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10.

Die Stadt machte auf Nechljudow, als er diesmal wieder hinkam, einen seltsam überraschenden, neuartigen Eindruck. Er fuhr des Abends, als die Laternen schon angezündet waren, vom Bahnhof in seine Wohnung. Sämtliche Zimmer rochen noch nach Naphthalin, und Agrafena Petrowna und Kornej waren beide sehr erschöpft und verärgert, ja sie hatten sich sogar wegen der Einräumung der Sachen gezankt, deren Gebrauchszweck einzig darin zu bestehen schien, daß sie aufgehängt, gesonnt und wieder weggehängt wurden. Nechljudows Zimmer war zwar nicht besetzt, doch auch nicht in Ordnung; durch die herumstehenden Koffer war der Zugang dazu erschwert – offenbar kam seine Ankunft all den Geschäften, die da nach irgendeinem absonderlichen Gesetz der Schwere immer wieder in dieser Wohnung vorgenommen wurden, hindernd dazwischen. Alles dies war Nechljudow, nach all den Eindrücken des ländlichen Elends, durch seine handgreifliche Widersinnigkeit, der auch er einmal sich untergeordnet hatte, so unangenehm, daß er beschloß, schon am nächsten Tage in ein Gasthaus überzusiedeln. Er überließ es Agrafena Petrowna, bis zur Ankunft seiner Schwester, die dann endgültig über alles, was im Hause war, verfügen sollte, die ihr notwendig scheinenden Anordnungen zu treffen.

Am nächsten Tage, gleich früh morgens, verließ er das Haus, nahm nicht weit vom Gefängnis in einem recht bescheidenen, nicht sehr sauberen Chambre garnie eine Wohnung von zwei Zimmern und begab sich, nachdem er angeordnet, daß die von ihm ausgewählten Sachen aus dem Hause dahin gebracht würden, zum Advokaten.

Draußen war es kühl. Nach den Gewittern und Regengüssen war jene Abkühlung erfolgt, die im Frühling gewöhnlich einzutreten pflegt. Es war so kalt, und es wehte ein so scharfer Wind, daß Nechljudow in seinem leichten Überzieher fror und tüchtig ausschreiten mußte, um sich zu erwärmen.

In seiner Erinnerung tauchten all die Dorfgestalten auf: die Frauen, Kinder und Greise, deren Elend und Verkommenheit er jetzt gleichsam zum erstenmal wahrgenommen, vor allem dieses lächelnde Kindchen mit dem Greisengesicht, das mit den wadenlosen Beinchen zappelte. Als er an den Läden vorüberging, in denen Fleisch, Fische und fertige Kleider feilgeboten wurden, war er – als sähe er dergleichen zum erstenmal – betroffen von der Sattheit all der sauberen, feisten Ladeninhaber, wie sie das Dorf nirgends aufzuweisen hatte. Ebenso satt waren auch die Kutscher mit ihren ungeheuer breiten Rückseiten und den Knöpfen auf dem Rücken, und die Schweizer in den betreßten Mützen, und die Stubenmädchen in ihren Schürzen und Löckchen, namentlich aber die Führer der Renndroschken mit den rasierten Nacken, die sich in ihrem Fuhrwerk flegelten und die Vorübergehenden frech und verächtlich musterten. In allen diesen Menschen sah er jetzt unwillkürlich eben jene Dorfleute, die des Bodens beraubt und dadurch in die Stadt getrieben worden waren. Ein Teil dieser Leute hatte es verstanden, sich die Bedingungen des städtischen Lebens zunutze zu machen – sie waren ebenso geworden wie die Herren und freuten sich ihrer Lage; ein anderer Teil dagegen war in der Stadt in noch schlimmere Verhältnisse gekommen, als sie das Land darbot, und lebte noch kläglicher als auf dem Dorfe. Als solche klägliche Existenzen erschienen Nechljudow die Schuhmacher, die er am Fenster eines Kellers arbeiten sah; ebenso kläglich waren die hageren, zerzausten, blassen Wäscherinnen, die an den offenen Fenstern, aus denen der Seifendampf herausströmte, mit den mageren, enblößten Armen Wäsche plätteten; ebenso kläglich erschienen Nechljudow zwei Anstreicher, die in ihren Schürzen, an den nackten Füßen ein Paar zerrissene alte Stiefel und vom Kopf bis zu den Füßen mit Farbe bekleckst, die Straße daherkamen. Mit den von der Sonne gebräunten, fleischlosen, schwachen Armen, an denen die Ärmel bis über die Ellbogen hinaufgestreift waren, trugen sie Eimer mit Farbe und schimpften in einem fort. Ihre Gesichter hatten etwas Gequältes und Verbittertes. Denselben Ausdruck hatten auch die verstaubten, schwarzen Gesichter der Kutscher, welche die Lastfuhrwerke fuhren und auf ihren Tragbäumen hin und her geschüttelt wurden. Den gleichen Ausdruck hatten die Gesichter der zerlumpten, gedunsenen Männer und Frauen, die, mit kleinen Kindern an der Hand, an den Straßenecken standen und um Almosen bettelten. Dieselben Gesichter sah Nechljudow auch an den offenen Fenstern der Schenken, an denen er vorüberkam. An den schmutzigen, mit Flaschen und Teegeschirr vollgestellten Tischchen, zwischen denen die weißgekleideten Kellner mit schaukelndem Gange hin und her eilten, saßen schreiend und sich in singendem Tone unterhaltend schwitzende Menschen mit roten, stierenden Gesichtern. Dort saß gerade solch einer am Fenster – er hatte die Brauen emporgezogen und die Lippen vorgestreckt, und er starrte vor sich hin, als suche er sich an irgend etwas zu erinnern.

»Warum sind sie nur alle hierher gekommen?« dachte Nechljudow, während er unwillkürlich zugleich mit dem Staube, den der kalte Wind ihm zutrug, den überall verbreiteten Dunst ranzigen Öls einatmete, der von den frischen Farbanstrichen ausging.

In einer der Straßen holte Nechljudow einen Zug von Lastwagen ein, die mit irgendwelchen Eisenwaren beladen waren und auf dem holprigen Pflaster so entsetzlich rasselten, daß ihm die Ohren brummten und der Kopf ihn schmerzte. Er beschleunigte seinen Schritt, um an den Wagen vorüberzukommen, als er plötzlich durch das Gerassel des Eisens hindurch seinen Namen vernahm. Er blieb stehen und sah in kurzer Entfernung vor sich einen Offizier mit spitzgedrehtem und gewichstem Schnurrbart und blankem, strahlendem Gesichte, der ihm von einer Renndroschke freundschaftlich mit der Hand winkte und dabei in dem lächelnden Munde zwei auffallend weiße Zahnreihen zeigte.

»Nechljudow! Bist du es?«

Nechljudows erstes Gefühl war von freudiger Art.

»Ah, Schönbock!« rief er freudig, doch begriff er sogleich, daß er durchaus keine Ursache hatte, sich besonders zu freuen.

Es war derselbe Schönbock, der ihn damals bei den Tanten abgeholt hatte. Nechljudow hatte ihn längst aus den Augen verloren, doch hatte er gehört, daß er trotz seiner Schulden, nachdem er zwar aus der Garde ausgeschieden, aber doch bei der Kavallerie geblieben war, sich durch irgendwelche Mittel in der Welt der reichen Leute gehalten habe. Sein zufriedenes, heiteres Aussehen bestätigte das.

»Wie hübsch, daß ich dich erwischt habe! Kein Mensch ist sonst in der Stadt aufzutreiben. Das heißt, du bist gealtert, mein Lieber!« sagte er, aus der Droschke steigend und die Schultern reckend. »Nur am Gange habe ich dich erkannt. Wie ist's, wollen wir zusammen zu Mittag essen? Wo kann man denn hier bei euch anständig futtern?«

»Ich weiß nicht, ob ich Zeit habe,« antwortete Nechljudow, der nur daran dachte, möglichst rasch von dem Kameraden loszukommen, ohne ihn zu verletzen. »Was machst du denn hier?« fragte er ihn.

»Geschäfte, lieber Freund – Vormundschaftsgeschichten! Ich bin nämlich Kurator, führe die Geschäfte Samanows – du weißt, des reichen Samanow. Er ist fertig. Und dabei hat der Mensch vierundfünfzigtausend Desjatinen Land!« sagte er mit einem ganz besonderen Stolze, als hätte er alle diese Desjatinen selbst gemacht. »Alles war in der größten Unordnung. Das Land war den Bauern ganz in Pacht gegeben. Sie zahlten nichts, die Rückstände betrugen über achtzigtausend Rubel. Ich habe in einem Jahre Ordnung geschaffen und siebzig Prozent mehr für die Vormundschaftskasse herausgewirtschaftet. Äh?« sagte er mit Stolz.

Nechljudow erinnerte sich gehört zu haben, daß Schönbock, der selbst sein ganzes Vermögen durchgebracht und so viel Schulden gemacht hatte, daß er nie an ihre Tilgung denken konnte, dank irgend einer besonderen Fürsprache zum Kurator über das Vermögen eines reichen alten Mannes eingesetzt worden sei, der gleichfalls sein Vermögen durchgebracht hatte, und daß er jetzt von dieser Kuratel sein Leben bestreite.

»Wie kann ich ihn nur loswerden, ohne ihn zu beleidigen?« dachte Nechljudow, während er das glänzende, pralle Gesicht Schönbocks mit dem gewichsten Schnurrbart betrachtete und sein gutmütig kameradschaftliches Geplauder anhörte, das sich immer noch um seine großartigen Erfolge als Kurator und um die Frage, wo man gut zu Mittag essen könne, drehte.

»Na, wo wollen wir also zu Mittag essen?«

»Ich habe wirklich keine Zeit,« sagte Nechljudow und sah auf die Uhr.

»Na, dann schlag' ich vor ... heute ist Pferderennen, wirst du da sein?«

»Nein, ich bin nicht da.«

»Ach, komm doch! Ich habe selbst keinen Rennstall mehr, doch halte ich auf Grischas Pferde. Du erinnerst dich seiner wohl noch? Er hat einen famosen Stall. Komm nur, wir essen dann zusammen.«

»Auch das kann ich nicht,« sagte Nechljudow lächelnd.

»Ja – was denn? Wohin willst du denn jetzt? Soll ich dich hinbringen?«

»Ich will zum Advokaten – er wohnt hier gleich um die Ecke,« sagte Nechljudow.

»Ach ja, du hast da irgend etwas im Gefängnis zu tun! Willst dich wohl zur Kapazität für das Gefängniswesen ausbilden? Man hat mir bei Kortschagins davon erzählt,« sagte Schönbock lachend. »Sie sind schon abgereist. Was ist denn da los? Erzähl' doch mal!«

»Es ist alles wahr, was man dir erzählt hat,« antwortete Nechljudow. »Aber das läßt sich hier auf der Straße nicht so erzählen.«

»Na ja, na ja, du bist eben immer ein Sonderling gewesen. Kommst du also zum Rennen?«

»Nein, ich kann wirklich nicht, und ich will auch nicht. Bitte, sei mir nicht böse!«

»Unsinn, böse sein! Wo wohnst du eigentlich?« fragte er, und plötzlich wurde sein Gesicht ernst, die Augen blickten starr, und die Brauen gingen hoch. Er wollte sich anscheinend irgendetwas ins Gedächtnis rufen, und Nechljudow sah auf seinem Gesichte ganz denselben stumpfen Ausdruck, wie ihn jener Mann mit den hochgezogenen Brauen und den vorgeschobenen Lippen gehabt hatte, der ihm am Fenster der Schenke aufgefallen war.

»Ist das eine Hundekälte, äh?«

»Ja, ja.«

»Hast du alle eingekauften Sachen?« fragte Schönbock seinen Kutscher. »Na, dann leb' wohl, habe mich herzlich gefreut, dich wieder mal zu sehen,« sprach er zu Nechljudow, schüttelte ihm kräftig die Hand und bestieg die Droschke. Er winkte noch mit der breiten, mit einem neuen waschledernen Handschuh bekleideten Hand, zeigte dabei die auffallend weißen Zähne in dem lächelnden Munde und fuhr dann rasch davon.

»Bin ich wirklich auch einmal solch einer gewesen?« dachte Nechljudow, seinen Weg zum Advokaten fortsetzend. »Nun, vielleicht nicht ganz so einer – jedenfalls aber war ich auf dem besten Wege, solch einer zu werden und mein Leben so wie dieser da zu verbringen.«


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