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Fünfzehntes Kapitel.

Es war eine gute Nacht gewesen, der ein guter Tag, der gute Tage folgten. Vormittags trafen sich Eberhard und der Geheimrat am Bette der Kranken, abends kam Eberhard meistens allein. Der Geheimrat war in die zweite Stelle getreten, er ließ den Kollegen walten, vor dessen Wissenschaft und Kunst er immer den größten Respekt gehabt hatte, und der jetzt vor seinen staunenden Augen ein Wunder zu vollbringen schien. Eberhard rühmte sich dessen nicht; sprach nicht wieder, wie auf dem Blatte jenes ersten Abends, von »besten Hoffnungen«; er war wortkarg bis zur Stummheit. Aber ein Lächeln, das manchmal um den stummen Mund schwebte, und seine glänzenden Augen waren beredt genug: die Miene eines Mannes, der einen Kampf auf Tod und Leben kämpft und keine Zeit hat zu fragen, ob er siegen oder unterliegen wird.

Justus war wie ein Ertrinkender, der in dem Augenblick, da er seine letzte Kraft schwinden fühlt, festen Boden unter den Füßen spürt. War es möglich? Isabel sollte ihm erhalten bleiben? Das Glück war so ungeheuer; er wagte es nicht zu hoffen, um die Rache der Götter nicht herauszufordern. Dennoch, wie hätte er in seiner Verzweiflung verharren können, wenn er auf den geliebten bleichen Wangen den Schimmer wiederkehrender Röte zu bemerken glaubte, die großen Augen gelegentlich in dem früheren Glanze aufleuchteten, die zarten Finger mit festerem Druck seine Hand faßten?

Und mit der Hoffnung, die zögernd in sein Herz zog, kam auch ein Etwas der alten, arbeitsfrohen Kraft zurück. Er bedurfte ihrer wahrlich. Die gerichtliche Untersuchung des Kosmasschen Konkurses war jetzt so weit gediehen, daß sich der angerichtete Schaden übersehen ließ: von den Depots waren nur einige wenige unbedeutende gerettet worden, die übrigen, mit ihnen das Isabels, unwiederbringlich bis auf den letzten Pfennig verloren. Dem Fallissement des renommierten Bankhauses war eine ganze Reihe anderer nicht minder bedeutender und nicht weniger schamloser gefolgt; auf dem Geldmarkt war eine allgemeine Panik ausgebrochen; keiner traute mehr dem anderen; selbst sehr solide Institute wußten nicht, ob sie morgen weiter existieren würden.

Noch vor einem halben Jahr würde Justus der ganze Wirrwarr unberührt gelassen haben, ja, er hätte wohl von seinem früheren Standpunkt nicht ungern gesehen, daß der Tanz um das Goldene Kalb für einmal so gründlich gestört war. Aber jenes verlorene Depot war der ganze Rest von Isabels Vermögen gewesen, dessen Zinsen sie in ihrer leichtlebigen Weise fröhlich verausgabt hatte. Wie sollte er die immerhin bedeutende Summe, die Isabel lächelnd »ihr kleines Taschengeld« nannte, in Zukunft ersetzen. Die für seine Verhältnisse großen Einnahmen, die ihm der Verkauf seines Romans an die Zeitungsfeuilletons und die erste Buch-Auflage gebracht, hatten die neue Einrichtung der Wohnung und die Haushaltungskosten dieses halben Jahres bis auf einen kleinen Rest aufgezehrt; an eine zweite Auflage durfte er bis zur Entscheidung seines Prozesses, der jetzt regelrecht eingeleitet war, nicht denken, und wenn er sich auch längst wieder mit einer größeren Arbeit trug, es hatte ihm, um energisch ans Werk zu gehen, immer an der rechten Stimmung gefehlt und auch sonst, außer ein paar Kleinigkeiten nichts gelingen wollen.

Das mußte jetzt anders werden, war anders geworden. Er hatte sein neues Buch begonnen und wenn er auch tagsüber den Platz an Isabels Bett kaum eine Stunde verließ, so arbeitete er dafür die halben, oft die ganzen Nächte hindurch.

Aber für diesen energischen Fleiß konnte erst die Zukunft den klingenden Lohn bringen, und Justus sah mit Schrecken den Augenblick kommen, wo er – zum erstenmale seit seinen Knabenjahren – auf die Hilfe der Freunde angewiesen sein würde.

Er hatte unter ihnen die Wahl. Bereits am nächsten Tage nach dem Zusammenbruch der Bank hatte ihm Sandor brieflich »für den doch möglichen Fall, daß ihn die Kosmassche Schufterei in Verlegenheit gebracht haben sollte, jede beliebige Summe zur Verfügung gestellt«. – »Sie wissen, lieber Freund,« schrieb er, »ich habe nicht Kind noch Kegel, und mein Mammon ist mir so zur Last, wie alles Übrige in dieser konfusen Welt. Auf Ihrer Schwelle lauern schon graue Schattengestalten genug; die der gemeinen Sorge, welche denn doch wohl die allergraueste ist, soll sich nicht noch dazu gesellen.« – Justus hatte dem warmherzigen Sonderling für seine Güte gedankt, aber »noch schwimme die Galeere«.

Und so hatte er Herrn Körner gedankt, der – ebenfalls brieflich – anfragte, ob er ihn bei einem Geschäft, das er ganz in der Hand habe, und das unbedingt schon in allernächster Zeit einen reichen Gewinn abwerfen werde, mit hunderttausend Mark, die er ihm zur Verfügung stelle, beteiligen dürfe? Justus war überzeugt, daß der Dank eigentlich Eve gebühre, und der Mann des help yourself von selbst niemals auf den ingenuosen Einfall gekommen sein würde.

Aber tief gerührt war er, als, wieder einen Tag später, Professor Richter in Person kam, sich nach Isabels Befinden zu erkundigen, dann nach dem Stand seines Preßprozesses, dann nach dem der Arbeit, die er jetzt unter der Feder habe, zu fragen und endlich – als er bereits die Hand wieder auf dem Thürgriff hatte,– mit etwas unsicherer Stimme zu sagen: Ehe ich es vergesse, Justus! Sie haben jetzt eine solche Menge schwerer Ausgaben und nicht, wie sonst, die Arme frei. Wenn es irgendwie fehlen sollte, und Sie wollten sich eines alten Mannes erinnern, der, wenn er auch in letzter Zeit manchmal nicht ganz zufrieden mit Ihnen gewesen, nie aufgehört hat und nie aufhören wird, Ihnen ein väterlicher Freund zu sein, so würden Sie besagtem alten Manne eine herzliche Freude machen.

Dann war er, ohne Justus' Antwort abzuwarten, mit einer für seine Jahre erstaunlichen Behendigkeit zur Thür hinaus gewesen.

Gott sei Dank, daß Isabel von diesen Dingen nichts ahnte!

Und nichts von der Anklage, die über ihm schwebte, und gegen die er sich bereits in den nächsten Tagen verantworten sollte. Sandor hatte, als sein Rechtsbeistand, die juristische Seite der Frage übernommen; er selbst wollte für die ästhetische und moralische eintreten, und die Ausarbeitung seiner Verteidigungsrede hatte ihn schon manche nächtliche Stunde gekostet, die er nur ungern seiner Romanarbeit entzog. Aber hier handelte es sich nicht um seinen individuellen Fall allein. Es handelte sich um die Freiheit, ohne welche die Poesie so wenig leben kann, wie die Wissenschaft, und die die Staatsgewalt durch die Schranken, die sie ihr ziehen wollte, zu einer kindischen Unmündigkeit verurteilte, welche schlimmer war, als völlige Vernichtung. Es handelte sich für ihn noch ganz besonders darum, ob er auch auf dem letzten Felde, auf welches er sich in dem Kampf gegen die Ogreherrschaft hatte zurückziehen müssen, die Waffen strecken solle oder nicht.

Nein, diese Dinge wären nicht für Isabel gewesen, selbst in den Tagen ihrer fröhlichen Kraft! Sie hatte gerade über die Partien und Stellen seines Romans, die ihm die Anklage zu Wege gebracht, den Kopf geschüttelt und gesagt: Liebes Sonntagskind, Du wirst Dich noch um Deinen hübschen Hals schreiben. Und für wen? für die Menschen, die ja so dumm sind, daß die Engel im Himmel selbst ihnen vergeblich Vernunft predigen würden. Mohrenwäsche ist eine undankbare Arbeit, und die sich für Sonntagskinder nun schon gar nicht schickt. Sonntagskinder haben auf der Welt nichts zu thun, als mit ihren großen blauen Augen in den Wald hineinzuträumen und schöne Feen mit braunen Augen zu lieben und sich von ihnen wieder lieben zu lassen.

Und jetzt sollte er ihr sagen, daß er sich für etwas, was in ihren Augen reine Donquichotterie war, die man gar nicht ernsthaft nehmen könne, im bittern Ernst verantworten müsse vor Leuten, die über dergleichen nicht zu lachen pflegten und des edlen Dons Thathandlungen nicht nach den Gesetzen des irrenden Rittertums, sondern nach den Paragraphen des Strafgesetzbuches beurteilten.

Sehr möglicherweise verurteilten.

Justus dachte mit Schaudern an diese Möglichkeit. Wie konnte er Isabel verlassen, vielleicht auf Monate, jetzt, wo er sich freiwillig nicht auf eine Stunde von ihr trennte; sie selbst jede Minute zählte, bis er wieder an ihrem Bett saß, ihre Hand in der seinen hielt, und sie ihn, ein Lächeln um die bleichen Lippen, fragen durfte: Sonntagskind, liebst Du mich?

Sie hatte es ihn sogar in Marthes Gegenwart gefragt. Er hatte ihr einen zärtlichen Vorwurf aus solcher Indiskretion gemacht und sie geantwortet: Ach was! sie muß sich doch endlich an die Thatsache gewöhnen, daß wir uns lieben.

Marthe mußte noch immer die erkrankte Margarete vertreten. Eberhard hatte darauf bestanden, daß sie blieb; auch Justus hatte sie aufs dringendste darum gebeten, nachdem ihn Isabel versichert, daß sie nicht mehr wie früher unter Marthes Gegenwart leide.

Nämlich, sagte Isabel, seitdem ich weiß: erstens, daß ich, Gott sei Dank, noch nicht zu sterben brauche, und zweitens, Du sie nicht heiratest, wenn ich nach hundert Jahren einmal gestorben bin. Über Sibylle bin ich, trotz Deiner liebenswürdigen Versicherung des Gegenteils, in diesem Punkte noch immer nicht ganz beruhigt.

Es konnte das ja nur ein Scherz sein; aber Isabel hatte ihren Wunsch, daß Sibylle sie, wenn es möglich sei, besuchen möchte, jetzt auch gegen Justus ausgesprochen und ihm damit eine schwere Verlegenheit bereitet.

Sie wußte selbstverständlich von Christines jähem Tode nichts, hatte auch glücklicherweise nicht ein einziges Mal nach ihr gefragt, wie sie denn freilich auch nicht nach Edith, Eve und den anderen Damen und Herren ihrer Bekanntschaft fragte, trotzdem man ihr die von ihnen abgegebenen Karten regelmäßig bringen mußte. Die ließ sie dann durch die schlanken Finger gleiten, behielt vielleicht eine und die andere einen Moment länger in der Hand, legte sie dann aber doch – manchmal mit einem leisen Lächeln – gleichmütig zu den übrigen. So eines Tages die Karte von Herrn von Florisdorf, aus der oben das freiherrliche Wappen prangte, und unten in der Ecke die drei Buchstaben p. p. c. standen. Justus und Marthe waren auf den Einfall gekommen, unter diese Karten gelegentlich eine zu mischen, die von früheren Besuchen der unglücklichen jungen Frau herrührte. So war nach dieser Seite jede Möglichkeit ausgeschlossen, daß sie das Schreckliche erfuhr.

Aber wie sollte es werden, wenn Sibylle wirklich kam? Justus hielt es für das beste, Sibylle selbst die Frage vorzulegen.

Er hatte ihr alsbald nach der Katastrophe in Wannsee einen Besuch gemacht und sie in tiefer Trauer, aber völlig gefaßt gefunden.

Es mag ja hart aus meinem Munde klingen, sagte sie; aber ich habe es kommen sehen, als gegen meinen Willen diese Wiedervereinigung stattfand, die keine Dauer haben konnte. Wer mag Feigen pflücken von dem Dornstrauch? Ich zweifle keinen Augenblick daran, daß sie hat sterben wollen, und Armand sie moralisch gemordet hat. Es zweifelt ja auch niemand daran, der den Verhältnissen auch nur etwas näher gestanden hat, und die gräßliche Heuchelei seiner Danksagung in den Zeitungen für die vielen Beweise der Teilnahme bei dem plötzlichen Tode seiner geliebten Frau wird ihm in den Augen aller rechtlich Denkenden vollends den Stab brechen. Gott hat mich hart prüfen wollen in diesem Leben, durch nichts härter als dadurch, daß er mir diesen zum Bruder gab.

Heute nun, als er kam, ihr Isabels Wunsch mitzuteilen, sagte sie:

Ich weiß es schon durch Marthe, und fühle mich kräftig genug zu der Expedition, vorausgesetzt, daß mir Marthe die Wendeltreppe, von der ich gehört habe, hinaufhilft. Glauben Sie, daß Isabel ein besonderes Anliegen an mich hat?

Ich glaube nicht, erwiderte Justus. Sie will gewiß nur die Freude haben, Sie zu sehen. Sie fragt und verlangt sonst nach niemand, nur nach Ihnen – schon seit Tagen. Ich wäre auch schon früher gekommen; ich fürchtete und fürchte aber, wenn Sie in der Trauerkleidung vor sie treten, wird sie fragen, und wir können ihr das tragische Ende Christines nicht länger verschweigen.

So werde ich ein Kleid anziehen, das nichts verrät, entgegnete Sibylle. Ich habe so wie so einen Widerwillen gegen alles, was auf eine äußerliche Demonstration von Empfindungen hinausläuft, mit denen wir uns in unserm Innern abfinden sollten, und die deshalb so oft die bloße Heuchelei ist. Wenn du fasten willst, so salbe dein Haupt, sagt der Herr. Steht es damit in Widerspruch, wenn ich wünsche, es möchte fortan zwischen uns das geschwisterliche Du eintreten?

Nein, sagte Justus, ihr die Hand reichend.

Denn siehst Du, fuhr sie fort, das ist keine Phrase. Ich habe keinen Bruder außer Dir, und ich wollte, ich wäre Dein leibliches Geschwister und ein Försterkind wie Du. Jetzt kann ich Dir auch mein großes Geheimnis sagen. Ich habe nur noch ein Gebet zu Gott: daß er mich völlig gesunden läßt, damit ich meinen heißesten Wunsch erfüllen und Krankenpflegerin werden kann, wie Marthe. Wenn Gott mein Gebet erhört, so soll und kann nichts mich abhalten zu thun, wonach mein Herz schreit. Ich bin mündig und habe von einer meiner Tanten ein selbständiges kleines Vermögen. Ich will auch nicht in das Augustahospital unter die Komtessen und Baronessen. Ich will in Marthes prunkloses Institut; es ist alles mit ihr und Doktor Eberhard verabredet; ich warte nur noch auf Eberhards definitive Erlaubnis. Die vornehme Welt wird mich für verrückt erklären – es ist mir einerlei. Ich will auch den Vorwurf nicht zurückgeben. Gott wird wissen, warum er so viel Ungerechtigkeit auf Erden duldet und die Ogres Deines Märchens schreckliche Wirklichkeiten sein läßt. Ich weiß es nicht; ich weiß nur, daß ich mit ihnen nichts mehr gemein haben will. Wäre ich ein Mann, so würde ich gegen die Ungerechtigkeit in den Kampf ziehen, wie Du es thust nach Deinen besten Kräften. Da ich ein Weib bin, kann ich nichts, als für mein Teil die Ungerechtigkeit von mir thun. So, lieber Justus, da hast Du meine Beichte als Entgelt für die, die Du mir neulich abgelegt hast. Ich frage nicht, ob Du mich lossprichst; ich weiß es, auch ohne daß Du's mir sagst. Und morgen vormittag will ich zu Isabel kommen.


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