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Neuntes Kapitel.

Es war wieder einmal Freitag – ein rauher, grauer, verdrießlicher Tag im Anfang Dezember. Justus hatte die Wohnung zu einer für ihn ungewöhnlich frühen Stunde verlassen müssen, der Probe eines Aktes seines Stückes auf dem Vorstadt-Theater beizuwohnen. Nur eines Aktes! Das Theater gab heute, wie nicht selten, zwei Vorstellungen – am Nachmittage eine unglaubliche Posse, am Abend Hamlet – man konnte den geplagten Schauspielern nicht verdenken, wenn sie sich weigerten, von dem neuen Stück mehr als einen Akt an einem Tage zu probieren. Es war heute der dritte an der Reihe. Die Schauspielerin, welche die Heldin geben sollte, machte ihre Sache erbärmlich. Justus erklärte dem Direktor, mit dieser Dame sei das Stück unmöglich. Der Direktor mußte es zugeben, aber er habe noch eine andere, erst ganz kürzlich engagierte, die heute abend die Ophelia spiele. Die junge Dame brenne darauf, eine Rolle zu kreieren, von der sie behaupte, daß der Dichter sie eigens für sie geschrieben zu haben scheine. Justus möge sich die junge, wirklich recht talentvolle, nebenbei ungewöhnlich hübsche Person wenigstens einmal ansehen. Justus versprach es, obgleich ihm vor dem Gedanken schauderte, den weiten Weg zu dem Zweck nochmals zurücklegen zu müssen, um sicher wieder eine Enttäuschung zu erleben. Die Probe war auch sonst so schlecht gegangen; er hoffte nichts mehr, während er doch alles fürchten und sich eingestehen mußte: hier sei nur eins zu thun: das Stück augenblicklich endgültig zurückzuziehen. Warum er nicht ausführte, wozu ihn doch die bessere Einsicht so dringend aufforderte, er konnte es selbst nicht fassen. Ich habe eben das Gleichgewicht meiner Seele verloren, sprach er bei sich.

Er hatte Isabel gesagt, daß er zu mittag nicht nach Hause kommen könne. Er hätte es wohl gekonnt – die übers Knie gebrochene Probe war früher, als man gedacht, zu Ende gewesen – aber weshalb seine Verstimmtheit Isabel zeigen, die ihm vorausgesagt hatte, daß es so kommen würde, wie es nun gekommen war? Hatte sie doch auch außer durch ein paar flüchtige Fragen keinerlei Interesse bekundet an einer Sache, die ihm so viel Sorge machte, so schwer auf dem Herzen lag! Dafür würde sie dann mit Friedrich desto eifriger die Arrangements beraten, die für heute nachmittag zu treffen waren, wo sie, wie sie ihm, als er wegging, gesagt, ungewöhnlich viel Gäste erwartete. Für die er dann der höfliche, liebenswürdige Wirt sein sollte, während er sie am liebsten aus dem Hause gejagt hätte, wie Christus die Händler und Wechsler aus dem Tempel! Hatten sie ihm nicht auch den Tempel seiner Häuslichkeit gestört und entweiht mit ihrem nichtigen Treiben und geistlosem Gerede, das oft genug zu dem allergewöhnlichsten Klatsch herabsank, wo sie sich dann erst recht wohlig zu fühlen schienen! In dem Hause eines Schriftstellers freilich, wie hätte es da anders zugehen, was hätte man da anders erwarten und verlangen können!

In der Gesellschaft so trüber Gedanken hatte Justus in einem Restaurant – dem ersten besten, das er auf dem Wege heimwärts traf – sein Mittagsmahl eingenommen. Er hätte, als er wieder auf der Straße stand, nicht zu sagen gewußt, was man ihm vorgesetzt, wo er gewesen. Es war ihm so völlig gleichgültig in dem Gefühl des Verlassenseins, das sich seiner bemächtigt hatte. Wenn er an seine Thür kam, würde ihm der Lärm einer ihm fremden Gesellschaft entgegenschallen; und pochte er an die Thüren der Freunde – nun ja – es würden die alten bekannten Gesichter ihm aufthun, aber auch die alten treuen Herzen sich ihm öffnen? War er sich selbst nicht treu geblieben, wie konnte er Treue von ihnen verlangen?

Ein Herz kannte er, das ihm die Treue bewahrt hatte: Sibylles; und ein unendliches Verlangen, die bleiche Freundin wiederzusehen, ergriff ihn. Seit jenem Besuche, den er in den ersten Tagen nach der Rückkehr von Norderney mit Isabel in dem gräflichen Hotel abgestattet, hatte keine Begegnung zwischen ihr und ihm wieder stattgefunden. Man wußte durch Eberhard, daß die Kur in Karlsbad schier ein Wunder an der Komtesse gethan und sie von ihren Leiden fast ganz befreit habe, wenn sie auch freilich auf völlige Genesung kaum rechnen dürfe; und Isabel, die ein paarmal persönlich sich nach ihrem Befinden erkundigt hatte und nicht angenommen war, ließ es dabei bewenden; es zog sie offenbar nicht zu ihrer Jugendfreundin.

Kein Grund für dich, dem Drange nicht zu folgen, der dich zu ihr treibt, wie den Gläubigen an die Stufen des Altars, seine arme Seele in der Nähe des Allerheiligsten rein zu baden, sprach Justus bei sich, als er im Vestibül des Dieners harrte, der ihn bei der Komtesse zu melden gegangen war.

Mit dem Diener, der zurückkam, erschien Marthe, die der Genesenden einen Besuch abgestattet hatte.

Ich besuche sie eben jetzt nur noch, wenn ich einmal, wie heute, einen freien Tag habe, sagte sie zu Justus. Ihre Kräfte nehmen täglich zu; ich hoffe, wir werden sie noch lange unter uns haben, länger wenigstens, als wir vor einem halben Jahre vermuten durften. Du würdest auch eine Seele an ihr verlieren, die Dir sehr ergeben ist. Wenn ich ihr eine rechte Freude machen will, muß ich von Dir sprechen. Wie geht es Dir selbst? Du siehst nicht so gut aus, wie in Karlsbad.

Hast Du mich damals gesehen?

Du weißt, ich habe scharfe Augen. Nach dem, was ich nachträglich gehört, muß es der Augenblick gewesen sein, als Ihr zu Eurer Trauung gingt. Ist es so?

Ja.

Und Du bist glücklich?

Gewiß!

Bei der Dämmerung, die trotz der angezündeten Gasflammen in dem weiten Vestibül herrschte, konnte er die Züge ihres Gesichtes nicht deutlich erkennen, nur die grauen Augen unter den dunklen Brauen, deren Blick, wie ihm schien, in seine Seele dringen wollte.

Zweifelst Du daran? fügte er mit etwas unsicherer Stimme hinzu.

Du hast recht, erwiderte sie; meine Frage war unschicklich und thöricht überdies. Wenn man glücklich ist, macht man kein Wesens daraus, und ist man es nicht, so verschweigt man es. Ich muß fort. Du wirst den alten Grafen bei der Komtesse finden; er wird Euch bald allein lassen.

Marthe reichte ihm die Hand und ging. Er blickte für einen Moment der schwarzen Gestalt nach, die ihm schlanker und größer schien als sonst.

Wenn man unglücklich ist, so verschweigt man es; sprach er bei sich. Mein Gott, ist es schon soweit gekommen, daß man es mir von den Augen abliest?

Justus fand bei Sibylle außer ihrem Vater ihr Gesellschaftsfräulein, eine bereits ältere Dame, die er noch nicht kannte, und die sich auch alsbald zurückzog. Länger blieb der Graf. Er und Justus waren sich in diesen Jahren wiederholt flüchtig begegnet, hatten sogar einmal in dem Komitee eines großen Wohlthätigkeitskonzertes, für welches Justus den Prolog gedichtet, zusammengesessen. Der Graf war immer die Höflichkeit selbst gewesen; er war es auch heute wieder. Mit dem Befinden der Gräfin in der maison de santé gehe es in letzter Zeit so auffallend viel besser, daß man mit Bestimmtheit auf ihre baldige Genesung rechnen dürfe. Er werde dann endlich, da ja nun auch Sibylles Befinden sich in so erfreulicher Weise anlasse, sein Haus den Freunden wieder öffnen können, zu denen er in erster Linie seine alten Haus- und Familiengenossen Justus und Isabel zähle. Er habe mit Vergnügen gehört, in wie liebenswürdiger Weise Isabel sich der jungen Gräfin angenommen habe und anzunehmen fortfahre. Wenn Armand sich bis jetzt noch nicht bei ihnen habe blicken lassen, so möge das Justus auf Rechnung eines gewissen Schamgefühls setzen, das Armand in Erinnerung der damaligen beklagenswerten Differenzen zwischen ihm und dem Jugendfreunde noch immer nicht überwinden könnte. Er habe das aus dem Munde seiner Schwiegertochter, und daß Armand sich bestimmt in allernächster Zeit den Freunden vorstellen werde.

Dann hatte er Justus die schlanke weiße Hand gereicht, die in den letzten Jahren recht welk geworden war, Sibylle auf die Stirn geküßt und das Zimmer verlassen.

In dem großen Zimmer herrschte ein sanftes Licht, das von einer hinter einem Schirm stehenden, mit einem roten Schleier bedeckten Lampe ausging. Sibylle lag, wieder in Weiß gekleidet, auf der Chaiselongue, unter einer rotseidenen Decke, welche ihre Gestalt bis zum Gürtel hinauf verhüllte. Wie Justus vorhin im Halbdunkel des Vestibüls in Marthes Gesicht eigentlich nur die Augen gesehen hatte, so war es jetzt wieder mit denen Sibylles, nur daß ihre Augen nicht forschend auf ihm ruhten, sondern mit einem milden liebevollen Glanz, der ihm bis ins tiefste Herz schien und es mit einer Lust erfüllte, die doch nicht ohne Wehmut war. Wie oft hätte er sich während der letzten Monate diese Wonne verschaffen können!

Sibylle sprach von ihrer zunehmenden Gesundheit, mit der sie, wie sie lächelnd sagte, gewohnt, wie sie der Leiden sei, vorläufig gar nichts Rechtes anzufangen wisse. Dann von Marthe, der sie mehr verdanke, als sie aussprechen könnte: nicht bloß die sorgsamste, umsichtigste, liebevollste Pflege, in der Marthe unübertroffen dastehe, sondern vor allem die moralische Kräftigung, die von ihr ausströme, wie von jedem, der ganz in der Erfüllung einer großen und heiligen Pflicht aufgehe. Freilich, wie wenige Menschen gebe es, von denen man das sagen dürfe, und doch seien sie das Salz des Lebens, das ohne sie ganz unschmackhaft, ja unerträglich sein würde.

Ich bin, fuhr sie fort, in meinem Leben nur zwei Menschen begegnet, die mir diese höchste Erbauung gewahrt haben: eben Marthe und einem anderen, der dadurch einen unermeßlichen Anteil am Leben meiner Seele hat. Wissen Sie, Justus, wer dieser andere ist?

Sie hatte die letzten Worte so leise gesprochen, daß sie kaum bis zu Justus' Ohr gelangten, und dabei ihre Hände wie im Gebet über die Brust gefaltet. Justus war tief erschüttert. Nein, er hatte nicht geahnt, daß er diesem edelsten Wesen so viel sei! Und zu dieser Glorie sah er sich erhöht, der sich eben noch so tief und erbärmlich gefühlt, wie der im Staube wühlende Wurm, mit dem sich Faust vergleicht! Durfte er die Täuschung dulden, mit dem das herrliche Mädchen sich betrog, ohne selbst zum Betrüger zu werden?

Und dann hörte er jemand sprechen, welcher der Stimme nach er zu sein schien, wie wir im Traume jemand hören, der wir sind und wieder nicht sind, weil das Traumwesen Worte sagt, die wir nicht kennen, und Dinge, die wir nicht wissen.

Es war einmal ein armer Junge, der wollte die Fabrik seines Heimatsdorfes zerstören, die ihm mit ihrem häßlichen Rauch und wüsten Lärm die Poesie seines stillen Waldes vernichtete, bis er begriff, daß nicht der Rauch und der Lärm der Fabrik seine Feinde waren, sondern das Elend, mit dem sie ihre Arbeiter behaftete, die Leiber ausmergelnd und die Seelen verstumpfend und verdumpfend. Und ging nun selber in die Fabrik in der stolzen Hoffnung, er werde da, im täglichen Kampfe mit dem Ungetüm, ihm seine Schwächen ablauern und sich zu nutze machen für die armen Sklaven, die er von ihren Ketten lösen wollte. Seine Wille war gut; aber seine Kraft lag nicht auf diesem Gebiet. Dennoch wäre er seinem Vorsatze treu geblieben und in Stumpfheit und Dumpfheit zu Grunde gegangen wie die anderen Hunderttausende, hätte nicht ein Zufall ihn erlöst und sich selbst wiedergegeben. Sich selbst aber fand und sah in seiner Gabe, die Welt um ihn her durch sein Wort zu verklären, wie der Abendschein die Wipfel der Tannen seines Waldes verklärt hatte, und dadurch die Menschen, so lange sie ihm zuhörten, zu erlösen von dem Elend dieses Lebens, für das ihm die rauchende, lärmende Fabrik nur noch symbolisch war, und dessen ganz eigentliche, entsetzliche Wirklichkeit er erblickte in dem brutalen Egoismus, der aller Orten sich breit macht und jeden, der schwächer ist, mitleidlos von der schmalen Brücke der Existenz hinab in die strudelnden Eiswasser des Unterganges stößt; in dem stumpfsinnigen Materialismus, der das Erstgeburtsrecht des Menschen, das Ideal schauen zu dürfen, für das Linsengericht des Sinnenglücks verkauft; in der schamlosen Herrschsucht, die ihre Orgien feiert auf Kosten des blöden Knechtssinns, der willfährig vor ihr sich krümmt; in dem blasierten Indifferentismus, der mit hohnvollem Lächeln in das Chaos blickt und sagt: je eher der schlechte Spaß ein Ende hat, desto besser. Und so war es denn sein Traum, die Schönheit, die er so herzinnig liebte, aus der grausamen Wirklichkeit, die immerdar geschäftig ist, sie zu zerstören, hinüberzuretten in das Reich der Poesie, damit sie dort throne in unvergänglicher Herrlichkeit.

Abermals ein stolzer Traum, und abermals nur ein Traum. Er hatte eines nicht bedacht und nicht gewußt: er liebte die Schönheit über alles, auch über die Poesie; und in den Wogen der Schönheit versank seine Poesie – für immer.

Die Stimme schwieg, Justus starrte vor sich hin seinem versunkenen Schatze nach, der niemals wieder auftauchen würde. Da fühlte er eine Hand auf der seinen, weich und leicht wie eine Feder, und eine Stimme, leise und melodisch, wie eines Engels, sagte:

Gott verläßt die Seinen nicht. Die Seinen aber sind, die ihn lieben mit ganzer Seele. Wie verschieden auch die Sprache sein mag, die sie sprechen, daran erkennen sie einander, und daß sie des einen Gottes Kinder, und Brüder und Schwestern. Jetzt hätte mein Bruder seine Schwester durch seine Kleingläubigkeit tief betrübt, wüßte sie nicht aus eigener Erfahrung, daß solche Anfechtungen nur die Sprossen der Leiter bedeuten, auf denen wir emporklimmen zu Gott.

Zu der Hand, auf die er seine Lippen gedrückt hielt, fühlte er jetzt die andere, die sich, wie zum Segen, auf sein Haupt gelegt. Er ließ sich von dem Sessel nieder auf seine Knie gleiten. Dann erhob er sich und verließ, ohne aufzublicken, das Gemach, in das jetzt von der anderen Seite das Gesellschaftsfräulein wieder eintrat.


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