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Fünftes Kapitel.

Nach ein paar Stunden unruhigen Schlummers weckte Justus das Gezwitscher einer Schwalbe auf dem Dache über dem offenen Fenster seines Zimmers. Wie Isabel sein letzter Gedanke vor dem Einschlafen gewesen war, so war sie jetzt wieder sein erster. Oder hatte er alles nur geträumt: die Begegnung im Walde, das Gespräch gestern abend, ihre herrlichen Augen, ihre kleinen weißen Hände? War es denn möglich, daß, wonach er sich alle diese langen Jahre hindurch gesehnt, nun in herrlichste Erfüllung gegangen war? – die heiße Liebe seiner Knabenjahre; die Schwärmerei seiner Jünglingszeit; das Ideal, das ihm in seinem poetischen Streben immer vorgeschwebt, wie der Stern, der vor den Königen herzieht, die nach dem Heiland der sündigen Welt suchen – daß alles kein leerer Wahn gewesen? nein! als süßeste, holdeste, entzückendste Wahrheit sich offenbart hatte in der zarten Gestalt der Einzigen, Unvergleichlichen!

Justus sprang mit beiden Füßen zugleich aus dem Bett und lehnte in dem offenen Fenster. Die Schwalbe über ihm sang ihr sanftes Lied ruhig weiter. Die Sonne stand noch tief hinter den Bergen, die Häuser lagen in kühlem Grau; von dem Flüßchen, dessen Gemurmel man in der Stille deutlich hörte, wallte bläulicher Nebeldunst auf. Nach rechts konnte er über die Wipfel der Kastanien weg ein paar Fenster in dem oberen Stock des Hotel de Saxe sehen. Er starrte lange auf die Fenster mit den herabgelassenen Vorhängen, bis er lachen mußte bei dem Gedanken, die Vorhänge könnten sich auseinanderthun, und eine alte Dame mit einer großen Nachthaube möchte herausschauen, oder der kahle Kopf eines würdigen Herrn mit grauem Vollbart. Aber selbst die frühesten der Frühaufsteher pflegen des Morgens um drei noch zu schlafen, und so schlief sie jedenfalls auch noch, ob hinter jenen, oder anderen, ihm durch die Bäume verdeckten Fenstern; und es war sicher das Gescheiteste, wenn er selbst sich wieder schlafen legte.

Aber er konnte nicht wieder schlafen. So sprang er denn abermals auf, kleidete sich an und setzte sich an seine angefangene Arbeit. Er überlas die letzten Seiten – mein Gott, wie seltsam fremd war das alles! Hatte denn er das geschrieben? O ja! nur daß er es heute mit anderen Augen las: mit ihren Augen, mit ihrem Sinn, aus ihrem Denken und Empfinden heraus. Würde sie diesem Satze, dessen scharfe Spitze sich gegen eine Poesie richtete, die nicht mehr Poesie, nur noch Schleppenträgerin der Wissenschaft sein wollte, zustimmen, sie, die sich so offen zu dem Realismus von heute bekannt hatte? Würde sie das Motto aus einem bekannten Freiligrathschen Gedichte, das er dem Roman vorsetzen wollte und aus dem er auch den Titel zu dem Roman entnommen hatte – würde sie es nicht geschmacklos, absurd finden:

*

Lasse nur den Alltag nicht
Deine Dichtung dir verschütten!
Sei, der zwiefach reisig steht
Auf der frischerkämpften Grenze:
Tagelöhner und Poet!
Eine beider Würden Kränze!

Tagelöhner und Poet! Würde sie das auch nur verstehen?

Und doch war es seit dem Tage, als der alte Anders ihm im Walde – während die Arbeiter ihr Mittagsmahl im Schatten der Tannen nahmen – einen Strich durch sein Märchen machte und sagte, daß vor dem bedruckten Papier die Feen und alle Luft-, Wasser- und alle Erdgeister aus der Welt verschwinden müßten, sein frommer Glaube und seine innige Überzeugung gewesen. Sein Glaube, seine Überzeugung, daß die Prosa des Alltagslebens die Poesie nicht vernichten dürfe, und auch nicht vernichten könne, solange die Poesie nicht an sich selbst Verrat übe, sondern sein und bleiben wolle, wozu sie aus Hirn und Herz des Menschen geboren: die Befreierin aus der Enge seines Daseins, die Magierin, die ihm die Wände seines Alltagsgefängnisses mit himmlischen raphaelschen Gestalten und glühenden Claude-Lorrainschen Sonnenuntergängen bemalt, und ihm so die Sehnsucht seiner Seele, in der ihn das Leben immer so weiter schmachten läßt, wenigstens auf Stunden stillt.

Tagelöhner und Poet! Er war ein Tagelöhner gewesen, ohne die mindeste Vergünstigung vor den anderen Kameraden voraushaben zu wollen – der Alltag hatte ihm seine Dichtung nicht verschütten können, denn was er gedichtet, als er äußerlich nicht mehr zu den Tagelöhnern gehörte, es war – ihm selbst unbewußt – unter dem Gerassel der Maschinen, in der dumpfen Luft des Raumes, wo er die Papierballen schnürte, gereift. Heute nannten ihn die Leute einen Poeten, und er selbst nannte sich so in Stunden, da er den Kuß der Muse zu spüren glaubte – hatte er darum aufgehört, ein Tagelöhner zu sein, er, dem die tägliche – und wie oft! die nächtliche – Arbeit gerade so weit gelohnt hatte, daß er jedem Menschen frei ins Gesicht sehen durfte?

Würde sie das verstehen?

Aber wenn sie es nicht verstand, was sollte dann aus ihm werden, der ihr Sklave war? dem in diesem Augenblicke das frevle Wort Franzens im Götz von Berlichingen: er wollte seinen Vater ermorden, der ihm den Platz an Adelheids Busen streitig machte, etwas ganz Selbstverständliches schien?

Himmel! sieben Uhr! wo war die Zeit geblieben! Schon kamen vom Markt her die Alte Wiese herauf die Brunnentrinker mit den roten Düten in den Händen. Vorläufig noch in dünneren Scharen, aber vor der Bäckerei von Mandl standen sie schon zuhauf – es war keine Minute zu verlieren!

Justus stürmte die steinernen Treppen in völlig kurwidriger Eile herab, in der Thür an Fräulein Therese vorbei, die ihm verwundert nachblickte, die Alte Wiese hinauf, jeder Dame ins Gesicht starrend, als ob er sie, die er suchte, nicht auf fünfzig Schritte an dem Klopfen seines Herzens erkannt haben würde. Überzeugte er sich doch, als er auf den Markt gekommen, trotzdem der noch von Brunnengästen wimmelte, von den untersten Stufen der großen Treppe aus, fast mit einem Blick, daß sie noch nicht erschienen war. Es war das freilich so schwer nicht, da sie jedenfalls wieder Schwarz tragen würde und so unter den anderen Damen leicht herausgefunden werden mochte. Dafür entdeckte er alsbald seine drei älteren Freunde, die mitten auf dem Platze standen, die Gesichter gegeneinander gekehrt – nur Professor Hasler schien ein wenig seitwärts zu blicken – und offenbar eifrig daran waren, die »aus den Fugen gegangene ästhetische Welt wieder einzurenken«. Er schlich sich um sie herum über die Brücke nach der Sprudelhalle, seinen ersten Becher zu trinken, wobei er sich in der Hast fast die Lippen verbrannte, um dann an den Blumenständen hinter der Halle ein paar Marschall-Niel-Rosen zu kaufen, mit denen er wieder auf den Markt zurückeilte.

Er hätte nicht so zu eilen brauchen: auf dem Markte war sie sicher noch nicht; aber drüben in der Halle des Marktbrunnens glaubte er in der Queue eine Dame in schwarzer Kleidung zu entdecken. Er ging hastig – wieder einen Bogen um die standhaften drei Freunde machend – hinüber. Es war wirklich eine Dame in Schwarz da: eine alte Dame mit weißen Locken – zweifellos eine Engländerin. Er kehrte zu dem Sprudel zurück, einen zweiten Becher zu trinken, trotzdem die vorschriftsmäßige Zwischenpause von zwanzig Minuten noch nicht halb zu Ende war, nur, um mit seinem Pensum fertig zu werden, und stand dann in der Glasthür, mechanisch auf die paar hundert Menschen starrend, die in der großen Musikhalle langsamsten Schrittes, dicht geschart, mit feierlichen Gesichtern die große Ellipse um die Bänke herum immer in derselben Richtung wieder und wieder umwandelten, als seien sie zur Strafe ihrer Sünden verurteilt, sich in der dumpfigen, staubigen Atmosphäre von der Schauermusik eines schlecht besetzten, verschlafenen Orchesters martern zu lassen, während draußen die frischeste, von der Morgensonne milddurchwärmte Frühlingsluft wehte.

In der Hallen-Uhr gerade über ihm schlug es halb. Er schrak zusammen; sie mochte unterdessen gekommen, und – wer weiß – wieder weggegangen sein. Er eilte abermals auf den Markt und sah sie mit dem ersten Blick.

Sie stand drüben an den Stufen zur Marktbrunnenhalle – nicht allein. Neben ihr fand sich ein junger Mann, der Justus bereits seit einigen Morgen aufgefallen war und auch wohl jedem auffallen mußte, denn er war völlig in blendendes Weiß gekleidet bis auf die Füße, die in gelbledernen Schuhen staken, und den Kopf, den ein gelber Strohhut bedeckte, um welchen sich ein blaues Band schlang genau von der Farbe des seidenen Taschentuches, dessen Zipfel aus der Brusttasche des weißen Jacketts kokett hervorblickte. Man hatte Justus gesagt, daß der Herr ein Lieutenant von Lipper aus Berlin sei. Zweifellos ein guter Bekannter Isabels aus ihrer Berliner Zeit nach dem Eifer zu schließen, mit welchem der junge Mann auf sie einsprach und dem augenscheinlichen Interesse, mit dem Isabel ihm zuhörte. Das war nun gewiß so unverfänglich wie möglich. Weshalb sollte sie hier in Karlsbad, wo man vor der Ansprache selbst Unbekannter nicht sicher ist, ein alter Bekannter nicht ansprechen, auch wenn er sich ein wenig närrisch kleidete und schwerlich jemals Moltkes Nachfolger werden würde? Sollte er selbst deshalb in scheuer Ferne stehen bleiben mit seinen Rosen, die nun freilich auch keinen rechten Wert mehr hatten: er sah, daß sie bereits einen Büschel roter Rosen in der Hand hielt.

Sie hatte ihn, als er näher kam, sofort erblickt und streckte ihm die Hand entgegen.

Endlich! es scheint, daß ich immer die erste auf dem Plane bin. Darf ich die Herren miteinander bekannt machen: Herr von Lipper-Leski, Herr Justus Arnold, ein lieber Jugendfreund von mir. Dank Dir, Justus, für die schönen Rosen: das giebt mit denen Herrn von Lippers einen hübschen Strauß.

Sie legte die Rosen zusammen, eine rote und eine gelbe auswählend, die sie an den Busen steckte.

Nun erzählen Sie weiter, Herr von Lipper – Sie glauben nicht, wie mich das interessiert.

So will ich nicht stören, sagte Justus, der einen bedenklichen Blick aufgefangen zu haben glaubte, mit dem ihn der Lieutenant von der Seite gestreift hatte.

Du störst ganz und gar nicht, sagte Isabel. Und dann zu dem Lieutenant:

Sie müssen wissen, daß Herr Arnold ein Jugendgefährte und Schulkamerad von Graf Armand gewesen ist und die ganze Familie sehr genau kennt. Sie brauchen sich also in keiner Weise zu genieren.

Thue ich nicht, meine gnädigste Frau! rief der Lieutenant; wüßte auch wirklich nicht, weshalb, da in Berlin faktisch alle Welt die ganze Affaire bis in die kleinsten Details auswendig weiß.

Wenn von der Verlobung des Grafen mit Fräulein Seligmann die Rede ist – sagte Justus.

Natürlich! sagte Isabel, wovon sonst? Edith hatte mir vor ein paar Tagen davon geschrieben, aber so flüchtig, daß ich aus der Sache nicht recht klug werden konnte. Hat er sie denn schon vorher gekannt?

Er war ihr allerdings vorher ein paarmal begegnet, sagte der Lieutenant, das erste Mal sogar auf einem Hofball, wo –

Die Episode kenne ich, rief Isabel; weiter –

Dann beim Banquier Silbermann, dem großen Rivalen von Seligmann, – Silbermann ist ja der specielle Banquier von Graf Waldburg, und Sie können da gelegentlich unsere sämtlichen Magnaten, besonders die schlesischen, finden – was wollte ich doch sagen? – dieser entsetzliche Brunnen macht einen so konfus, daß man kaum noch seinen Namen schreiben kann – ja so: auf einem Diner, wo er an ihrer Seite saß.

Ist sie hübsch? warf Isabel dazwischen.

Nicht eigentlich, erwiderte Herr von Lipper: klein, mager, enfin unbedeutend, wenn ich auch vermute, daß man sie – in jüdischen Kreisen zweifellos distinguiert aussehend findet.

Also von Liebe keine Rede?

Wo denken Sie hin, gnädigste Frau! rief der Lieutenant, mit einem Lächeln, das diskret sein sollte, die Spitze seines Schnurrbartes drehend. Der schöne Armand, der – na, ich will nichts gesagt haben; aber Liebe – ist ausgeschlossen, rein ausgeschlossen.

Und er hatte wirklich eine Million Mark verloren?

Thaler, meine gnädigste Frau, Thaler! Das war ja, was die Sache so peinlich machte. Armand hatte Mark gemeint und der Prinz behauptete, er habe ausdrücklich wiederholt Thaler gesagt, mit denen er von früher her in Deutschland zu spielen gewohnt sei. Zeugen waren anfangs nicht zugegen gewesen, kamen erst im Verlauf des Spieles, als hinüber und herüber nur noch Zahlen genannt wurden. Das war es ja, weshalb Armand sich zu zahlen weigerte, bis höheren Ortes – mein Gott, man dachte wohl, daß für den Sohn und Erben eines Mannes, dessen Vermögen man auf fünfzig Millionen – diesmal meine ich: Mark – schätzt, so ein Aderlaß von drei Millionen denn doch nicht gerade tödlich sei.

Drei Millionen! murmelte Justus. Wie viel Arbeiterwohnungen hätten dafür geschaffen werden können!

Befehlen? sagte der Lieutenant.

Es ging mir nur so ein Gedanke durch den Kopf, sagte Justus.

Bitte, weiter, Herr von Lipper! rief Isabel.

Du entschuldigst mich wohl einen Augenblick, sagte Justus, ich sehe da einen Herrn, den ich begrüßen muß.

Keine Umstände! sagte Isabel; also, Herr von Lipper –

Sie hatte sich bereits wieder zu dem Offizier gewandt; Justus konnte Professor Hasler, den er vorhin – diesmal ohne seine beiden Gefährten – hatte stehen sehen, vorderhand nicht wieder entdecken. Es war ihm auch gleichgültig; er hatte es nur nicht länger ertragen können, daß sie mit solcher Begierde dem Geschwätz des Gecken zuhörte. Jedenfalls kannte sie bereits den Verlauf der Geschichte: wie der Graf seinem Sohne das Geld nicht hatte geben wollen, dieser es sich von Herrn Seligmann erbeten hatte zugleich mit der Hand von Fräulein Seligmann. Eine miserable Geschichte, doppelt miserabel aus dem Munde des Gecken, der, nach dem faden Lächeln zu schließen, das beständig um seinen ausdruckslosen Mund spielte, das Ganze augenscheinlich für einen köstlichen Spaß hielt, und nicht wenig stolz darauf war, ihn der gnädigsten Frau als neueste der Berliner Neuigkeiten erzählen zu dürfen. Weiter, Herr von Lipper! – Also, Herr von Lipper! – mein Gott, war das die Isabel von gestern abend? die Isabel, von der er heute morgen mit offenen Augen geträumt hatte, während die Schwalbe über ihm ihr leises süßes Lied fang?

Endlich! rief Professor Hasler, der plötzlich seine Schulter berührte. Wir glaubten schon, Sie würden heute wieder nicht kommen. Die beiden anderen sind schon voraus; ich muß noch einen Becher trinken. Schade, daß Sie vorhin nicht dabei waren! Ich habe einen großen Triumph gefeiert, indem ich haarklein bewies, daß nicht, wie Lükke will, die Plastik, und nicht, wie Ihr Freund behauptet, die Poesie, speciell das Drama, sondern die Musik die idealste aller Künste ist. Einfach deshalb, weil sie mit der gemeinen Natur der Dinge schlechterdings nichts zu thun hat, und wie sie nicht aus Naturnachahmung hervorgegangen ist, auch nicht wieder in Naturnachahmung zurücksinken kann. Was auch fände sie in der Natur nachzuahmen: den Gesang der Vögel; das Gemurmel des Baches? das Rauschen der Bäume im Winde? den Donner der Brandung, oder des Himmels? Unsinn! das alles sind Analogien, Andeutungen, Versuche in Worten zu erklären, was sich eben nicht in Worten ausdrücken läßt. Das gerade ist es. Das Unaussprechlichste ist das große Thema der Musik, und darum ist sie, die höchste, idealste aller Künste, auch zugleich die allgemeinste, populärste, menschenfreundlichste, weil jeder Mensch, so lange er auf den Namen Anspruch hat, in sich etwas trägt und fühlt, was er nicht aussprechen kann, sintemalen die Natur sich offenbar darauf nicht vorbereitet und also auch keine Organe dafür geschaffen hat; in Summa: eine Kunst nicht contra, wohl aber supra naturam. Supra naturam, mein junger Freund! Da ist das punctum saliens! Womit denn gar nicht gesagt ist, daß die Musik nicht in ihrer Weise ebenfalls naturalistisch sündigen könne; aber nicht, wie die anderen Künste, durch sklavische Nachahmung einer gemeinen Natur – denn ich komme immer wieder darauf zurück: in der Musik kann von Nachahmung in diesem Sinne gar nicht die Rede sein – sondern indem eine rohe, nicht vergeistigte, oder durch Raffinement vergiftete Sinnlichkeit in ihr einen Ausdruck sucht und, leider Gottes, dann ja auch findet. Sie waren gestern so freundlich, meinen Wagner-Artikel zu loben. Nun, ich selbst finde ihn nicht schlecht. Indessen – aber Sie hören mir nicht mehr zu –

Doch, doch, Herr Professor, sagte Justus; ich habe da nur eine gesellschaftliche Verpflichtung – eine Dame –

So seid Ihr jungen Leute – eine Dame, das entscheidet – das geht allem vor. – Na, ich bin auch einmal jung gewesen. Eilen Sie zu Ihrer Dame; ich will meinen letzten Becher trinken.

Der freundliche alte Herr schüttelte Justus die Hand und entfernte sich schlürfenden Schrittes nach der Sprudelhalle.

Justus hatte, als der Professor ihn anhielt, Isabel in die Marktbrunnenhalle gehen sehen und sie dort während des Gespräches mit dem Gelehrten aus den Augen verloren. Eben trat sie wieder aus der Halle, jetzt in Begleitung zweier Herren: des weißen Lieutenants von vorhin und eines stattlichen Mannes in bequemer, eleganter Brunnentoilette von der Farbe ungefähr seines bereits etwas angegrauten Vollbartes.

Sie wird morgen den halben Markt hinter sich haben, murmelte Justus, an die Gruppe herantretend, diesmal mit der Resignation eines Mannes, der ein Spiel, das er verloren sieht, aus Anstandsrücksichten scheinbar gelassen weiterspielt.

Wer war der alte Herr mit dem interessanten Kopf der so eifrig auf Dich einsprach? rief Isabel ihm entgegen.

Justus sagte es.

Ah, Professor Hasler? den mußt Du mir gelegentlich vorstellen. Ich schwärme für ihn, wie er für Wagner. Verzeihung – Herr Baron von Secken – Herr Justus Arnold –

Der Schriftsteller? fragte der Baron mit höflicher Verbeugung.

Aufzuwarten! erwiderte Justus.

Freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, sagte der Baron, Justus die Hand reichend. Ich habe Ihre Sachen, besonders Ihre letzten Novellen, mit großem Interesse gelesen.

Justus verbeugte sich, der Baron fuhr fort zu ihm zu sprechen in demselben verbindlichen Ton, der für Justus doch etwas Unerfreuliches hatte. Oder waren es die Augen des Mannes: kalte, wie verglaste, und dabei doch stechende mattbraune Augen – die Augen eines, meinte Justus, für den das Laster selbst keinen Reiz mehr hat? Es that ihm ordentlich weh, wenn der Baron, was er während ihrer Unterredung wiederholt that, die Augen nach Isabel wandte – es fiel ihm ein gewisses häßliches Wort ein, mit dem die Franzosen die Meinung des Blickes zu bezeichnen pflegen, den ein Wüstling über ein schönes Weib gleiten läßt.

Isabel hatte inzwischen mit dem Herrn in Weiß weiter gescherzt; plötzlich rief sie: Baron!

Meine Gnädigste?

Sie wissen ja alles: wer ist die schöne Dame da?

Und sie deutete mit einer Bewegung ihres Sonnenschirms nach einer Dame, die eben an der Seite eines Herrn von der Treppe her über den Markt geschritten kam: eine hohe, schlanke Gestalt in sehr einfacher, kleidsamer Toilette, nach dem Ausdruck des schönen ruhigen Gesichtes, der Haltung und dem Gang zweifellos eine Engländerin, wie der große Herr an ihrer Seite in der bequemen Joppe, den weiten hellen Beinkleidern, die er über den gelben Schnürstiefeln aufgeschlagen hatte, nicht minder zweifellos ihr Landsmann war. Die Dame mochte in der Mitte, vielleicht an dem Ausgang der Zwanziger stehen, der Herr nur um wenige Jahre älter sein.

Das ist Lord Glenmore; sagte der Baron.

Sie sind wunderlich, Baron, sagte Isabel; ich frage nach der Dame und Sie nennen mir den Herrn. Auf deutsch: die Dame ist nicht Lady Glenmore?

Um des Barons Mund zuckte die Andeutung eines Lächelns.

Es ist mir ein wahrer Schmerz, gnädige Frau, darauf mit Nein antworten zu müssen. Also: wer ist sie?

Ich weiß es nicht, gnädige Frau; ich habe nur eine dunkle Erinnerung, daß ich die Dame vor – richtig! vor drei Jahren in Paris zum erstenmale getroffen habe in dem Hause einer gewissen Madame de Prailles, in welchem sich allabendlich eine wechselnde Schar von Herren aller Nationen zu versammeln pflegte in der tadelnswerten Absicht, möglichst hoch zu spielen. Sie machte die Honneurs des Salon und nannte sich Georgina Morton – eine Nichte selbstverständlich der Madame de Starney –

De Prailles!

Es kommt wirklich auf den Namen nicht an; der richtige wäre es in keinem Fall.

Sie sagten: zum erstenmale: also ist Ihnen die Dame noch öfter begegnet?

Ja; aber meine Erinnerung ist da noch dunkler, denn sie stammt erst vom letzten Herbst – von Brüssel. Der Herr, der die Ehre hatte, die Dame begleiten zu dürfen, war ein Spanier – ein Graf Laredos. Ich habe hernach mehr Zwanzig-Frankstücke an ihn verloren, als mir lieb war.

Schade! sagte Isabel. Ein so schönes Mädchen.

O ja, sagte der Baron mit einem ironischen Seufzer; sie hätte gewiß ein ruhigeres Leben geführt, wäre sie weniger schön gewesen.

Erlauben, Gnädigste, daß ich mich Ihnen zu Füßen lege?

Ah, Excellenz!

Ein alter, überaus stutzerhaft gekleideter Herr, den das erste Wort, das er sprach, als Österreicher erkennen ließ, war an die Gruppe herangetreten und hatte Isabel die Hand geküßt.

Nein, diese Freud'! rief der alte Herr. Las gestern abend den Namen der Gnädigsten in der Kurliste, bin den ganzen Morgen von Brunnen zu Brunnen gelaufen, bis ich endlich das Glück habe. – Erlaube, mich den Herren vorzustellen: Graf Grumbach. Nein, diese Freud'! diese Freud'! Habe Gnädigste auf der Stelle wiedererkannt, trotzdem es nun gut drei Jahre her sind, daß ich in Kairo das Glück hatte. Werde den gemeinschaftlichen Ritt nach den Pyramiden von Gizeh nie vergessen, Gnädigste: es war der Silberblick meines Lebens. Haben Gnädigste sich schon ordentlich umgeschaut in unserem schönen Karlsbad? Wimmelt dies Jahr von distinguierten Personen. Haben Gnädigste schon die Gräfin Fernow gesehen, die vor sieben Jahren zugleich mit dem hochseligen Könige von Holland und dem Duke of Wellington hier war, und von der man sich in die Ohren raunte –

Ich muß mich jetzt empfehlen, sagte Justus, Isabel die Hand reichend und sich mit einer Verbeugung, in die sie sich teilen mochten, von ihren Kavalieren verabschiedend.

Wir sehen uns noch im Laufe des Tages! rief ihm Isabel nach.

Er winkte flüchtig zurück und eilte weiter, wütend auf sich, auf Isabel, auf die ganze Welt. Wie hatte er es in der Gesellschaft dieser Gecken so lange ausgehalten? wie konnte sie diese Gesellschaft um sich dulden? an solchem öden Geschwätz offenbar Gefallen finden?

Er mochte die Freunde im Freundschaftssaale nicht aufsuchen und ging ohne Umweg nach Hause.

Dort, eine Viertelstunde später an dem Fenster seines Zimmers stehend, das die Alte Wiese hinabblickte, sah er sie langsam auf dem glatten Fahrwege im Schatten der Bäume herankommen, rechts und links von ihr den Baron und die alte Wiener Excellenz, ein wenig seitwärts den Mann in Weiß, der offenbar hinter den beiden anderen in die zweite Linie gestellt war.

Unwillig trat er vom Fenster zurück.


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