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31.

»Nun, was machen die Kinder?« fragte Nechljudow die Schwester, nachdem er sich ein wenig beruhigt hatte.

Die Schwester erzählte, die Kinder seien bei der Großmutter, der Mutter des Mannes, geblieben. Sie war sehr froh darüber, daß der Streit Nechljudows mit ihrem Manne nicht weiter fortgesetzt ward, und erzählte davon, wie ihre Kinder »Reise« spielten, ganz so, wie er einmal mit seinen Puppen, dem schwarzen Mohren und der Französin, gespielt habe.

»Erinnerst du dich dessen wirklich noch?« sagte Nechljudow lächelnd.

»Ja – und denk dir: sie spielen genau ebenso!«

Das unangenehme Gespräch war zu Ende. Natascha hatte sich beruhigt. Sie wollte in Gegenwart ihres Mannes nicht von Dingen reden, die nur den Bruder interessieren konnten, und um ein allgemeines Gespräch anzuknüpfen, brachte sie die jüngste Petersburger Neuigkeit, den herben Kummer der Kamenskaja, die ihren einzigen Sohn im Duell verloren hatte, aufs Tapet.

Ignatij Nikiforowitsch sprach sich mißbilligend darüber aus, daß die Tötung im Duell aus der allgemeinen Reihe der durch das Gericht abzuurteilenden Kapitalverbrechen ausgeschlossen sei.

Seine Bemerkung gab Nechljudow zu einer Erwiderung Anlaß, und der Streit zwischen den beiden entbrannte von neuem. Die beiden Gegner kamen zu keiner Einigung, und jeder verharrte, die Ansicht des andern verurteilend, auf seinem Standpunkt.

Ignatij Nikiforowitsch fühlte, daß Nechljudow ihn verurteilte, daß er seine amtliche Tätigkeit verachtete, und er hatte den lebhaften Wunsch, ihm die absolute Unrichtigkeit seines Urteils zu beweisen. Nechljudow wiederum war seinerseits empört darüber, daß der Schwager sich in seine Angelegenheiten mit den Bauern einmischte – obschon er im Grunde seines Herzens fühlte, daß jener, wie auch die Schwester und deren Kinder, als seine Erben ein Recht dazu besaßen – und außerdem erfüllte es ihn mit höchstem Unwillen, daß dieser beschränkte Mensch Dinge, die er, Nechljudow selbst, als zweifellos unsinnig erkannte, mit solcher Zuversicht und Ruhe als berechtigt und gesetzlich hinstellen konnte.

Diese selbstgefällige Zuversicht des andern war es, die Nechljudow vor allem reizte.

»Was würde denn das Gericht in diesem Falle tun?« fragte Nechljudow.

»Es würde den überlebenden Duellanten wie einen ganz gewöhnlichen Mörder zu Zwangsarbeit verurteilen.«

Nechljudows Hände wurden wieder kalt, und er fragte hitzig:

»Nun, und was wäre damit erreicht?«

»Der Gerechtigkeit wäre Genüge getan.«

»Als ob die Gerechtigkeit der Zweck der Justiz wäre!« sagte Nechljudow.

»Was ist denn sonst ihr Zweck?«

»Die Aufrechterhaltung der Klasseninteressen. Die Gerichte sind nach meiner Meinung nichts weiter als ein Hilfsmittel zur Erhaltung der bestehenden Ordnung der Dinge, die unserer Klasse von Vorteil ist.«

»Das ist ja eine ganz neue Auffassung,« sagte Ignatij Nikiforowitsch mit ruhigem Lächeln. »Für gewöhnlich wird den Gerichten eine etwas andere Bestimmung zugeschrieben.«

»Theoretisch, gewiß – in der Praxis aber sieht die Sache, wie ich gesehen habe, ganz anders aus. Das Gericht hat lediglich die Erhaltung der Gesellschaft in ihrem jetzigen Zustande zum Zweck, und es verfolgt und bestraft daher sowohl diejenigen, die, wie die sogenannten Politischen, über dem allgemeinen Niveau stehen und dieses Niveau heben wollen, als auch diejenigen, die unter diesem Niveau stehen, die sogenannten typischen Verbrecher.«

»Ich kann nicht zugeben, daß erstens einmal die sogenannten Politischen darum gestraft werden, weil sie über dem Durchschnittsniveau der Gesellschaft stehen. Es handelt sich hier zumeist um einen Auswurf der Gesellschaft, der ganz ebenso, wenn auch in anderer Weise, verderbt ist wie jene typischen Verbrecher, die nach Ihrer Meinung unter dem Durchschnittsniveau stehen.«

»Ich kenne aber Leute, die unvergleichlich höher stehen als ihre Richter – die Sektierer zum Beispiel ...«

Aber Ignatij Nikiforowitsch, der es gewohnt war, daß man ihn weder im Amt noch zu Hause beim Sprechen unterbrach, hörte nicht auf Nechljudow und fuhr fort, mit diesem gleichzeitig zu sprechen, was Nechljudow ganz besonders reizte.

»Auch damit stimme ich nicht überein, daß die Gerichte den Zweck haben sollen, die bestehende gesellschaftliche Ordnung der Dinge aufrecht zu erhalten. Sie haben vielmehr ihre eigene, spezielle Aufgabe ... einerseits die Besserung ...«

»Eine schöne Besserung ... in den Gefängnissen!..« fiel Nechljudow ein.

»Andrerseits die Unschädlichmachung,« fuhr Ignatij Nikiforowitsch eigensinnig fort – »der sittlich verderbten, vertierten Individuen, die die Existenz der Gesellschaft bedrohen.«

»Aber das ist's ja eben, daß die Gerichte weder den einen noch den andern Zweck erfüllen! Die Gesellschaft hat eben kein Mittel, um diesen Zweck zu erreichen.«

»Wieso? Das verstehe ich nicht,« versetzte Ignatij Nikiforowitsch mit gezwungenem Lächeln.

»Es gibt nach meiner Meinung nur zwei vernünftige Strafen – dieselben, die man im Altertum anwandte: die körperliche Züchtigung und die Todesstrafe,« sagte Nechljudow. »Infolge der Verweichlichung der Sitten kamen diese beiden Strafarten mehr und mehr außer Gebrauch ...«

»Das ist ja etwas ganz Neues, und ich wundere mich, es gerade von Ihnen zu hören!«

»Ja, es ist vernünftig, einem Menschen Schmerz zuzufügen, damit er in Zukunft das nicht tue, wofür man ihm Schmerzen zugefügt hat, und es ist auch vernünftig, einem für die Gesellschaft schädlichen und gefährlichen Gliede den Kopf abzuschlagen. Beide Strafen haben einen vernünftigen Sinn. Welchen Sinn aber hat es, einen Menschen, der durch Müßiggang und böses Beispiel verdorben wurde, ins Gefängnis zu sperren, unter Bedingungen, die ihm einen sorglosen Müßiggang zur Pflicht machen und ihn zum Umgang mit den allerlasterhaftesten Menschen zwingen? Oder ihn auf Staatskosten – fünfhundert Rubel pro Kopf macht es aus – aus dem Gouvernement Tula nach dem Gouvernement Irkutsk zu transportieren, oder aus Kursk ...«

»Und doch fürchten sich die Leute vor diesen Reisen auf Staatskosten, und wenn diese Reisen und die Gefängnisse nicht wären, würden wir beide hier nicht so ruhig sitzen, wie wir jetzt hier sitzen.«

»Es ist eine recht zweifelhafte Garantie, die die Gefängnisse uns für unsere Sicherheit geben – da diese Menschen doch nicht ewig darin sitzen und wieder hinausgelassen werden. In diesen Anstalten erreichen die Menschen vielmehr den höchsten Grad der Lasterhaftigkeit und Verderbtheit, die Gefahr wird also nur erhöht und nicht vermindert.«

»Sie wollen damit sagen, daß das Pönitenzsystem der Vervollkommnung bedarf?«

»Es kann nicht vervollkommnet werden. Die Vervollkommnung der Gefängnisse würde weit mehr kosten, als für die Volksaufklärung ausgegeben wird, und würde dem Volke nur neue Lasten aufbürden.«

»Aber die Mängel des Pönitenzsystems können doch keinen Grund dafür bieten, die Berechtigung der Gerichte selbst in Zweifel zu ziehen!« fuhr Ignatij Nikiforowitsch, ohne auf den Schwager zu hören, in seinem eigenen Gedankengang fort.

»Diese Mängel sind leider nicht zu beseitigen,« versetzte Nechljudow mit erhobener Stimme.

»Wie denn also? So soll man also töten? Oder, wie ein Staatsmann kürzlich vorschlug, ihnen die Augen ausstechen?« sagte Ignatij Nikiforowitsch mit sieghaftem Lächeln.

»Ja – das wäre allerdings grausam, aber es wäre zweckmäßig, und das, was jetzt geschieht, ist grausam und unzweckmäßig. Es ist sogar in einem solchen Grade töricht, daß man nicht verstehen kann, wie geistig gesunde Menschen an einer so sinnlos grausamen Sache, wie sie etwa ein Kriminalgericht ist, teilnehmen können.«

»Nun, ich nehme daran teil,« sagte Ignatij Nikiforowitsch erblassend.

»Das ist Ihre Sache. Ich verstehe es jedenfalls nicht.«

»Ich glaube, daß Sie vieles nicht verstehen,« sagte Ignatij Nikiforowitsch mit zitternder Stimme.

»Ich sah auf dem Gericht, wie der Staatsanwaltsgehilfe sich mit aller Kraft bemühte, die Verurteilung eines jungen Menschen zu erzielen, der in jedem nicht verderbten, natürlich empfindenden Menschen nur Mitleid hervorrufen konnte. Ich weiß, daß ein anderer Staatsanwalt das Lesen des Evangeliums als ein Verbrechen behandelte – und ich weiß auch von vielen anderen sinnlosen und grausamen Handlungen der Gerichte ...«

»Ich müßte den Dienst aufgeben, wenn ich die Dinge so auffaßte,« sagte Ignatij Nikiforowitsch und erhob sich.

Nechljudow bemerkte einen ganz besonderen Glanz unter der Brille des Schwagers. »Das sind doch nicht etwa Tränen?« dachte Nechljudow. Es waren in der Tat Tränen – Tränen der Kränkung. Ignatij Nikiforowitsch ging nach dem Fenster, holte sein Taschentuch heraus, räusperte sich, nahm seine Brille ab, um sie zu putzen, und wischte dabei auch die Augen ab. Dann kehrte er zum Diwan zurück, zündete sich eine Zigarre an und nahm nicht mehr teil am Gespräche. Nechljudow hatte ein zugleich schmerzliches und beschämendes Gefühl – es tat ihm leid, den Schwager und die Schwester so schwer gekränkt zu haben, zumal er morgen abreiste und sie nicht mehr wiedersehen sollte. Ganz verwirrt nahm er von ihnen Abschied und fuhr nach Hause.

»Vielleicht ist das wahr, was ich sagte,« dachte er – »er wußte mir wenigstens nichts zu erwidern. Aber ich hätte es doch nicht sagen sollen. Es ist doch noch nicht weit her mit meiner Sinneswandlung, wenn ich mich von einem häßlichen Gefühl so weit hinreißen lasse, daß ich ihn so beleidigen und die arme Natascha so betrüben kann.«


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