklen Salon an einem mit feiner Intarsiaarbeit verzierten Tischchen und drehte zusammen mit einem jungen Manne, einem Künstler, dem Bruder eines seiner Untergebenen, eine Untertasse auf einem Bogen Papier hin und her. Die dünnen, feuchten, schwachen Finger des Künstlers waren zwischen die rauhen, runzeligen, in den Gelenken erstarrten Finger des alten Generals geschoben, und die auf solche Weise vereinigten Hände bewegten sich zuckend, zugleich mit der umgestürzten Untertasse, über den Papierbogen hin, auf dem sämtliche Buchstaben des Alphabets aufgeschrieben waren. Die Untertasse antwortete auf die von dem General gestellte Frage, wie »die Seelen nach dem Tode einander erkennen würden.«

Als einer der Ordonnanzsoldaten, die bei dem General die Stelle der Kammerdiener einnahmen, mit Nechljudows Karte eintrat, sprach gerade die Seele der Jungfrau von Orleans durch Vermittlung der Untertasse. Schon hatte die Seele der Jungfrau Buchstabe für Buchstabe gesagt: »Sie erkennen einan...« – und schon waren diese Worte aufgeschrieben worden. Als der Bursche eintrat, ging der Teller zuerst auf das »d«, hierauf auf das »e«, und dann auf das »r«. Bei diesem Buchstaben blieb die Untertasse stehen und zuckte nun unsicher bald dahin, bald dorthin. Das Zucken hatte darin seinen Grund, daß der folgende Buchstabe nach der Ansicht des Generals ein »n« sein sollte, da er annahm, daß die Jungfrau von Orleans sagen wolle, die Seelen würden einander »nach der Reinigung von allem Irdischen« erkennen, oder sonst etwas Ähnliches, und somit der erste Buchstabe des Wortes »nach« jetzt an der Reihe sei, während der Künstler glaubte, das nächste Wort laute »an«, der nächste Buchstabe müsse somit ein »a« sein, da die Seele der Jungfrau sagen wolle, die Seelen würden sich »an« dem Lichte erkennen, das ihr Ätherleib ausstrahlen werde. Der General zog seine buschigen grauen Augenbrauen finster zusammen, heftete seinen Blick fest auf die Hände und zog sie in der Meinung, daß die Untertasse sich von selbst bewege, nach dem Buchstaben »n«. Der blutleere junge Künstler mit dem hinter die Ohren gekämmten dünnen Haar schaute seinerseits mit den leblosen blauen Wasseraugen in die dunkle Ecke des Salons und zog, nervös mit den Lippen zuckend, die Tasse nach dem »a«. Der General war über die Unterbrechung bei dem wichtigen Geschäft, das er vorhatte, recht ungehalten, nahm nach einer Minute des Schweigens die Karte, setzte sein Pincenez auf, erhob sich, vor Kreuzschmerzen ächzend, in seiner ganzen Größe und rieb sich die erstarrten Finger.

»Bitte den Herrn ins Kabinett,« sagte er zu dem Burschen.

»Vielleicht gestatten Ew. Exzellenz, daß ich allein fortfahre?« sagte der Künstler, gleichfalls aufstehend. »Ich fühle die Anwesenheit des Geistes.«

»Gut, führen Sie es zu Ende,« sagte der General streng und begab sich mit gemessenen Schritten, die steifen Beine ganz gerade stellend, in sein Kabinett.

»Sehr angenehm, Sie zu sehen,« sagte der General zu Nechljudow mit grober Stimme, zu der die freundlichen Worte in schroffem Gegensatz standen, indem er nach einem neben dem Schreibtisch stehenden Sessel zeigte. »Sind Sie schon lange in Petersburg?«

Nechljudow antwortete, er sei erst ganz kürzlich angekommen.

»Wie geht es Ihrer Mutter, der Frau Fürstin? Ist sie gesund?«

»Meine Mutter ist gestorben.«

»Verzeihung ... Es hat mir sehr leid getan, als ich es hörte, mein Sohn sagte mir, er sei Ihnen begegnet.«

Der Sohn des Generals machte dieselbe Karriere wie der Vater. Er war nach Absolvierung der Militärakademie in den Spionagedienst gekommen und war sehr stolz auf seine Beschäftigung.

»Gewiß, ich habe mit Ihrem Vater zusammen gedient. Wir waren Freunde, Kameraden. Sie stehen doch gleichfalls im Dienst?«

»Nein, ich diene nicht.«

Der General machte eine mißbilligende Bewegung mit dem Kopfe.

»Ich habe ein Gesuch an Sie zu überbringen, General,« sagte Nechljudow.

»Se-e-ehr erfreut. Womit kann ich Ihnen dienen?«

»Sollte das Gesuch unstatthaft sein, dann bitte ich um Verzeihung. Ich muß es jedoch übermitteln.«

»Um was handelt es sich denn?«

»Es wird hier ein gewisser Gurkewitsch in Haft gehalten. Seine Mutter bittet nun um eine Zusammenkunft mit dem Sohne, oder wenigstens um die Erlaubnis, ihm Bücher schicken zu dürfen.«

Der General verriet durch kein Zeichen, ob Nechljudows Worte auf ihn einen angenehmen oder einen unangenehmen Eindruck machten – er legte nur den Kopf auf die Seite und schloß die Augenlider, als ob er etwas überlege. In Wirklichkeit überlegte er gar nichts und hatte auch gar kein Interesse an der Sache, die Nechljudow ihm vortrug, denn er wußte ganz genau, daß sein Bescheid streng nach dem Wortlaut des Gesetzes ausfallen werde. Er ruhte einfach geistig aus, ohne an etwas zu denken.

»Ja, sehen Sie – die Sache hängt nicht von mir ab,« sagte er, nachdem er ein Weilchen ausgeruht hatte. »Über Zusammenkünfte existiert eine von Allerhöchster Stelle bestätigte Verfügung, und was dort gestattet ist, das ist eben gestattet. Und was die Bücher anlangt, so haben wir eine Bibliothek, und man gibt ihnen die Bücher, die erlaubt sind.«

»Ja, aber er braucht ganz bestimmte Bücher – er will sich wissenschaftlich beschäftigen.«

»Glauben Sie das nicht.« Der General schwieg eine Weile. »Nicht um Beschäftigung ist es ihm zu tun. Das ist nur so eine Unruhe.«

»Aber wie denn – Sie müssen doch in ihrer schweren Lage die Zeit mit irgendetwas ausfüllen!« sagte Nechljudow.

»Sie klagen ewig,« versetzte der General. »Wir kennen sie schon ...«

Er sprach von »ihnen« im allgemeinen wie von irgend einer besonderen Menschenrasse.

»Sie haben hier solche Bequemlichkeiten, wie man sie sonst selten in Anstalten dieser Art findet,« fuhr er fort.

Und er begann, sich gleichsam rechtfertigend, alle die Bequemlichkeiten, die den Gefangenen gewährt würden, so ausführlich zu schildern, daß es nach seiner Schilderung so schien, als sei es der einzige Hauptzweck dieser Anstalt, ihren Insassen den Aufenthalt in ihr so angenehm wie möglich zu machen.

»Früher verfuhr man mit ihnen allerdings ziemlich hart, jetzt aber werden sie hier ganz vortrefflich gehalten. Sie bekommen drei Gänge bei Tisch, darunter immer ein Fleischgericht: Gehacktes oder Kotelettes. Am Sonntag kommt noch ein viertes, süßes Gericht dazu. Wollte Gott, daß jeder Mensch in Rußland so genährt würde!«

Der General kam augenscheinlich, wie alle alten Leute, immer wieder auf das zurück, was einmal fest in seinem Gedächtnis saß, und wiederholte nur, was er schon vielmals zum Beweise dafür vorgebracht hatte, wie anspruchsvoll und undankbar die Gefangenen seien.

»Sie bekommen Bücher religiösen Inhalts und alte Zeitschriften. Wir haben eine Bibliothek, die durchaus zweckentsprechend ist. Aber sie lesen nur selten. Anfangs scheinen sie sich zu interessieren, dann aber bleiben die neuen Bücher von der Mitte ab unaufgeschnitten, und in die alten Bücher sehen sie nicht einmal hinein. Wir haben sogar Proben angestellt,« sagte der General mit einer leichten Bewegung der Gesichtsmuskeln, die ganz entfernt an ein Lächeln erinnerte. »Wir legten absichtlich da und dort ein Blättchen Papier hinein. Keins der Blättchen war verschoben, alle lagen so, wie sie hineingelegt worden waren. Auch das Schreiben ist ihnen nicht verboten,« fuhr der General fort. »Sie bekommen eine Schiefertafel und einen Schieferstift, so daß sie zur Zerstreuung schreiben können, so viel sie wollen. Sie können es auslöschen und immer von neuem schreiben. Auch das wollen sie nicht. Nein, sie werden hier sehr bald vollkommen ruhig. Nur im Anfang zeigt sich diese Unruhe; später werden sie sogar dick und fett und ganz still,« sagte der General.

Nechljudow hörte seine heisere, greisenhafte Stimme, sah auf diese erstarrten Glieder, auf diese erloschenen Augen unter den grauen Augenbrauen, auf diese greisenhaften, glattrasierten, hängenden Backen, die durch den Uniformkragen gestützt wurden, auf dieses weiße Kreuz im Knopfloch – und er begriff, daß es nutzlos sei, diesem Manne noch etwas zu erwidern, ihm die Bedeutung seiner Worte zu erklären. Er überwand sich aber doch noch einmal und fragte nach der andern Sache, der Gefangenen Schustowa, die, wie er heute benachrichtigt worden, freigelassen werden sollte.

»Schustowa? Schustowa ... Ich kann sie nicht alle beim Namen kennen. Es sind ihrer ja so viele,« sagte er im Tone des Vorwurfs, als ob sie, die Gefangenen, sich so eifrig in die Gefängnisse drängten. Er klingelte und ließ den Sekretär kommen.

Während der Sekretär geholt wurde, ermahnte er Nechljudow, doch ja in den Staatsdienst zu treten: das Vaterland, sagte er, brauche ehrenhafte, anständige Leute so notwendig.

»Sehen Sie mich an: ich bin ein alter Mann, und doch diene ich, soweit es meine Kräfte erlauben.«

Der Sekretär, ein hagerer, trockener Mensch mit unruhigen, intelligenten Augen kam mit der Meldung, daß die Schustowa in irgend einem Fort des Festungsgefängnisses untergebracht sei, und daß bisher kein sie betreffendes Schriftstück eingegangen sei.

»Sobald wir Befehl bekommen, entlassen wir sie noch an demselben Tage. Wir halten sie nicht, legen gar keinen Wert auf ihre Anwesenheit,« sagte der General und machte abermals den Versuch, scherzhaft zu lächeln, verzog dabei jedoch sein altes Gesicht nur zu einer Grimasse. »Leben Sie wohl, mein Lieber,« fuhr er fort, »seien Sie mir nicht böse, aber ich sage es nur aus Freundschaft für Sie: geben Sie sich mit den Leuten, die hier bei uns inhaftiert sind, nicht weiter ab! Unschuldige gibt es nicht. Alle diese Leute sind im höchsten Maße verworfen. Wir kennen sie ja,« sprach er in einem Tone, der keine Möglichkeit eines Zweifels zuließ. »Und, wie gesagt, dienen Sie! Das ist das beste, was Sie tun können. Der Zar braucht ehrliche Leute ... und auch das Vaterland braucht sie,« fügte er hinzu. »Wenn ich, und alle andern, so wie Sie, nicht dienen wollten – wer bliebe dann noch übrig? Wir räsonnieren über die jetzige Ordnung der Dinge – und wollen dabei der Regierung nicht helfen!«

Nechljudow seufzte schwer auf, verneigte sich tief, drückte die herablassend nach ihm ausgestreckte große, knochige Hand und verließ das Zimmer.

Der General schüttelte mißbilligend den Kopf, rieb sich das Kreuz und begab sich nach dem Salon zurück, wo ihn der Künstler schon erwartete. Dieser hatte inzwischen bereits die Antwort niedergeschrieben, welche die Seele der Jungfrau von Orleans ihm gegeben hatte. Der General setzte sein Pincenez auf und las: »Sie erkennen einander an dem Lichte, das ihr Ätherleib ausstrahlt.«

»Ah!« sagte der General beifällig, während er die Augenlider schloß. »Aber wie vermögen sie einander zu erkennen, wenn doch das Licht bei allen das gleiche ist?« fragte er. Und dann griff er mit den Fingern seiner Hand wieder zwischen die Finger des Künstlers und setzte sich von neuem an das Tischchen.

Der Mietskutscher Nechljudows fuhr zum Tore der Festung hinaus.

»So traurig ist es hier, Herr,« sagte er, zu Nechljudow gewandt. »Ich wollte schon ohne Sie wegfahren.«

»Ja, sehr traurig ist es,« stimmte Nechljudow ihm bei, während er aus voller Brust aufatmete und wie erleichtert nach den rauchfarbigen Wolken am Himmel und den schimmernden Fluten der Newa hinschaute, die von den Ruderbooten und Dampfern gekräuselt wurden.


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