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21.

Sobald die Senatoren im Beratungszimmer am Tische Platz genommen hatten, begann Wolff in sehr lebhafter Weise die Motive darzulegen, auf Grund deren die Vorentscheidung kassiert werden müsse. Der Vorsitzende, der auch sonst kein Mann von Wohlwollen war, war heute ganz besonders schlecht gelaunt. Er hatte sich bereits während der Sitzung, als er dem Vortrage zuhörte, seine Meinung gebildet und saß jetzt, ohne auf Wolff zu hören, in seine Gedanken vertieft da. Diese Gedanken beschäftigten sich mit den Aufzeichnungen, die er gestern für seine »Memoiren« niedergeschrieben hatte. Diese Aufzeichnungen bezogen sich darauf, daß nicht er, sondern irgendein Weljanow auf einen gewissen wichtigen Posten berufen worden war, den er selbst schon seit langem zu erhalten gewünscht hatte. Der Vorsitzende Nikitin war fest davon überzeugt, daß seine Urteile über verschiedene Beamte der beiden ersten Rangklassen, mit denen er während seiner Dienstzeit in Beziehung getreten war, ein sehr wertvolles historisches Material bildeten. In dem Kapitel, das er gestern niedergeschrieben, hatte er verschiedene Beamte der beiden ersten Rangklassen ganz gehörig vermuckt, weil sie ihn gehindert hatten, wie er es ausdrückte, »Rußland vor dem Untergange zu retten«, dem seine jetzigen Machthaber es unweigerlich entgegenführten. In Wahrheit hatte er es jedoch nur deshalb getan, weil sie ihn verhindert hatten, ein größeres Gehalt zu beziehen, als er jetzt bezog. Über diese Angelegenheit sann er nun nach und suchte sich auszumalen, in welchem völlig neuen Lichte sie, dank seinen Aufzeichnungen, dereinst der Nachwelt erscheinen werde.

»Ja, versteht sich,« sagte er zu Wolff, der sich mit einer Bemerkung an ihn gewandt hatte, ohne daß er dessen Worte gehört hatte.

Senator Beh hatte Wolff mit nachdenklichem Gesichte zugehört und dabei auf das vor ihm liegende Blatt Papier Guirlanden gezeichnet. Beh war ein Liberaler vom reinsten Wasser. Er hütete die Traditionen der sechziger Jahre wie ein Heiligtum, und wenn er einmal von der strengen Unparteilichkeit abwich, so geschah es nur im Sinne der liberalen Denkweise. So war er im vorliegenden Falle dafür, daß der Beschwerde des Direktors nicht stattgegeben werde, nicht nur darum, weil der Direktor ein fauler Spekulant und ein unsauberer Charakter war, sondern vor allem darum, weil eine Verurteilung des Journalisten wegen Verleumdung des Direktors auf eine Unterdrückung der Preßfreiheit hinausgekommen wäre. Als Wolff seine Beweisführung beendet hatte, nahm Beh, ohne seine Guirlande zu Ende gezeichnet zu haben, mit Wehmut – die offenbar darin ihren Grund hatte, daß er solche Selbstverständlichkeiten erst noch beweisen mußte – das Wort und wies mit seiner sanften, angenehmen Stimme kurz, schlicht und überzeugend nach, wie wenig stichhaltig die Beschwerde sei, worauf er, den Kopf mit dem weißen Haar sinken lassend, sich wieder setzte und seine Guirlande zu Ende zeichnete.

Skoworodnikow, der Wolff gegenübersaß und die ganze Zeit über sich den Kinn- und Schnurrbart mit den dicken Fingern in den Mund gestopft hatte, gab diesen Zeitvertreib sogleich, nachdem Beh seine Rede beendet hatte, auf und führte mit seiner lauten, knarrenden Stimme aus, daß, obschon der Direktor der Aktiengesellschaft ein großer Spitzbube sei, er doch für die Kassation des Urteils eintreten würde, wenn hierfür die gesetzlichen Gründe vorhanden wären, da jedoch solche fehlten, schließe er sich der Auffassung von Iwan Semjonowitsch Beh an, wobei man es ihm ansehen konnte, daß er sich ganz besonders darüber freute, Wolff einen tüchtigen Hieb versetzt zu haben. Der Vorsitzende schloß sich der Meinung Skoworodnikows an, und die Sache war in ablehnendem Sinne entschieden.

Wolff war in ärgerlicher Stimmung, ganz besonders darum, weil er einer nicht ganz einwandfreien Parteinahme überführt schien; er stellte sich jedoch gleichgültig, schlug die Akten der nun zur Verhandlung gelangenden Sache der Maslowa auf und vertiefte sich in ihre Lektüre. Die Senatoren hatten inzwischen geklingelt, verlangten Tee und kamen in ein Gespräch über eine Affäre, die um jene Zeit neben dem Duell Kamenskijs ganz Petersburg beschäftigte. Es handelte sich um ein Verbrechen gegen Artikel 995 des Strafgesetzbuches, bei dessen Begehung ein Departementsdirektor in flagranti ertappt worden war. Während Beh seinen ganzen Abscheu über die Verirrung des Ertappten äußerte, nahm Skoworodnikow die Sache auf die leichte Achsel und begnügte sich mit einigen kräftigen Scherzen.

Inzwischen trat der Nuntius ins Beratungszimmer mit der Meldung, daß Nechljudow und der Advokat bei der Verhandlung der Sache der Maslowa anwesend zu sein wünschten.

»Hier sind die Akten dieses Prozesses,« sagte Wolff – »eine ganz romanhafte Geschichte!« Und er erzählte, was er von den Beziehungen Nechljudows zur Maslowa wußte.

Die Senatoren tauschten ihre Meinung über den Fall aus, rauchten ihre Zigaretten zu Ende, leerten die Teegläser und begaben sich dann in den Sitzungssaal zurück. Nachdem das Urteil in dem vorhergehenden Prozesse verkündet war, machten sie sich an die Sache der Maslowa.

Wolff erstattete mit seiner hohen Stimme sehr ausführlich den Bericht über das Kassationsgesuch der Maslowa, und auch diesmal wieder blieb er nicht ganz unparteiisch, sondern ließ sichtlich den Wunsch durchblicken, daß das Urteil des Gerichts kassiert werden möchte.

»Haben Sie etwas hinzuzufügen?« wandte sich der Vorsitzende an Fanarin.

Fanarin erhob sich, streckte die breite weiße Brust vor und wies mit erstaunlicher Eindringlichkeit und Präzision des Ausdrucks Zug um Zug nach, daß das Gericht in sechs Punkten vom genauen Sinne des Gesetzes abgewichen sei, und außerdem erlaubte er sich, wenn auch nur in Kürze, auf den Kern der Sache einzugehen und die himmelschreiende Ungerechtigkeit des Urteils zu kennzeichnen. Der Ton der kurzen, aber kraftvollen Rede Fanarins war so gehalten, daß es schien, als entschuldige er sich, auf dem bestehen zu müssen, was die Herren Senatoren mit ihrem Scharfsinn und ihrer juristischen Überlegenheit ohnedies besser begriffen als er, und als tue er dies nur darum, weil es die einmal übernommene Pflicht von ihm verlange. Nach Fanarins Rede konnte, wie man annehmen durfte, auch nicht der geringste Zweifel mehr bestehen, daß der Senat die Entscheidung des Gerichts kassieren würde. Ein siegreiches Lächeln verklärte das Gesicht des Advokaten nach Beendigung seiner Rede. Als Nechljudow ihn so sah und sein Lächeln bemerkte, war er überzeugt, daß die Sache gewonnen sei. Als er jedoch die Senatoren ansah, mußte er sich überzeugen, daß Fanarin der einzige war, der da lächelte und triumphierte. Die Senatoren und der Oberstaatsanwaltsgehilfe lächelten und triumphierten nicht, sondern sahen aus wie Leute, die sich langweilten und sich im stillen sagten: »Wir haben solches Zeug, wie du es da vorbringst, schon oft genug gehört, das hat alles keinen Zweck!« Sie schienen alle erst befriedigt, als der Advokat zu Ende war und sie nicht länger unnütz aufhielt. Sogleich nach Beendigung der Rede des Advokaten wandte sich der Vorsitzende an den Oberstaatsanwaltsgehilfen. Selenin sprach sich kurz, klar und präzis dafür aus, daß das Urteil in Kraft bleiben solle, da nach seiner Meinung die vorgebrachten Kassationsgründe nicht stichhaltig seien. Gleich darauf erhoben sich die Senatoren und gingen in das Beratungszimmer. Hier teilten sich die Stimmen. Wolff war für die Kassation; Beh, der begriffen hatte, um was es sich im Grunde genommen handelte, trat gleichfalls voll Eifer für die Kassation ein, indem er den Kollegen in seiner lebhaften Weise ein Bild des Gerichts entwarf und das Versehen der Geschworenen, das er ganz richtig erkannte, hervorhob. Nikitin, der, wie immer, für eine strenge Auffassung, namentlich bezüglich der Formalitäten, eintrat, war gegen die Aufhebung des Urteils. Die Entscheidung lag ganz und gar bei Skoworodnikow. Und dieser stimmte gegen die Kassation, hauptsächlich darum, weil Nechljudows Entschluß, im Namen der sittlichen Forderung dieses Mädchen zu heiraten, ihm im höchsten Grade unsympathisch war. Skoworodnikow war Materialist und Darwinist und hielt jede Äußerung der abstrakten Moral, oder gar der Religiosität, nicht nur für einen verächtlichen Unsinn, sondern für eine Beleidigung seiner eigenen Person. Alle die Umstände, die mit dieser Prostituierten gemacht wurden, das Erscheinen des berühmten Advokaten, der ihre Verteidigung übernommen hatte, hier im Senat, und obendrein noch die Anwesenheit Nechljudows – alles das war ihm im höchsten Maße zuwider. Und er stopfte sich den Bart in den Mund, und schnitt Grimassen, und wußte sich in sehr geschickter und natürlicher Weise das Ansehen zu geben, als wisse er von der ganzen Sache eben nur so viel, daß die vorgebrachten Kassationsgründe nicht ausreichend seien, weshalb er dem Vorsitzenden, der gegen die Kassation sei, beistimmen müsse.

Und so wurde die Beschwerde abgelehnt.


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