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32.

Die Gefangenenabteilung, mit der die Maslowa transportiert wurde, sollte um drei Uhr vom Bahnhof abfahren. Um den Abmarsch der Abteilung aus dem Gefängnis zu sehen und mit ihr zugleich den Bahnhof zu erreichen, wollte Nechljudow noch vor zwölf Uhr nach dem Gefängnis fahren.

Während er seine Sachen und Papiere einpackte, schlug er noch einmal sein Tagebuch auf und las einige Stellen durch. Die letzte Eintragung, die er vor seiner Abreise nach Petersburg gemacht hatte, lautete:

»Katjuscha will mein Opfer nicht annehmen, sie will selbst Opfer bringen. Ich bin von Freude erfüllt über die innere Wandlung, die, wie mir scheint – ich wage kaum, daran zu glauben – sich in ihr vollzieht. Ich wage, wie gesagt, nicht, daran zu glauben – aber es scheint mir wirklich, daß sie wieder auflebt.« Gleich dahinter kam folgende Eintragung: »Ich habe etwas sehr Qualvolles, und doch auch wieder sehr Freudiges erlebt. Ich erfuhr, daß sie sich im Krankenhause schlecht aufgeführt hat. Darüber empfand ich einen tiefen Schmerz – ich hatte nicht erwartet, daß es mir so nahe gehen könnte. Abscheu und Haß erfüllten mich, als ich mit ihr sprach – da fiel mir jedoch ein, wie oft ich, auch jetzt noch, obschon nur in Gedanken, mich dessen schuldig gemacht habe, was ich ihr vorwerfe. Und plötzlich kam ich selbst mir höchst verabscheuenswert vor, während sie mir leid tat – und es ward mir so wohl, so wohl ums Herz. Wenn wir doch nur immer zur rechten Zeit den Balken im eignen Auge bemerkten – um wie viel besser würden wir dann sein!«

Die letzte Eintragung, die er erst an diesem Morgen gemacht, lautete: »Ich bin bei Natascha gewesen, und aus lauter eitler Selbstzufriedenheit war ich nicht gut, war böse, und ein peinliches Gefühl ist danach verblieben. Nun, was soll ich schon tun? Morgen beginnt für mich ein neues Leben. Leb' wohl für immer, du mein altes Leben! Eine Unmenge von Eindrücken habe ich empfangen, doch habe ich noch nicht alles recht verarbeiten können.«

Als Nechljudow am nächsten Morgen erwachte, war seine erste Empfindung das Bedauern über das, was zwischen ihm und seinem Schwager vorgefallen war.

» So darf ich nicht abreisen,« dachte er – »ich muß zu ihnen hin und die Sache wieder gutmachen.«

Als er indes auf die Uhr blickte, sah er, daß es schon zu spät sei, und daß er sich beeilen müsse, wenn er den Abmarsch der Gefangenenabteilung nicht verpassen wollte. Er machte sich rasch reisefertig und schickte den Schweizer und Taras, den Mann der Fedoßja, der mit ihm fuhr, mit den Sachen direkt nach dem Bahnhofe, während er selbst die erste beste Droschke nahm und nach dem Gefängnis fuhr. Der für die Gefangenen bestimmte Eisenbahnzug ging zwei Stunden vor dem Postzuge ab, den Nechljudow benutzen wollte, er hatte daher gleich seine Rechnungen in dem Chambre garnie beglichen, nach dem er nicht mehr zurückzukehren gedachte.

Es war ein drückend heißer Julitag. Die während der schwülen Nacht nicht abgekühlten Steine der Straßen und Häuser und das Eisenblech der Dächer strahlten ihre Hitze in die unbewegliche, glühende Luft aus. Es war windstill, und wenn ein Windstoß sich erhob, trug er nur eine von Staub und widerlichem Ölfarbengeruch gesättigte heiße Luft durch die Straßen. Wenige Menschen nur waren auf den Straßen, und wer sie passieren mußte, bemühte sich, im Schatten der Häuser zu gehen. Nur die von der Sonne schwarzbraun gebrannten Pflasterer saßen in ihrer Dorftracht mitten auf der Straße und klopften mit ihren Hämmern auf die Steine los, die sie in den heißen Sand einzuhämmern hatten. Mürrisch dreinschauende Polizisten standen in ihren Kitteln aus ungebleichter Leinwand mit den orangegelben Revolverriemen darüber, mißmutig von einem Bein aufs andere tretend, auf der Straße, und die auf der Sonnenseite verhängten Straßenbahnwagen, deren Pferde ihre Ohren durch die Schlitze der weißen Schutzdecken gesteckt hatten, fuhren unter lautem Geklingel in den Straßen hin und her.

Als Nechljudow das Gefängnis erreichte, war die Abteilung noch nicht abmarschiert. Im Gefängnis war noch immer die anstrengende Arbeit der Übergabe und Abnahme der zur Absendung bestimmten Gefangenen, mit der man um vier Uhr morgens begonnen hatte, im Gange. Die Abteilung, die diesmal abgehen sollte, bestand aus 623 Männern und 64 Frauen: sie alle mußten nach den Listen, unter Ausschaltung der Kranken und Schwachen, kontrolliert und den eskortierenden Soldaten übergeben werden. Der neue Inspektor, seine beiden Hilfsinspektoren, der Arzt, der Feldscher, der Eskorteoffizier und der Schreiber saßen an einem mit Schriftstücken und Kanzleiutensilien bedeckten Tische, den man auf dem Hofe in den Schatten der Mauer gestellt hatte und vor den die Gefangenen einzeln nacheinander vorgerufen wurden. Jeder mußte untersucht, befragt und in das Verzeichnis eingetragen werden.

Der Tisch war bereits zur Hälfte von den Sonnenstrahlen überflutet. Es wurde heiß und schwül, was sich infolge der Windstille und der Ausdünstungen so vieler auf einem Platze angehäufter Menschen besonders fühlbar machte.

»Was ist denn das, nimmt das noch immer kein Ende?« sagte der große, dicke Eskorteoffizier mit dem roten Gesichte, den hohen Schultern und den kurzen Armen, während er den Rauch seiner Zigarette einzog und durch den über seinen Mund herabhängenden Schnurrbart wieder ausblies. »Ich bin schon ganz erschöpft. Wo nehmen Sie denn all die Menschen her? Sind ihrer noch mehr da?«

Der Schreiber sah in den Listen nach.

»Noch 24 Mann und die Frauen.«

»Na, was steht ihr denn da, immer heran! ...« rief der Offizier den Gefangenen zu, die noch nicht kontrolliert waren und sich unruhig durcheinander drängten.

Die Gefangenen standen schon über drei Stunden in Reihe und Glied, und zwar nicht im Schatten, sondern mitten im heißen Sonnenbrande.

Das war die Arbeit, die im Innern des Gefängnisses vor sich ging. Draußen, am Tore, stand wie gewöhnlich eine Schildwache unterm Gewehr, und ebendaselbst hielten an die zwanzig Lastfuhrwerke für das Gepäck der Gefangenen und die Schwachen, die nicht zu Fuß gehen konnten. An der Ecke des Gefängnisgebäudes stand ein Häufchen von Verwandten und Freunden, die den Aufbruch der Gefangenen erwarteten und ihre mit abmarschierenden Angehörigen noch einmal sehen, vielleicht auch ein letztes Wort mit ihnen tauschen, ihnen dies oder das übergeben wollten. Zu diesem Häufchen gesellte sich auch Nechljudow.

Wohl eine Stunde schon stand er da, da ließ sich hinter dem Tore das Klirren von Ketten, das Geräusch von Schritten, das barsche Rufen der Vorgesetzten und das Räuspern und Murmeln einer großen Menschenmenge vernehmen. Wohl fünf Minuten lang hörte man dieses Durcheinander von Lauten, während zugleich die Aufseher durch das kleine Pförtchen im Tor aus und ein gingen. Endlich ertönte das Kommando. Das Tor öffnete sich mit lautem Dröhnen, schriller klang das Klirren der Ketten, die Eskortesoldaten in ihren weißen Kitteln, mit dem Gewehr auf der Schulter, traten auf die Straße und stellten sich – ein Manöver, das ihnen offenbar schon geläufig war – in einem breiten Rundbogen vor dem Tore auf. Sobald sie aufgestellt waren, ertönte ein neues Kommando, und nun begannen die Gefangenen paarweise herauszukommen, mit kuchenartigen Mützen auf den rasierten Köpfen und Säcken über den Schultern, die zusammengeschmiedeten Beine daherschleppend und den einen freien Arm auf und ab schwenkend, während der andere den Sack auf dem Rücken festhielt. Zuerst kamen die zu Zwangsarbeit verurteilten Männer, alle gleichmäßig in graue Hosen und Arrestantenröcke gekleidet, mit den aufgenähten gelben Tuchflicken auf dem Rücken. Sie alle – Junge und Alte, Magere und Dicke, Blasse und Rote, ob bartlos oder bärtig, ob Russen, Tataren oder Juden – kamen kettenklirrend und hastig, als wenn sie einen weiten Weg vor sich hätten, den freien Arm schwenkend, heraus, gingen jedoch nur etwa zehn Schritte weit, blieben dann stehen und stellten sich gehorsam, je vier in einer Reihe, nacheinander auf. Gleich nach ihnen strömte dicht hintereinander eine Schar von Menschen heraus, die ebenso wie die vorigen glattrasierte Schädel und dieselbe Gefangenentracht hatten, jedoch nicht durch Beinfesseln, sondern nur durch Handschellen aneinandergeschmiedet waren. Das waren die Verschickten. Sie kamen ebenso rasch heraus, machten ebenso prompt Halt und gliederten sich ebenso in Reihen zu vier Mann. Dann kamen die von Gemeindewegen Verschickten, und dann die Frauen, genau in derselben Ordnung: zuerst die zu Zwangsarbeit Verurteilten in grauen Gefängnisröcken und Kopftüchern, dann die Verschickten und darauf die freiwillig Mitgehenden in ihren eigenen städtischen oder ländlichen Kleidern. Einige der Strafgefangenen Frauen trugen ihre Säuglinge an der Brust.

Mit den Frauen gingen auch die Kinder, Knaben und Mädchen. Wie die jungen Füllen zwischen den Stuten der Herde, so tummelten sich diese Kinder zwischen den Arrestantinnen. Die Männer verhielten sich während der Aufstellung schweigend, und ab und zu vernahm man ein Räuspern oder eine kurze Bemerkung. Von der Schar der Frauen dagegen ließ sich beständiges Sprechen vernehmen. Nechljudow glaubte die Maslowa am Ausgang erkannt zu haben, als sie aus dem Gefängnis heraustrat; dann war sie jedoch in der großen Menge der andern untergetaucht, und er sah nur einen wimmelnden Haufen grauer Wesen, die nichts Menschliches, nichts Weibliches an sich zu haben schienen und sich mit ihren Säcken auf dem Rücken und ihren Kindern an der Hand hinter den Männern aufstellten.

Obschon man alle Gefangenen in den Gefängnismauern gezählt hatte, begannen die Soldaten der Eskorte sie doch noch einmal zu zählen und die früheren Listen nachzuprüfen. Diese wiederholte Zählung dauerte recht lange, hauptsächlich darum, weil einige der Arrestanten von ihrem Platze gegangen waren und dadurch Verwirrung in die Zählarbeit der Soldaten gebracht hatten. Die Soldaten schimpften, stießen die äußerlich zwar gehorchenden, doch innerlich widerstrebenden Gefangenen hin und her und zählten sie noch einmal. Als alle zum zweitenmal gezählt waren, ertönte ein Kommando des Eskorteoffiziers, und der ganze Haufe der Gefangenen geriet in Bewegung. Die schwächlichen Männer, die Frauen und die Kinder stürmten, einander überhastend, auf die Fuhrwerke los, brachten ihre Habseligkeiten auf ihnen unter und kletterten dann selbst hinauf. Die Frauen mit den schreienden Säuglingen, die munteren, um die Plätze streitenden Kinder und die finster und niedergeschlagen dreinschauenden Männer – alles kroch um die Wette auf die Wagen und suchte auf ihnen so gut wie möglich unterzukommen.

Einige der Arrestanten nahmen ihre Mützen ab, traten auf den Eskorteoffizier zu und trugen ihm irgendeine Bitte vor. Wie Nechljudow nachträglich erfuhr, baten sie, gleichfalls fahren zu dürfen. Nechljudow sah, wie der Offizier schweigend, ohne die Bittsteller anzusehen, den Rauch seiner Zigarette einzog, wie er dann plötzlich mit dem kurzen Arm gegen einen der vorgetretenen Arrestanten ausholte, und wie dieser, in Erwartung eines Schlages, den rasierten Kopf zwischen die Schultern zog und zurücksprang.

»Kriegst gleich einen Ritterschlag, daß du für lange Zeit genug hast! Geh ruhig zu Fuß!« schrie der Offizier.

Nur einen lang aufgeschossenen Alten, der mit den Fesseln an den Füßen hilflos daherschwankte, ließ der Offizier auf einen der Wagen steigen. Nechljudow sah, wie der Alte, seine kuchenförmige runde Mütze abnehmend, sich bekreuzte und zu den Wagen ging, wie er dann, durch die Fesseln behindert, lange nicht hinaufklettern konnte, und wie schließlich eine alte Frau, die bereits auf dem Wagen saß, ihm behilflich war und ihn am Arme hinaufzog.

Als die Fuhren ganz mit den Säcken vollgepackt waren und die auf den Wagen Fahrenden sich zurechtgesetzt hatten, nahm der Eskorteoffizier die Mütze ab, wischte sich die Stirn, die Glatze und den dicken roten Hals mit dem Taschentuch ab und bekreuzte sich.

»Abteilung – marsch!« kommandierte er.

Die Soldaten klirrten mit den Gewehren, die Gefangenen nahmen die Mützen ab und begannen, etliche mit der linken Hand, sich zu bekreuzen, die Begleitenden riefen ihnen irgend etwas zu und erhielten von ihnen Antwort, die Frauen begannen zu heulen, und die ganze von den in weißen Kitteln steckenden Soldaten eskortierte Abteilung setzte sich, den Staub mit den gefesselten Füßen hoch aufwirbelnd, in Bewegung. Voran schritt eine Abteilung Soldaten, dahinter kamen, mit den Ketten klirrend, zu vieren in einer Reihe, die Träger der Fußfesseln, dann die Verschickten, dann die von Gemeinde wegen Verbannten, zu zweien und zweien aneinander gefesselt, dann die Frauen. Hierauf folgten die mit dem Gepäck und den Schwachen beladenen Fuhrwerke, und auf einem von diesen saß hoch oben eine vermummte Frau, die unaufhörlich jammerte und schluchzte.


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