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Sechstes Kapitel.

Die treue Trösterin in so mancher schweren Stunde seines Lebens: die Arbeit hatte Justus auch diesmal über den halben Vormittag weggeholfen, als Professor Richter ihn zu besuchen kam. Eve hatte ihrem Brief von gestern alsbald einen zweiten folgen lassen. Der Bruch ihres Gatten mit dem Grafen sei nicht nur ein definitiver, sondern auch die sofortige Übersiedelung nach Berlin beschlossen. »Besonders auf meinen Antrieb,« schrieb Eve, »denn jeder neue Tag hier bringt Karl nur neuen Ärger und Kränkungen. Sein Kontrakt bindet ihn freilich noch auf ein Jahr, aber von dem Grafen, bei dem alles käuflich ist, kann man auch seine Freiheit mit dreißig und einigen Silberlingen erkaufen. Die Hauptsache ist jetzt, eine passende Wohnung für uns zu finden. Ich darf Dich und Justus nicht mit dieser Mühsal belasten; ihr habt beide Wichtigeres zu thun. Überdies seid ihr noch auf acht Tage dem Sprudel verpflichtet. Ich fahre deshalb noch heute abend nach Berlin; werde mit cäsarischer Geschwindigkeit kommen, sehen, siegen, d. h. finden, hierher zurückkehren, Mann, Kind und Kegel aufladen, und auch hoffentlich, wenn ihr heimkehrt, alles in schönster Ordnung in einer bestgelegenen, sehr geräumigen, höchst komfortablen Wohnung – wir haben es ja glücklicherweise dazu – präsentieren können.« –

Der Professor faltete den Brief zusammen und trocknete sich die nasse Stirn.

Was sagen Sie dazu, Justus?

Daß ich heute abend abreisen und Eve beim Aufsuchen der Wohnung helfen werde.

Ein vortrefflicher Plan, sagte der Professor, den Brief einsteckend; nur daß Sie sich dabei in der Person irren. Nicht Sie sind die betreffende; ich bin es.

Aber Eve hat Sie noch gestern so dringend gebeten, Ihre Kur nicht wieder, wie gewöhnlich, abzubrechen, während ich –

Unsinn, lieber Freund! Von Ihnen kann gar nicht die Rede sein. Sie sind zum erstenmale hier – das erste Mal entscheidet und darf nicht übers Knie gebrochen werden. Überdies sehen sie heute wieder ganz erbärmlich aus – schon Hasler hat es heute morgen bemerkt – nein! das geht nicht; ich erlaube es nicht. Für mich liegt die Sache ganz anders. Wer sich, wie ich, nun bereits zum zwanzigstenmale hier herumtreibt, hat sich das Recht erworben, sein eigener Arzt zu sein, und ich spreche mich kraft meines guten Rechtes mit drei Wochen frei. Darin haben ja nun Sie wieder recht: das arme Kind darf nicht eine Woche lang durch unsere entsetzlichen staubigen Straßen in den fürchterlichen Mietskasernen vom Morgen bis zum Abend, treppauf, treppab mutterseelenallein gejagt werden, um, wo möglich, doch nicht zu finden, was sie sucht. Ich kenne mein Berlin – eine Fahrt von einer Stunde – sagen wir: von zwei – und die Sache ist erledigt.

Und Professor Lükke, der gute Hasler –

Da bringen Sie mich in das rechte Fahrwasser, rief der Professor, vom Stuhle auffahrend. Ich würde ja trotz alledem und trotz der greulichen Hitze, die mich noch umbringen wird, ein übermenschliches thun, und eine vierte Woche aushalten, wenn die beiden Kerls nicht wären. Mit denen ist es nicht mehr zum Aushalten – schlechterdings nicht. Weiß der Himmel, ob er es nur thut, mich zu ärgern, oder ob er wirklich ganz von Gott verlassen ist, aber der Lükke, der früher, trotz Winkelmann, für die klassische Kunst geschwärmt, das Parthenonfries das hohe, heilige, unanfechtbare Evangelium der wahren Schönheit genannt hat, und kaum noch Michel Angelo gelten lassen wollte – er wirft immer offener die Fahne des modernen Realismus auf, will mir den manierierten Reinhold Begas als Kunstheiland aufreden und mich, wie es scheint, verrückt machen. Und Hasler! –der gute Hasler! ja, mein Gott, der Mann wird ja rein kindisch. Heute morgen – auf dem Markt – Sie hätten es nur hören sollen – behauptete der Mann alles Ernstes, nicht die Poesie, sondern die Musik sei die eigentliche, die ideale Kunst, die Kunst aller Künste! Ist es erhört? Die Musik, bei der sich jeder zu jeder Zeit denken mag, was er will, weil ihr selber nichts so fern steht, als das Denken, und die so im Dunkel des Unbewußten umhertappt wie ein Mädchen beim Blindekuhspiel mit verbundenen Augen und ausgestreckten Armen; die Musik, in der einer ein Meister sein kann, wenn er noch nicht ganz trocken hinter den Ohren ist, die Kunst der Künste! Und dabei soll einem der Sprudel bekommen! Aber so viel ist gewiß: keine Macht der Welt bringt mich wieder nach Karlsbad, wenn ich nicht sicher bin, daß die beiden Menschen während der Zeit in München und Wien dingfest gemacht sind.

Justus mußte lächeln, so wenig heiter ihm zu Sinn war. Der treffliche Mann, der in scheinbar größter Erregung in dem kleinen Zimmer auf und ab lief, glaubte ja von allem, was er da vorbrachte, kein Wort; sagte alles nur, sich wo möglich einzureden, daß er sich die verhaßte vierte Woche schenken müsse, und würde untröstlich sein ohne die sichere Hoffnung, die beiden alten Freunde im nächsten Jahre an demselben Tage zu derselben Stunde hier in Karlsbad wiederzutreffen.

Bereits heute mittag mit dem Zweiuhrzuge wollte er fort. Justus' Begleitung zum Bahnhof lehnte er auf das Entschiedenste ab: Die Hitze sei zu greulich, der Weg zu abscheulich und Justus sehe so schon angegriffen genug aus. Auch müsse er ihm in die Hand versprechen, während der noch restierenden acht Tage keinen Strich mehr an seiner Arbeit zu thun. Er habe für seine jungen Jahre schon genug geleistet, und die Unsterblichkeit laufe ihm nicht davon, auch wenn er sie acht Tage länger antichambrieren lasse.

Damit stürmte er zur Thür hinaus so schnell, daß Justus ihm kaum folgen konnte und ihn eben nur noch die obersten Stufen der steinernen Wendeltreppe hinablaufen sah.

Wie der Sprudelkopf nur zu der Tochter kommt, die eigentlich Euphrosyne heißen müßte, murmelte Justus, in sein Zimmer zurückkehrend. Gott sei Dank, daß er mich nicht beim Wort genommen und ich nicht statt seiner nach Berlin zu reisen brauche!

Er trat an den Tisch, legte die Blätter zusammen, ohne die letzten Zeilen, seiner Gewohnheit gemäß, zu überlesen, und sah nach der Uhr. Es war eben zwölf: für Karlsbald die richtige Visitenzeit. Während er sich ankleidete, mußte er ein paarmal lächeln über die noch ganz besondere Sorgfalt, mit der er heute seine Toilette machte, als wolle er mit dem Mann in Weiß und dem alten Wiener Stutzer den hoffnungslosen Kampf aufnehmen. – Das waren ja nur Karikaturen; aber den Herrn Baron – den verzeihe ich ihr nicht. Und wenn ich wirklich, wie sie sagt, ihr besseres Selbst bin; ja, wenn sie mich nur ein bißchen lieb hat und etwas auf mich giebt – den Menschen darf sie nicht in ihrer Nähe dulden. Einer, der silberne Löffel stiehlt, ist sicher im Vergleich mit ihm ein ehrlicher Kerl.

Als er unten war, spürte er, daß er, der erst um drei Uhr seine Mittagsmahlzeit einzunehmen pflegte, seit heute morgen nüchtern war, und trat in die Glashalle des Restaurants, sich schnell eine Kleinigkeit geben zu lassen. Von dem Platze, den er, ohne zu wählen, genommen, überblickte er den schmalen offenen Raum zwischen der Veranda, auf der geschäftige Kellner die Tische für ein abendliches Konzert zurechtrückten, und der Dépendance des Hotels, die im rechten Winkel auf jenen stößt. Ein Dienstmann kam eilfertig mit einem großen, in ein rosafarbenes Papier geschlagenen Blumenbouquet und verschwand in der Dépendance, um nach wenigen Minuten wieder herauszukommen und an einen Herrn heranzutreten, der auf ihn gewartet zu haben schien, und dem er, die Mütze in der Hand, eine Meldung machte. Der Herr drückte ihm, in die Westentasche greifend, ein Geldstück in die Hand, das der Bursch mit einem Kratzfuße entgegennahm, ging dann langsam auf die Dépendance zu, blieb einen Moment vor der Thür stehen, nach den Fenstern hinaufblickend, und trat in das Haus.

Der Herr war der Baron von Secken.

Offenbar eine galante Visite, murmelte Justus; Gott sei Dank, daß sie Isabel nicht gelten kann.

Er hatte seinen Imbiß beendet und nahm den nächsten Weg durch eine Glasthür, die aus der Veranda nach dem Eingang des Hotels führte.

Frau Baronin von Schönau?

Die Frau Baronin sind heute morgen in die Dépendance gezogen, sagte der Portier. Die Kammerfrau hat die Sachen herüberschaffen lassen, während die Frau Baronin am Brunnen war. Eine Treppe, Nummer zwölf, dreizehn, vierzehn.

So konnte ihr also doch die Visite des Mannes gelten.

Ein bitteres Gefühl wollte Justus überkommen, aber er kämpfte es nieder. Er wollte nicht wieder in die Zaghaftigkeit von heute morgen zurückfallen. Es wohnten sicher in der großen Dépendance noch andere Damen; und wenn sie es wirklich war, dem sein Besuch galt, so brauchte sie ihn ja nicht empfangen zu haben. Aber dann hatte er freilich lange genug in der Veranda gestanden und hätte ihn wieder müssen herauskommen sehen. Gleichviel! die Thür, die sich für den Herrn Baron öffnete, würde ihm ja nicht verschlossen sein.

Ist Frau Baronin von Schönau zu Haus? fragte er in der Dépendance ein Hausmädchen, das ihm auf dem unteren Flur begegnete.

Jedenfalls, erwiderte das Mädchen; erst vor ein paar Minuten ist ein Herr zu ihr hinauf. Nummer zwölf, dreizehn, vierzehn – eine Treppe, links. Es ist eine Glasthür.

Justus ging die Treppe hinauf, in dem Korridor links auf die ihm bezeichnete Glasthür zu, die den schmalen, ziemlich langen Gang abschloß. Vor der Glasthür lag das Rosapapier, in welches das Bouquet eingewickelt gewesen war.

Durch die Glasthür, die nicht verhängt war, blickte er in einen kleinen Vorraum, von dem rechts und links je eine Thür nach den Zimmern zu führen schien, und in welchem in der Nähe des gegenüberliegenden Fensters eine Frau an einem offenen Koffer kramte. Die Frau, die ihm den Rücken gewandt hatte, richtete sich auf sein Klopfen in die Höhe und kam auf die Glasthüre zu. Er prallte unwillkürlich einen Schritt zurück.

War das nicht Base Anna?

Sie hatte die Thür geöffnet, nach dem Besucher zu sehen. Er konnte nicht länger zweifeln: das waren die schwarzen, rastlosen runden Augen unter den schwarzen, über der stumpfen Nase zusammenlaufenden Brauen; das war Base Anna, so rund wie je und nur nicht so salopp angezogen, wie damals, sondern wie es der ehrbaren Kammerfrau einer vornehmen Dame ziemt.

Er reichte ihr stumm – sprechen konnte er für den Moment nicht – seine Karte, die er bereits in der Hand gehalten. Sie nahm sie, warf einen flüchtigen Blick darauf, dann einen prüfenden in sein Gesicht, verzog das eigene zu einem grinsenden Lächeln und rief:

Gelobt sei Jesus Christ, Herr Arnold! Nein, wie Sie sich aber verändert haben! Ich hätte Sie nicht erkannt, obgleich Isa –, die gnädige Frau mir schon gestern abend sagte, daß Sie auch hier sind. Wie schade! sie ist eben ausgegangen, – vor einer kleinen halben Stunde. Wie schade! na, mir scheint, Sie werden bald einmal wieder kommen! Recht bald, die gnädige Frau wird sich so freuen!

Sie hatte das alles so laut gesagt – Justus war überzeugt, in der Absicht, drinnen gehört zu werden. Dabei hatte sie, auf der Schwelle stehend, den halbgeöffneten Flügel der Glasthür krampfhaft festgehalten, als ob sie fürchtete, er werde sich gegen ihren Willen Eintritt verschaffen wollen.

Machen Sie der gnädigen Frau meine Empfehlung!

Er hatte es ganz ruhig gesagt; aber das Herz hämmerte ihm, als er jetzt, den Korridor wieder hinabschreitend, die Glasthür hinter sich zumachen hörte.

So war die für den Baron von Secken offene Thür für ihn doch verschlossen gewesen.

Der Zug durch die Thür und das gegenüberliegende geöffnete Fenster hatte das Rosapapier den Korridor hinab bis an den Eingang der Treppe geweht. Er stieß es verächtlich mit dem Fuß beiseite, ging die Treppe hinab und verließ das Haus, in das nie wieder einen Fuß zu setzen, er sich zuschwor. Zweierlei war ja klar: daß der Baron drinnen bei ihr gewesen, und daß sie Befehl gegeben hatte, während er bei ihr war, jeden anderen Besuch abzuweisen. Also keine gewöhnliche Visite, sondern ein regelrechtes Tête-à-tête unter der freundlichen Vermittelung des Weibes, das er schon als Knabe haßte wie die Sünde und das nie wieder in die Nähe seiner Isabel kommen zu lassen, er seiner Zeit inbrünstiglich gebeten hatte.

Seiner Isabel!

Er lachte laut und bitter auf zur Verwunderung von zwei Kellnern, welche jetzt rote Decken über die arrangierten Tische breiteten.

Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Möglich war es ja doch, daß sie ausgegangen war, und also auch den Baron nicht hatte empfangen können. Während er selbst in dem Hotel nach ihr fragte, mochte der Baron die Dépendance wieder verlassen haben, unten von dem Hausmädchen falsch berichtet, die Treppe ebenso vergeblich hinaufgestiegen. Er wollte Gewißheit, er konnte sie sich leicht verschaffen. Ewig konnte das Tête-à-tête ja nicht dauern. Die Dépendance hatte nur einen Eingang, der von der Veranda aus mit aller wünschenswerten Genauigkeit zu überwachen war.

So setzte er sich denn in die Veranda an einen Platz, wo man ihn nicht so leicht wahrnehmen konnte, ließ sich ein Glas Wein geben und starrte auf die Tür der Dépendance.

Er brauchte nicht lange zu warten – höchstens fünf Minuten. Dann trat der Baron in die Thür, stieg langsam die Stufen hinab und kam langsam die Stufen vorübergeschritten. Die Sonne schien ihm hell ins Gesicht, aber sein Gesicht war finster wie die Nacht. Er hatte die Unterlippe zwischen die Zähne geklemmt und starrte, ohne ein einziges Mal aufzublicken, mit halb zugekniffenen Augen auf den Boden. Dann hatte er sich nach der Promenade zu entfernt.

Erfreulich war das Tête-à-tête für den Herrn offenbar nicht gewesen. Ein Gezänk unter Liebesleuten? Das soll ja vorkommen!

Justus lächelte höhnisch, und dann ergriff ihn ein wilder Zorn gegen sich selbst.

Wie hatte er sich zu der schmachvollen Rolle eines Lauschers an der Wand erniedrigen können? War sie nicht frei, zu thun und zu lassen, was sie wollte? Welches Recht hatte er, ihr Verhalten zu überwachen, zu kritisieren? Wenn ihm ihr Verhalten nicht gefiel – nun denn: es hatte alle diese Jahre so viel Raum zwischen ihnen gelegen, und die Welt war seitdem nicht enger geworden!


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