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Zehntes Kapitel.

Fräulein Therese hatte ihre Pflegebefohlenen alle glücklich aus dem Hause und durfte sich auf der Bank unter den Kastanien einen Augenblick der Ruhe gönnen. Plötzlich fiel ihr ein, daß sie ja das Briefchen an die Frau Baronin drüben, das ihr Herr Arnold heute morgen zur Besorgung übergeben, noch immer in der Tasche habe. Sie rief in das Haus nach Ursel, die aus dem Keller antwortete, daß sie jetzt den Kaffee für die Herrschaften kochen müsse und keine Zeit habe; dann nach Marie, die von drei Treppen hoch zurückgab, sie müsse erst das Zimmer für den neuen Herrn, der heute vormittag einziehen wolle, in Ordnung bringen. Es war nicht ganz etikettemäßig, daß Fräulein Therese in Person das Briefchen hinüberbrachte; aber die zwingenden Umstände mochten es entschuldigen. Und dann – das Briefchen war sicher ein billet doux, und Fräulein Therese hatte ein Herz für Liebende.

So wollte sie eben hinübergehen, als sie durch die Scheiben des Glaspavillons hinter ihr die Frau Baronin aus der Thür der Dépendance treten sah in Begleitung ihrer Kammerfrau, deren Bekanntschaft sie im Verlaufe des gestrigen Abends bereits gemacht hatte. Die Frau Baronin mußte um den Pavillon herum an ihr vorüber kommen; sie ging ihr bis an die Ecke entgegen und überreichte mit einem höflichen Guten Morgen der Gnädigen das Briefchen, welches diese sofort erbrach.

Fräulein Therese hatte gehofft, daß die Gnädige, wenn sie es läse, sanft erröten würde. Statt dessen wurde diese, deren süßes Gesicht schon auffallend blaß gewesen war, womöglich noch blasser, während sie einen Augenblick nachdenklich dastand, dann das Briefchen zusammenfaltete und sagte:

Ich wußte, daß Herr Arnold einen Ausflug machen wollte und spät zurückkommen würde. Wahrscheinlich zu spät, als daß ich ihn noch sprechen könnte, und ich hatte ihm einige wichtige Mitteilungen zu machen, die er sofort nach Berlin weiter geben muß. Ich habe ihm deshalb geschrieben. Bitte, liebes Fräulein, geben Sie ihm dies, wenn er heute abend kommt! Weiter ist nichts nötig. Es steht alles in dem Brief.

Damit hatte sie einen Brief aus der Tasche genommen, den Fräulein Therese mit einem Knixe und der Versicherung, es werde alles bestens besorgt werden, entgegennahm, worauf die Frau Baronin nach einem ernsten, aber nicht unfreundlichen Kopfnicken mit ihrer Kammerfrau weiter die Alte Wiese hinaufging.

Justus wich ihr aus, denn daß dieser Ausflug, von dem er gestern abend noch nichts gewußt hatte, nur ein Vorwand war, lag ja auf der Hand. Sollte es die Einleitung zu einem Bruch für immer sein? Möglich, aber nicht wahrscheinlich: Dazu liebte er sie zu sehr. Also nur eine Regung des ersten Schmerzes, der die Einsamkeit sucht, und diese Wendung war ihr für den Augenblick willkommen. So brauchte sie ihm doch heute morgen am Brunnen, wenn er weiter in sie drang, nicht zu sagen, daß der Brief, den sie in seiner Wohnung abgegeben, alles enthalte, was er eben aus ihrem Munde nicht hören könne.

So befriedigend dieser letzte Schluß schien, Isabels Gesicht erhellte sich nicht, und sie schritt durch die ihr vom Markt entgegenflutende Menge mit gesenkten Augen dahin, sichtbar aufs tiefste verstimmt, zu großer Freude Base Annas, die einen halben Schritt hinter ihr ging. Wenn Base Anna jemand auf der Welt mehr haßte als so ziemlich alle anderen Menschen, so war es Justus. Seitdem sie ihn gestern zu ihrem Schrecken hier hatte auftauchen sehen, hatte sie tausend ihrer kräftigsten Flüche auf ihn herabgewünscht. Isabel hatte die halbe Nacht an ihn geschrieben, und – er hatte sich davon gemacht. Das gab einen angenehmen Ausblick in eine Zukunft, an der sie schon halb und halb verzweifelt war, seitdem der stattliche Baron, bei dem die Zwanzigmarkstücke so locker saßen, sich gestern vormittag entschieden einen Korb geholt und dafür der verhaßte Försterjunge den ganzen Abend mit ihr hatte zubringen dürfen. Hoffentlich kam es noch besser.

Es war bereits über acht Uhr, als Isabel den Markt betrat, dennoch war der winkelige Platz übervoll. Sie hatte Mühe, bis zur Marktbrunnenhalle zu gelangen, an dessen Holzgeländer sie nun lehnte, die Menge vor ihr musternd, während Anna sich mit ihrem Becher in die Queue gestellt hatte. Das Interesse, mit dem sie sonst alles, das Kleine wie das Große, um sie her beobachtete, heute wollte es sich nicht regen. Kaum daß sie der anmutigen Engländerin an der Seite des Lord Glenmore und der üppigen Schönheit, die vor ein paar Jahren »zugleich mit dem König von Holland« hier gewesen, eine flüchtige Aufmerksamkeit schenkte. Von all den neugierigen und bewundernden Blicken, die fortwährend, und je länger sie so unbeweglich stand, immer häufiger und eifriger auf sie gerichtet waren, sah sie nichts. Wohl aber konnte sie zu ihrer Genugthuung weder Herrn von Lipper, noch Baron von Secken in dem Gewühle bemerken. Dabei hatte sie zum erstenmale wieder an die Episode gestern im Theater gedacht, und für ein paar Momente ihr scharfer Humor es über die trübe Stimmung, die sie erfüllte, davongetragen. Es war ja auch zu lächerlich gewesen! Ob der Mann den Mut haben würde, sich noch weiter in Karlsbad zu prostituieren?

Sie fragte es Excellenz Grumbach, der jetzt so zierlich und so schnell, als die Lackstiefel und die fünfundsiebzig Jahre irgend verstatteten, an sie herangetänzelt kam.

Zuerst diese Rosen, Gnädigste, als ein kleines Zeichen der Anbetung Ihres glühendsten Verehrers, erwiderte die Excellenz, ihr eine Handvoll der schönsten, langstieligen, gelben Rosen mit tiefer Verbeugung reichend. Und was Gnädigste fragen, ist genau dasselbe, worüber sich der ganze Markt bereits seit zwei Stunden den Kopf zerbricht: wird er kommen? wird er nicht kommen? Hier in meinem Taschenbuch ist eine ganze Seite voll von Wetten, die ich darauf entriert habe. Ich wette auf ja, – erlauben Gnädigste, daß ich Sie mit meinem Freunde, Herrn Hauptmann von Florisdorf, bekannt mache, der schon seit gestern darauf brennt, sich der Gnädigsten zu Füßen zu legen – er wettet auf nein.

Und hätte eigentlich gar nicht wetten dürfen, sagte der Hauptmann, nach meinem Grundsatz, nicht zu wetten, wenn ich zu viele Points vor meinem Gegner voraus habe. Indessen, ich habe Ihnen ja die Scene gestern abend im Theatercafé ehrlich erzählt, Graf.

Welche Scene? fragte Isabel.

Wenn es die Gnädigste interessiert, sagte der Hauptmann.

Aber gewiß, gewiß, lieber Florisdorf, rief die Excellenz, sämtliche Beteiligte, oder doch die Hauptbeteiligten sind ja gute Bekannte der Gnädigsten, der Herr von Arnold sogar ein teurer Jugendfreund von ihr.

Dann, Herr Graf, sagte der Hauptmann, hätte ich an Ihrer Stelle von der Sache vor der Gnädigsten lieber nicht angefangen.

Jetzt müssen Sie erzählen, Herr von Florisdorf; ich bitte Sie! sagte Isabel, die großen Augen mit einem so seltsam starren Ausdruck auf den Hauptmann gerichtet, daß dieser unwillkürlich die seinen niederschlug.

Ich kann mich geirrt haben, gnädigste Frau, erwiderte er; und ich hoffe jetzt, daß ich mich geirrt habe; indessen –

Ich bitte, erzählen Sie, was Sie wissen! sagte Isabel noch dringender mit fliegendem Atem.

Der stattliche Offizier war in großer Verlegenheit. Er hatte bereits gestern aus der Ferne die schönen Augen der Unbekannten bewundert; aber nicht gewußt, daß sie so schön seien. Er glaubte, schönere nie gesehen zu haben. Und nun sollte er sich bei ihr mit der Erzählung seines Erlebnisses von gestern abend einführen, an dem sie so lebhaften und sichtlich peinlichen Anteil nahm. Dazu wurde ihm sein Bemühen, die Sache möglichst harmlos darzustellen, durch die Excellenz vereitelt, die alle Augenblicke dazwischen rief: Aber, Liebster, Bester, vorhin haben Sie es ganz anders erzählt! Schließlich mußte er selbst zugeben, daß die von ihm aus nächster Nähe beobachtete Scene einen sehr ernsten Charakter gehabt habe.

Indessen, gnädige Frau, schloß er, dergleichen kommt alle Tage vor und wird nachträglich durch ein Wort der Entschuldigung applaniert. Und wenn ich gewettet habe, daß der Herr von Lipper heute nicht auf der Bildfläche erscheinen wird, so ist es wahrhaftig nicht des gestrigen Rencontre wegen, dem ich gar keine Bedeutung beilege, sondern weil ich hoffe, daß der Herr Takt genug hat, von einem Orte zu verschwinden, wo sich der Fluch der Lächerlichkeit auf Tritt und Schritt an seine Fersen heften muß.

Ich danke Ihnen, sagte Isabel, ihm die Hand reichend. Nun aber ist es wirklich die höchste Zeit, daß ich an meinen Brunnen denke. Auf Wiedersehen!

Was sagen Sie, Florisdorf, flüsterte Excellenz Grumbach, als Isabel den Rücken gewandt hatte. Ist es nicht ein famoses Weib?

Der Hauptmann antwortete nicht. Seine Blicke hingen an der schlanken leichten Gestalt, die eben hinter einer Gruppe von Menschen verschwinden wollte.

Und Sie sollten sie erst zu Pferde sehen, sagte die Excellenz. Ich bin einmal mit ihr zusammen nach den Pyramiden von Gizeh geritten. Es war der Silberblick meines Lebens.

Ich denke, in Ägypten bedient man sich zu solchen Gelegenheiten der Esel, sagte der Hauptmann mit einem unbestimmten Lächeln.

Es können auch Esel gewesen sein, meinte die Excellenz nachdenklich.

Ich vermute fast, sagte der Hauptmann, sich mit einem höflichen Gruße verabschiedend.

Base Anna war mit einem vollen Becher an Isabel herangetreten.

Ich habe ihn schon zweimal weggießen müssen, sagte sie mürrisch.

So thu' es zum drittenmal, sagte Isabel. Ich will nicht trinken.

Sie trat wieder an die hölzerne Balustrade der Halle und ließ ihre scharfen Augen über den Platz schweifen, der während der letzten Minuten sich sehr gelichtet hatte. Von den Personen, die außer Justus in der Erzählung des Hauptmanns figuriert hatten: Herr von Lipper, der Baron, Dr. Eberhard, war keine da.

Es ist kein Zweifel, sprach sie leise vor sich hin.

Sie schlug den Heimweg über die Alte Wiese ein, bleicher noch und in sich gekehrter, als sie vorhin gekommen war. Anna, die sich jetzt einen vollen Schritt hinter ihr hielt, lächelte wiederholt ein böses Lächeln. Was der Herr da in der Brunnenhalle Isabel erzählt und wovon sie ein und das andere Wort aufgefangen, hatte offenbar mit dem Briefchen vorhin im Zusammenhang gestanden. Irgend etwas war mit dem verhaßten Försterjungen passiert, und etwas für Isabel Erfreuliches war es nicht gewesen. Das war ihr vorläufig genug.

Sie gelangten zur Goldenen Harfe. Von Fräulein Thereses Pflegebefohlenen war noch keiner vom Brunnen zurück; sie durfte also noch auf ihrer geliebten Bank im Schatten der Kastanien in gewohnter Weise die Passanten mustern. Isabel trat rasch auf sie zu, die sich knixend von der Bank erhob.

Liebes Fräulein, sagte Isabel, ich habe am Brunnen einen Bekannten aus Berlin getroffen, der mir mitgeteilt hat, daß die Sache, wegen derer ich heute morgen an Herrn Arnold geschrieben, erledigt ist. Der Brief ist nicht mehr nötig. Wollen Sie so freundlich sein und ihn mir wiedergeben!

Fräulein Therese hatte den Brief bereits zu einigen anderen Sachen gelegt, die heute morgen für Justus eingegangen waren. Sie lief ins Haus, ihn zu holen.

Ich gebe ihn nur ungern wieder weg, sagte sie, Isabel den Brief einhändigend, mit einem verschämten Lächeln.

Warum?

Ich bin überzeugt, Herr Arnold würde ihn trotzdem gern gehabt haben, sagte Fräulein Therese in ermutigendem Ton.

Sie wurde für ihr keckes Wort durch ein Lächeln der schönen Dame belohnt. Aber es war ein recht trauriges Lächeln gewesen, meinte Fräulein Therese, und um die feinen Lippen hatte es so eigen gezuckt, wie bei jemand, dem das Weinen nahe ist.

Lieber Gott, sagte die Gutmütige bei sich; es sollte mir leid thun; und wiederholte das Wort innerlich noch mehrere Male, ohne recht zu wissen, was ihr leid thun sollte.

Inzwischen hatte Isabel ihre Wohnung erreicht, war mit für sie ungewöhnlicher Hast die Treppen hinaufgestiegen und hatte sich sofort in ihr Zimmer begeben, dessen Riegel Anna, die atemlos gefolgt war, zuschieben hörte.

In ihrem Zimmer, allein, vor jedem Beobachter sicher, begann sie mit ungleichmäßigen Schritten auf und abzugehen, von Zeit zu Zeit die Hände leidenschaftlich ringend. Dann warf sie sich auf das Sofa, das Gesicht nach unten, und lag so lange Zeit, während wieder und wieder ein heftiges Zucken den zarten Körper erschütterte.


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