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34.

Nechljudow ging in demselben raschen Schritt wie die Gefangenen vorwärts, und obschon er nur ganz leichte Kleider trug, war ihm doch ganz entsetzlich zu Mute von der Schwüle, dem Staub und der unbewegten, glühenden Luft, die über der Straße lag. Nachdem er etwa eine Viertelwerst gegangen war, setzte er sich wieder in die Droschke und fuhr voraus, aber mitten in der Straße, in der Droschke, erschien es ihm noch heißer. Er versuchte, über sein gestriges Gespräch mit dem Schwager nachzudenken, doch erregte ihn diese Angelegenheit jetzt nicht mehr so wie am Morgen. Sie trat in den Hintergrund vor den Eindrücken, die der Aufbruch der Sträflinge aus dem Gefängnis und ihr Marsch durch die Straßen in ihm hervorgerufen hatte. Vor allem aber hemmte diese drückende Hitze seine Gedanken. Im Schatten der Bäume, am Zaune, sah er zwei kleine Realschüler – sie hatten die Mützen vom Kopfe genommen und standen vor einem Fruchteishändler, der vor ihnen auf den Knien hockte. Einer der Knaben schwelgte bereits und leckte eben den kleinen Hornlöffel ab, während der andere noch auf das Gläschen wartete, das soeben für ihn mit irgendeiner gelben Masse gefüllt wurde.

»Wo könnte ich hier etwas zu trinken bekommen?« fragte Nechljudow, der einen unwiderstehlichen Durst verspürte, seinen Kutscher.

»Hier, gleich in der Nähe, ist eine gute Wirtschaft,« sagte der Kutscher, bog um die nächste Ecke und fuhr Nechljudow zu einer Anfahrt mit einem großen Schilde.

Ein aufgeschwemmter Büfettier, der in seinem russischen Hemd hinter dem Ladentisch stand, und ein paar Kellner in einstmals weiß gewesenen Jacken, die in Ermangelung von Gästen selbst an den Tischen saßen, betrachteten mit Neugier den ungewohnten Gast und boten ihm ihre Dienste an. Nechljudow bestellte eine Flasche Selters und setzte sich in einiger Entfernung vom Fenster an einen kleinen, mit einem schmutzigen Tuch bedeckten Tisch.

An einem andern Tische saßen zwei Männer, vor denen ein Teeservice und eine Flasche aus weißem Glase stand; sie wischten sich den Schweiß von der Stirn und rechneten friedfertig irgendetwas aus. Der eine von ihnen war brünett und hatte eine Glatze mit einem Kranz von schwarzen Haaren am Hinterkopf, ganz so, wie ihn Ignatij Nikiforowitsch hatte. Der Anblick des Fremden erinnerte Nechljudow wieder an das gestrige Gespräch mit dem Schwager und erregte von neuem in ihm den Wunsch, ihn und die Schwester vor seiner Abreise noch einmal zu sehen.

»Ich werde bis zur Abfahrt des Zuges kaum noch Zeit dazu finden,« dachte er – »ich will ihnen lieber schreiben.« Er verlangte einen Briefbogen nebst Kuvert und eine Marke, und während er das frische, brausende Wasser schlürfte, überlegte er, was er schreiben solle. Aber seine Gedanken liefen auseinander, und er brachte den Brief gar nicht zustande.

»Liebe Natascha, unter dem peinlichen Eindruck des gestrigen Gespräches mit Ignatij Nikiforowitsch vermag ich nicht abzureisen ...« begann er. »Was weiter? Soll ich ihn wegen meiner gestrigen Äußerungen um Verzeihung bitten? Aber ich habe doch nur gesagt, was ich denke – er wird glauben, daß ich mich von meinen Überzeugungen lossage. Und dann – diese Einmischung in meine Angelegenheiten ... nein, ich kann nicht« – und er fühlte, wie der Haß gegen diesen fremden, selbstgefälligen, einsichtslosen Menschen in ihm von neuem erwachte. Er steckte den unbeendeten Brief in die Tasche, bezahlte seine Zeche und stieg in die Droschke, um den Gefangenentransport bald wieder einzuholen.

Die Hitze hatte sich noch verstärkt. Die Mauern und das Straßenpflaster strömten förmlich eine glühende Luft aus. Die Füße der Passanten mußten anbrennen auf den heißen Steinen – als Nechljudow das lackierte Schutzleder der Droschke mit der nackten Hand berührte, war es ihm, als habe er sich die Haut versengt.

Das Pferd schleppte sich in schlaffem Trabe, einförmig mit den Hufen auf das staubige, unebene Straßenpflaster aufschlagend, durch die Straßen; der Kutscher schlief jeden Augenblick ein. Nechljudow aber saß da, ohne an irgendetwas zu denken, und sah gleichgültig vor sich hin. An einer abschüssigen Stelle stand auf der Straße, dem Torweg eines großen Hauses gegenüber, eine Gruppe von Menschen und ein Eskortesoldat mit dem Gewehr. Nechljudow ließ den Kutscher halten.

»Was ist da los?« fragte er den Hausknecht.

»Mit einem Arrestanten ist was vorgefallen.«

Nechljudow stieg aus der Droschke und trat an die Gruppe heran. Auf den unebenen Steinen des gegen den Bürgersteig abfallenden Straßendammes lag, mit dem Kopfe tiefer als mit den Beinen, ein breitschultriger, nicht mehr junger Arrestant mit rotem Vollbart, gerötetem Gesicht und flachgedrückter Nase, im grauen Gefängnisrock und ebensolchen Beinkleidern. Er lag auf dem Rücken, die Innenflächen der sommersprossigen Hände nach unten gewandt, und aus seiner hohen, breiten, gleichmäßig zuckenden Brust stieg von Zeit zu Zeit ein krampfhaftes Schlucken auf, während die starren, blutunterlaufenen Augen zum Himmel blickten. Vor ihm stand ein finster dreinschauender Polizist, ein Hausierer, ein Briefträger, ein Kommis, eine alte Frau mit einem Sonnenschirm und ein kurzgeschorener Knabe mit einem leeren Korbe.

»Das lange Sitzen im Gefängnis hat sie natürlich geschwächt, und nun führt man sie in diese Höllenglut hinaus,« wandte sich der Kommis, im Tone des Vorwurfes gegen irgendjemanden, an Nechljudow.

»Er wird wohl sterben,« sagte die Frau mit dem Sonnenschirm in weinerlichem Tone.

»Man muß ihm das Hemd öffnen,« sagte der Briefträger.

Der Polizist begann mit den dicken, zitternden Fingern ungeschickt die Bänder an dem sehnigen roten Halse aufzuknüpfen. Er war sichtlich erregt und bestürzt, hielt es aber trotzdem für notwendig, die Menge grob anzuherrschen.

»Was habt ihr euch hier zu versammeln? Es ist ohnedies heiß genug. Ihr steht gegen den Wind!«

»Der Doktor hätte sie untersuchen sollen; man hätte die Schwachen zurückstellen sollen. Statt dessen hat man diesen Halbtoten mitmarschieren lassen,« sagte der Kommis, der offenbar mit seiner Sachkenntnis prahlen wollte.

Der Polizist hatte inzwischen die Bänder des Hemds gelöst; er richtete sich auf und blickte um sich.

»Entfernt euch, sag' ich euch! Die Sache geht euch doch nichts an, was ist denn da groß zu sehen?« sagte er und wandte sich dabei, gleichsam um Zustimmung bittend, an Nechljudow. Als er jedoch in dessen Blicke keinen Beifall las, sah er auf den Eskortesoldaten. Dieser stand beiseite, betrachtete seinen abgetretenen Absatz und verhielt sich gegen die schwierige Lage, in der der Polizist sich befand, vollkommen gleichgültig.

»Die sich drum kümmern sollten, rühren nicht einen Finger. Ist denn das eine Art, einen Menschen so umkommen zu lassen?«

»Mag er hundertmal ein Arrestant sein – jedenfalls ist's doch ein Mensch,« hieß es aus der Menge heraus.

»Legen Sie ihm doch den Kopf höher und geben Sie ihm Wasser zu trinken,« sagte Nechljudow.

»Es ist schon jemand nach Wasser gegangen,« versetzte der Polizist, faßte dann den Gefangenen unter den Armen und schob mit Mühe den Rumpf ein wenig höher.

»Was ist denn das hier für ein Auflauf?« ließ sich plötzlich eine schneidige Kommandostimme vernehmen, und der Revieraufseher, in einem auffallend sauberen, glänzenden Kittel und noch glänzenderen hohen Stiefeln, trat auf die um den Arrestanten versammelte Menge zu. »Fort hier! Ihr habt hier nichts herumzustehen!« schrie er auf die Dastehenden los, bevor er noch wußte, weshalb sie sich da versammelt hatten.

Er kam dicht heran und nickte, als er den sterbenden Arrestanten sah, beifällig mit dem Kopfe, als ob er ebendies erwartet hätte.

»Wie kommt er hierher?« fragte er den Polizisten.

Der Polizist machte seine Meldung: der Gefangenentransport sei vorübergekommen, und der Mann da sei zusammengebrochen. Der Eskorteoffizier habe Befehl erteilt, ihn zurückzulassen.

»Was soll er hier? Aufs Revier mit ihm! Eine Droschke!«

»Der Hausknecht von drüben besorgt schon eine,« sagte der Polizist, die Hand an den Mützenschirm legend.

Der Kommis machte eine Bemerkung über die Hitze.

»Kümmert's dich was, he? Geh deiner Wege!« fuhr der Revieraufseher ihn an und warf ihm dabei einen so strengen Blick zu, daß der Kommis verstummte.

»Wasser sollte man ihm zu trinken geben,« sagte Nechljudow.

Der Revieraufseher maß Nechljudow mit demselben strengen Blicke, sagte jedoch nichts. Als dann der Hausknecht in einem Kruge Wasser brachte, befahl er dem Polizisten, es dem Gefangenen zu reichen. Der Polizist hob den zurückgesunkenen Kopf auf und versuchte, dem Bewußtlosen Wasser in den Mund zu gießen; doch der Gefangene nahm es nicht – das Wasser rann über den Bart hinab und durchnäßte seine Jacke und das staubige Hanfhemd auf seiner Brust.

»Begieß ihm den Kopf!« kommandierte der Revieraufseher. Der Polizist nahm dem Arrestanten die kuchenförmige Mütze ab und goß ihm das Wasser über das krause rote Haar und den nackten Schädel.

Die Augen des Arrestanten öffneten sich noch weiter, wie in plötzlichem Schreck; seine Lage jedoch blieb unverändert. Über sein staubbedecktes Gesicht floß das Wasser in schmutzigen Streifen, aus dem Munde aber kam unverändert dasselbe krampfhafte Schlucken, und das gleiche Zucken ging über den ganzen Körper.

»Da steht ja eine Droschke – warum wird die nicht genommen?« wandte sich der Revieraufseher zu dem Polizisten und zeigte nach Nechljudows Droschke. »Heda, du – vorgefahren!«

»Besetzt,« sagte mürrisch der Droschkenkutscher, ohne den Blick zu erheben.

»Das ist meine Droschke,« sagte Nechljudow, »aber nehmen Sie sie nur. Ich bezahle,« fügte er, zu dem Kutscher gewandt, hinzu.

»Na, warum steht ihr noch?« rief der Revieroffizier. »Immer angefaßt!«

Der Polizist, der Hausknecht und der Eskortesoldat hoben den Sterbenden auf, trugen ihn nach der Droschke und setzten ihn hinein. Er konnte sich jedoch nicht von selbst halten: sein Kopf fiel zurück, und der ganze Körper glitt von dem Sitz herunter.

»Legt ihn hin!« kommandierte der Revieraufseher.

»Es wird schon gehen, Euer Wohlgeboren, ich werde ihn auch so hinbringen,« sagte der Polizist, während er sich neben dem Sterbenden auf dem Droschkensitz placierte und ihn mit seinem rechten Arm unter der Achsel festhielt.

Der Eskortesoldat hob die in bloßen Gefängnispantoffeln steckenden Füße auf und brachte sie in eine natürliche Lage.

Der Revieraufseher ließ seinen Blick noch einmal in die Runde gehen, und als er die Mütze des Arrestanten auf dem Pflaster liegen sah, nahm er sie auf und setzte sie dem Sterbenden auf den zurückgesunkenen nassen Kopf.

»Marsch!« kommandierte er dann.

Der Kutscher sah sich ärgerlich um, schüttelte den Kopf und fuhr im Schritt, in Begleitung des Soldaten, zurück nach der Wache. Der Polizist, der neben dem Arrestanten saß, mußte immer wieder den hinabrutschenden Körper mit dem hin und her wackelnden Kopfe auf den Droschkensitz schieben, während der Soldat, der nebenher schritt, die Beine zurechtlegte.

Nechljudow ging hinter ihnen her.


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