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Drittes Kapitel.

Ist es möglich? kann es denn sein?

Justus fragte es sich immer wieder, während er, ohne zu wissen, wo er ging, die Berge jenseits der Fahrstraße nach Pirkenhammer hinaufstieg. Es war nur ein Moment gewesen, daß sein Auge auf der Zeile geruht hatte; aber doch immerhin ein Moment, lange genug, die paar Worte zusammenzubringen, war es nicht eine Illusion gewesen, hatte er nicht mit offenen Augen geträumt. Es wäre ihm das nicht zum erstenmale im Leben begegnet – als er an jenem Abend mit Komtesse Sibylle vor den anderen her durch den Park von Rodek schritt, hatte er sie als seligen Geist neben sich her schweben sehen. Wie einem solche Dinge über die Jahre hinüber wieder in Erinnerung kommen können! Und jener Tag war der letzte gewesen! an jenem Abend hatte er zum letztenmal, während er sein Märchen erzählte, in ihre dunklen Augen geblickt – die dunklen Augen, die ihm nun so weiter durch das Leben gestrahlt hatten! Und jetzt nach so viel Jahren sollte ihm das unermeßliche Glück abermals beschieden sein? Er hatte nicht geträumt; es hatte wirklich dagestanden: Isabel, verw. Baronin von Schönau aus Schönau in Schlesien. Hotel de Saxe!

Er war stehen geblieben, laut aufjubelnd, daß der Fink, der über ihm in dem einsamen Buchengange sein Abendlied sang, erschreckt davonflog.

Und dann warf er sich, atemlos von dem eiligen Lauf bergauf und dem Hämmern seines erregten Herzens, auf die Bank, die da stand, grübelnd, grübelnd, grübelnd.

Warum hatte er, so lange Baron Schönau lebte, an sie schreiben können – in den letzten drei Jahren selten freilich, aber doch schreiben können – und nicht mehr, seitdem ihr Gatte gestorben, und sie wieder frei war? Das war's! wieder frei! Für wen? Nicht für ihn! ihm blieb sie, was sie gewesen, wozu sie sich durch ihre Heirat gemacht: die vornehme Dame, die aus ihrer gesellschaftlichen Sphäre gnädig auf den armen Jungen herabsah, mit dem sie einst als Kind im Walde gespielt, und der in ihren Augen sicher ein armer Junge geblieben war trotz der paar Bücher, die er seitdem geschrieben.

Was sollte da ein Wiedersehen? die alten wahnsinnigen Wünsche, über die die Zeit allmählich eine gütige Aschendecke zu breiten angefangen, wieder aufschüren zu wilden, verzehrenden Flammen? Flammen, die doch wieder beschämt in die Asche zurückkriechen mußten? Weshalb dann also sich in die Unkosten einer Leidenschaft stürzen, deren unvermeidlich sicherer Ausgang Enttäuschung und Beschämung war?

Nein! und tausendmal nein! Hier fliehen, war nicht Feigheit, war einfache Pflicht der Selbstachtung, und die Flucht war so leicht ins Werk zu setzen: es war jetzt sieben Uhr, um zwölf ging der Kurierzug nach Berlin; die paar Sachen waren in einer halben Stunde gepackt; ein Abschiedsbillet an Professor Richter, das Unwohlsein oder irgend etwas anderes als Grund der Abreise vorschützte, in wenigen Minuten geschrieben.

Er war aufgesprungen, hatte ein paar eilige Schritte gemacht und blieb plötzlich wieder stehen.

Wenn sie, wie es ihre Absicht schien, jetzt nach Berlin übersiedelte, so war es ja nur ein Aufschub von wenigen Monaten, Wochen vielleicht. Aber ein Aufschub doch, die Gewißheit doch, daß ihn die Begegnung nicht unvorbereitet traf, wie heute, wo er fühlte, daß er ihr machtlos gegenüberstehen würde – ihr, der vornehmen fremden Dame, wie er der vierzehnjährigen Kameradin machtlos gegenübergestanden hatte.

Und wenn sie, wie anzunehmen, von seiner Flucht erfuhr und mit ihrem unvergleichlichen Scharfsinn auch sofort herausfand, was ihn in die Flucht getrieben – er hatte sich in seinen Briefen, wie zutraulich und vertraulich sie sich auch stets gegeben, immer scheu und stolz zurückgehalten, sein wahres Gefühl nicht einmal sprechen lassen. Und nun jetzt diese Flucht, die so deutlich war, wie es die offene leidenschaftliche Erklärung nur immer sein konnte! Oder war er auch darin ein Narr, daß er sich über Dinge den Kopf zerbrach, die für sie von souveräner Gleichgültigkeit waren? Konnte er für sie kommen und gehen wie die Luft, die an ihren schönen Augen vorüberstrich? Waren die holden Worte ihrer Briefe, ihre Freundschaftsergüsse, die manchmal halben Liebeserklärungen glichen; ihre immer wiederholte Versicherung, wie sehr sie sich auf ein Wiedersehen freue; wie sie den Göttern zürne, die ihr dies Wiedersehen so lange Jahre neidisch vorenthielten – war das alles nicht bloße Phrase gewesen, bloße Übung in einem Stil, den zur Meisterschaft auszubilden, sie auch sonst vielleicht reiche Gelegenheit hatte?

So, selbstquälerisch in sich hineinwütend, war er wieder hastig weitergeschritten, nach rechts, unter der Franz-Josephhöhe, auf dem Weg, der zuletzt an der Kapelle auf einer steilen Treppe und durch ein enges Gäßchen auf den untersten Teil der Alten Wiese führt, und für ihn der kürzeste zu seiner Wohnung war. Sein rasches Herankommen machte eine Dame aufblicken, die schon seit einiger Zeit auf einer kleinen Bank allein saß, der Musik lauschend, welche aus Pupps Kaffeegarten zu der mäßigen Höhe deutlich in jedem Ton heraufklang. Rasch um die Ecke der Felswand biegend, sah er die Dame plötzlich vor sich, wie sie ihn.

Wie vom Blitz getroffen, zuckte er, jäh stehen bleibend, zusammen. Das konnten nur ihre Augen sein – das waren ihre Augen!

Isabel! kam es kaum hörbar über seine zitternden Lippen.

Die großen dunkeln Augen der Dame wurden starr – für einen Moment. Im nächsten leuchteten sie in wundersamem Glanze auf, ein Lächeln flog wie ein Sonnenstrahl über ihre feinen Züge:

Sonntagskind! sagte sie leise, ihre beiden Hände ausstreckend.

Er hatte die kleinen Hände ergriffen und sie wieder und wieder an seine Lippen gepreßt.

Aber Du tolles Sonntagskind, rief sie lachend, so stehe doch nur wenigstens auf! Wenn jemand uns so sähe! Komm, setz Dich zu mir; es ist gerade noch Platz für Dich.

Er hatte nicht gewußt, daß er sich ihr zu Füßen geworfen, und sprang jetzt schnell empor, sich zu ihr setzend, beschämt, scheu, verlegen, unfähig, ein Wort hervorzubringen, wie verzaubert in ihr Gesicht sehend, das Herz geschwellt von einer Seligkeit, daß er meinte, er müsse auf der Stelle wahnsinnig werden.

Ruhig, Sonntagskind, sagte sie, ruhig! Du hast mich ja nun wieder. Nun mußt Du ganz vernünftig sein. Warum starrst Du mich denn so an? Ich habe mich sehr verändert, nicht wahr?

Du bist noch viel, viel schöner. Du bist so schön, daß Worte es nicht ausdrücken können.

Ihre Augen lachten, aber es klang ganz ernsthaft, als sie erwiderte:

Man darf nicht zu stark einsetzen, Justus; man behält sonst nichts übrig für eine effektvolle Steigerung, wenn man länger beisammen ist, wie wir es ja sein werden. So sage ich Dir zum Beispiel nur: Du warst immer ein hübscher Junge und bist es noch. Das ist schmeichelhaft ohne Übertreibung.

Ich aber habe nicht schmeicheln wollen.

Du wirst es in meiner Gesellschaft lernen müssen – ich kann nicht leben ohne jemand, der mir schmeichelt.

Muß denn gerade ich das sein? Ich habe kein Talent dazu.

Du unterschätzt Dich, Sonntagskind. Deine Briefe wimmelten von Schmeicheleien, von jener reizendsten aller Arten, die sich die Augen zuhält, wie ein kleiner verschämter Junge. Und wenn Du mir jetzt mit Deinen großen Augen so unverwandt in die Augen siehst, denkst Du denn, daß ich das nicht für eine Schmeichelei nehme? Nun gieb mir Deinen Arm und führe mich nach Hause; ich wohne im Hotel de Saxe.

Ich weiß es, sagte Justus und erzählte ihr, wie er ihren Namen entdeckt hatte.

Da wärst Du heute abend noch zu mir gekommen? sagte sie. Ich wenigstens hätte es im umgekehrten Falle sicher gethan; aber ich hatte keine Ahnung davon, daß Du hier warst. Apropos! warum bist Du hier? Du siehst nicht krank aus. Ich bin es eigentlich auch nicht, aber furchtbar abgespannt und nervös; da meinte der Arzt, den ich in Berlin konsultierte, Karlsbad werde mir gut thun. Ich bin schon seit vier Tagen hier, ohne aus dem Zimmer gekommen zu sein. Der Übergang aus der absoluten Einsamkeit, in der ich diese letzten hundert Jahre vegetiert, in die große Welt – c'était plus fort que moi. Und dann: ich hatte von der großen Welt noch von früher her – als ich noch jung war, weißt Du – keine schöne Erinnerung. Lebst Du in Berlin viel in der großen Welt? Edith schreibt, sie sähe Dich selten. Warum? Gefällt sie Dir nicht? Sie ist doch so schön, und ich habe ihr so viel zu danken, unter anderem, daß ich in der großen Welt nicht schlecht geworden bin. Anlage dazu hatte ich. Das sah sie rechtzeitig, und da hat sie mir eines Abends ihre Geschichte erzählt: die Geschichte eines schönen Mädchens, dem die Männer durchaus den Kopf verdrehen wollten, und das die Sache einfach umkehrt und ihnen die Köpfe verdreht, bis es einen trifft, der Kopf und Herz auf dem rechten Fleck hat, und den heiratet.

Sie waren, während Isabel so in munterem Tone plauderte, die kurze Strecke bis zur Kapelle gegangen und standen an der steinernen Treppe. Bei ihren letzten Worten war Justus unwillkürlich zusammengezuckt und hatte ihren Arm losgelassen.

Was hast Du? sagte sie.

O, nichts, erwiderte er. Ich meinte nur, die Treppe ist so schmal und Du gingst bequemer allein.

Sie sah ihn mit ihren großen Augen forschend an und sagte:

Ich werde allein gehen, aber nicht, weil die Treppe zu schmal ist, sondern um Dich für Deine Unwahrheit zu strafen. Du hast eben nicht die Wahrheit gesagt; Du hast mich aus einem ganz anderen Grunde losgelassen. Ich will Dir nicht den Gefallen thun und Dir den wahren Grund sagen. Dafür fordre ich von Dir einen Gefallen für heute und immer. Sieh, Justus, es wird so fürchterlich viel in der Welt gelogen und man lügt selbst gelegentlich so viel, daß es einem zum Ekel wird, und man durchaus einen Menschen haben muß, der nicht lügt. Du weißt, der eine bist Du mir damals schon gewesen; sei es mir wieder! Willst Du? Schwöre es mir da bei der heiligen Jungfrau!

Ich will es Dir bei Deinen schönen Augen schwören. Ich glaube, der Schwur ist bindender für mich.

Meinetwegen! Also das ist abgemacht!

So nimm auch wieder meinen Arm!

Nein! ich habe es gesagt. Dabei bleibt es.

Sie ging vor ihm her, die steilen unregelmäßigen Stufen hinab, vorsichtig Stein für Stein wählend. Er sah nun zum erstenmale, daß ihre Gestalt in ihrer anmutigen Zierlichkeit unverändert dieselbe war, wie vor Jahren; nur ein wenig schien sie ihm gewachsen. Er meinte, die anmutigste der Tanagraer Statuetten vor sich zu sehen; er hätte so viel darum gegeben, hätte er das holde Geschöpf in seine Arme nehmen und die Treppe hinabtragen dürfen, wie er sie ehemals über eine sumpfige Strecke im Walde getragen.

Sie waren unten angekommen und standen auf der Alten Wiese mitten im Schwarm der Menschen, die jetzt, scheinbar alle auf einmal, von ihren Spaziergängen zurückkamen.

Mir deucht, ich muß hier nahe an meinem Hotel sein, sagte sie, die wieder seinen Arm genommen hatte.

Nicht zwanzig Schritte, sobald wir glücklich um diese Ecke sind.

Und wo wohnst Du?

In eben diesem Eckhause, – der »Goldenen Harfe«, wie es einem Dichter, und drei Treppen hoch unter dem Dach, wie einem Philosophen zukommt.

Das ist prächtig! Da wollen wir gute Nachbarschaft halten. Wir essen doch unser Abendbrot gemeinschaftlich?

Wie Du befiehlst.

Ich befehle es. In einer halben Stunde hier unten im Restaurant; Anzug: Promenadentoilette. Also, au revoir!

Sie war in das Hotel getreten. Er dachte nicht daran, sein Zimmer aufzusuchen. Eine halbe Stunde vergeht so schnell, und er durfte keine Sekunde zu spät zum Rendezvous kommen.

So warf er sich denn auf eine der Bänke vor der Thür der »Goldenen Harfe«, auf den Menschenstrom blickend, der träge vorüber nach der Alten Wiese floß. Aber er sah niemand in dem Gewimmel, nur alle paar Minuten nach der Uhr. Er hatte es nicht für möglich gehalten, daß eine halbe Stunde so langsam vergehen könne.


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