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Neuntes Kapitel.

Auf den Trittstufen der Goldenen Harfe sprach Fräulein Therese mit zwei Herren, von denen der eine, als er sich näherte, mit den Worten: Da sind Sie ja! und mit ausgestreckter Hand auf Justus zukam. Er erkannte in dem Halbdunkel Dr. Eberhard, Ediths Gatten.

Wir haben schon dreimal nach Ihnen gefragt, sagte Dr. Eberhard.

»Wir« sind nämlich er und ich, sagte der zweite Herr herantretend.

Ah, Sie sind's, sagte Justus, Dr. Siegfried Sandor die Hand schüttelnd. Freue mich herzlich, Sie beide so unerwartet hier zu sehen.

Wer den Ton vor Gericht stellen könnte! rief Sandor; aber das hilft Ihnen nun nicht. Sie müssen uns noch eine Stunde Ihrer kostbaren Zeit opfern.

So lieb Justus die beiden Freunde waren, und wie sehr er sich zu jeder anderen Zeit ihres Kommens gefreut haben würde, in seiner augenblicklichen Stimmung wünschte er sie an den Nordpol; aber hier war keine Ausflucht: die Herren wollten noch ein Glas Bier oder Wein trinken; er mußte ihnen Gesellschaft leisten. Sie waren mit dem Abendzuge angekommen: Dr. Eberhard, der Karlsbad bereits kannte, hatte von Fräulein Therese die Zusage eines Zimmers für morgen erhalten, Sandor vorläufig noch kein Quartier; sie waren im Goldenen Mond abgestiegen. Dr. Eberhard behauptete, Karlsbad hochnötig zu haben.

Wovon denn die Folge war, sagte Sandor, daß ich es plötzlich auch hochnötig haben sollte, trotzdem ich gesund bin wie ein Fisch im Wasser. Na, praesente medico – wo sind wir hier?

Am Theatercafé, erwiderte Justus; es wird so ziemlich das einzige Lokal sein, das noch auf ist.

Treten wir ein! rief Sandor. Et hinc dei sunt.

Das Café war noch stark besucht. Während sich die Freunde zwischen den Tischchen durchdrängten, hörten sie wiederholt den Namen von Lipper nennen. Dr. Eberhard fiel das auf; er fragte, als sie in einer Ecke ein leeres Plätzchen gefunden, was es bedeute? Justus erzählte die Episode des Jünglings in Weiß, die heute abend das Publikum in der Puppenfee so ergötzt hatte.

Sandor war entzückt.

Das ist ja ein kapitaler Spaß, sagte er. Hoffentlich hat der Mann die Geistesgröße eines Sokrates gehabt und, sich, von seinem Sitz erhebend, das verehrliche Publikum zum Vergleiche zwischen ihm und seinem Doppelgänger auf der Bühne aufgefordert.

Ich weiß nicht, ob er im Theater gewesen ist, sagte Justus.

Doch! sagte ein Bekannter von ihm, der, im Weggehen begriffen, an dem Tischchen vorüberstrich und die letzten Worte gehört hatte. Er hat den Direktor fordern lassen. Der Direktor hat geantwortet: er sei sich keiner Schuld bewußt. Er bringe in der Puppenfee, die er schon zwanzigmal gegeben, jeden Abend eine neue Einlage in Gestalt irgend einer lächerlichen Figur; daß die lächerliche Figur von heute abend zufällig Herrn von Lipper geglichen, den zu kennen er gar nicht die Ehre habe, dafür könne er nicht.

Der Bekannte war gegangen.

Ich kenne Herrn von Lipper nur zu gut, sagte Dr. Eberhard zu Justus, von Waldburgs her. Er war mir unter den mancherlei widerwärtigen Personen, die dort aus und ein gingen, die widerwärtigste. Nein! ich muß eine ausnehmen: den Baron von Secken: des jungen Faust etwas angemauserten Mephistopheles. Übrigens, Justus, beide, unter vielen anderen, Anbeter von Frau von Schönau.

Wer ist Frau von Schönau? fragte Sandor.

Eine Dame, die Sie zu kennen nicht wert sind, erwiderte Eberhard.

Weshalb?

Weil Sie nicht an die Poesie auf Erden glauben, und die Dame die verkörperte Poesie ist.

Wenn Mediziner poetisch werden, geht es ohne einen gelinden Raptus nicht ab – siehe Schiller! erwiderte Sandor. Und was sagt der Poet von Gottes Gnaden?

Wenn Sie mich damit meinen, sagte Justus lächelnd, so wünschte ich erst einmal, ich fände Gnade vor Ihren Augen.

Wäre das nicht der Fall, würde ich in meinen Kritiken mit Ihnen umgehen, wie der von Gott besänftigte Wind mit dem geschorenen Lamm? Aber Sie sind die Antwort auf meine Frage schuldig geblieben.

Sie wissen, daß Frau von Schönau hier ist? sagte Justus zu Eberhard.

Unmöglich! rief der Doktor.

Ich bin den ganzen Abend mit ihr zusammen gewesen.

Hinc illae lacrymae! murmelte Sandor, dem die Absichtlichkeit, mit der Justus seiner Frage ausgewichen, nicht entgangen war.

Sonderbar! rief Eberhard. Sie ist während ihres kurzen Aufenthaltes in Berlin wiederholt bei uns gewesen, ohne ein Wort von ihrer Absicht zu sagen, was mich um so mehr wundert, als sie sonst volles Vertrauen zu mir hatte. Wo wohnt sie hier?

Justus sagte es.

Da muß ich sie morgen doch sofort aufsuchen.

Bitte der verkörperten Poesie unbekannterweise meine Empfehlung auszurichten, sagte Sandor.

Sie werden morgen nicht mehr so skeptisch sein, Sie ungläubiger Thomas, sagte Eberhard. Und dann sich zu Justus wendend: Ich hatte sie seit drei oder vier Jahren nicht gesehen; aber, wahrhaftig, sie ist noch schöner geworden, wenn es möglich ist. Finden Sie nicht, Justus!

Jetzt aber muß der blöde Schäfer mit der Sprache heraus, rief Sandor, sich an Justus' sichtbarer Verlegenheit weidend. Bekennen Sie –

Still! flüsterte Justus eindringlich.

Er hatte plötzlich an einem Tischchen nicht weit von ihnen Herrn von Lipper und Baron Secken gesehen. Sie konnten eben erst gekommen sein, das Tischchen war noch vor einer Minute leer gewesen. Er teilte den Freunden seine Beobachtung mit.

Aber er ist ja nicht in Weiß; flüsterte Sandor.

In der That war Lipper jetzt in einem immerhin noch auffallenden, aber doch nicht unmöglichen Promenadenkostüm.

Ich denke, wir gehen, sagte Justus, dem die Nachbarschaft der beiden Menschen unleidlich war, sich erhebend.

In demselben Augenblicke trat Lipper an ihn heran und sagte, nur eben den Hut lüftend:

Mein Freund, der Baron von Secken, teilt mir soeben mit, daß Sie mit einer Dame, die ich nicht nennen will –

Woran Sie sehr weise thun, sagte Justus.

– heute abend im Theater, fuhr Lipper, ihn mit einem wütenden Blick anstarrend, fort, über die Farce, die man da auf meine Kosten zu spielen die Frechheit hatte, gelacht haben.

Wie alle Welt, erwiderte Justus.

Ich kann mich nicht an alle Welt halten, rief Lipper, jetzt so laut, daß man an den Nachbartischen aufmerksam wurde; ich halte mich an Sie.

Viel Ehre, erwiderte Justus, noch immer ruhig, obgleich ihm das Blut kochte. Und Sie wünschen?

Schlimm genug, daß ich Ihnen das noch erst zu sagen brauche.

Darin haben Sie ausnahmsweise recht. Darf ich Sie mit meinem Freunde, Herrn Dr. Sandor, Rechtsanwalt und Hauptmann in der Reserve, bekannt machen? Sie haben vielleicht die Güte, ihm denjenigen Ihrer Freunde zu bezeichnen, mit dem er das Weitere verabreden kann. Kommen Sie, Eberhard! Wir werden Sie vor der Goldenen Harfe erwarten, Sandor, Sie finden doch den Weg?

Seien Sie unbesorgt!

Aber Ihr Herren, sagte Dr. Eberhard –

Kein Wort weiter, ich bitte dringend! unterbrach Justus den Freund, seinen Arm nehmend und mit sich fortziehend.

Baron Secken, der die Scene mit gespielter Gleichgültigkeit beobachtet hatte, verbeugte sich, als die beiden an ihm vorüberkamen, mit kalter Höflichkeit.

Aber, Justus, was bedeutet dies? rief Eberhard, als sie kaum draußen waren.

Ich kann es Ihnen nicht näher erklären, erwiderte Justus, und nur soviel sagen: die alberne Theatergeschichte ist natürlich nur ein Vorwand.

Ah! sagte Eberhard. Jetzt begreife ich!

Nicht wahr? und daß ich keinen Versuch machen konnte, einzulenken, wie ich sonst wohl gethan haben würde. Es thut mir nur leid, daß der Einbläser vorläufig leer ausgeht. Baron Secken?

Dessen Prügeljunge der thörichte Mensch ist. Nun, man muß die Feste feiern, wie sie fallen.

Sie sind in einer desperaten Stimmung.

Ja. Mir ist für den Augenblick das Leben keinen Strohhalm wert.

Sie waren bei der Goldenen Harfe angekommen und hatten sich auf eine der Bänke unter den Kastanien gesetzt. Nach einer Weile sagte Eberhard, des Freundes Hand ergreifend:

Sie lieben Isabel.

Gott weiß es.

Und haben keine Hoffnung?

Ich habe Hoffnung und habe keine; ich habe alles und, habe nichts. Bitte, fragen Sie mich nicht weiter!

Wieder saßen sie schweigend. Vom Restaurant des Hotel de Saxe kam gelegentliches Tellerklappern der aufräumenden Kellner und von dem Fluß das Rauschen des Wassers über das Wehr. Aus dem Dunkel tauchte eine Gestalt auf, es war Sandor. Die Freunde gingen ihm entgegen.

Nun?

Alles in bester Ordnung, sagte Sandor, sich den Schweiß von der Stirn wischend. Sie wissen doch mit der Pistole umzugehen, Arnold?

Als Försterssohn, erwiderte Justus; ich habe als Knabe gut geschossen, auch mit der Pistole; freilich jetzt seit Jahren keine in der Hand gehabt.

Schade! sagte Sandor; indessen so was verlernt sich nicht; werde schon mit Ihnen Ehre einlegen. Zehn Schritt Distanz; Feuern à tempo; dreimaliger Kugelwechsel. Es ist Ihnen doch recht so?

Mir ist alles recht.

Wußte ich. Hatte übrigens einen harten Kampf mit dem Baron, der ganz rabiat war, oder doch so that. Aber er kennt Siegfried Sandor schlecht. Ein dummer Punkt: der Baron stellt seine Pistolen zur Disposition auf sein Ehrenwort, daß Herr von Lipper nie einen Schuß daraus gethan. Kann man darauf eingehen?

Jedenfalls.

Ich bin darauf eingegangen, sagte Sandor triumphierend, schon deshalb, weil es verteufelt schwer gehalten haben würde, jetzt in nachtschlafender Zeit noch ein anderes Paar aufzutreiben, oder morgen früh vor sechs. Herr von Lipper konnte durchaus nicht länger warten. Er will mit dem Mittagszuge nach Berlin. Natürlich! Wenn einer von uns beiden stirbt, ziehe ich nach Potsdam, sagt die liebende Gattin zu ihrem Mann.

Wie können Sie in einer so ernsten Sache noch scherzen! sagte Dr. Eberhard.

Ich würde es, glaube ich, noch unter dem Beil der Guillotine, erwiderte Sandor. Es ist sicher Zolascher Atavismus mit Überspringung einer Generation: meine beiden Eltern waren die ernsthaftesten Leute von der Welt. Wie ernst ich übrigens die Sache nehme, Doktor, werden Sie zu Ihrer Beschämung daraus ersehen, daß ich auch Ihnen eine Rolle in der Tragödie zugeteilt habe. Sie müssen unser Paukdoktor sein.

Ich wollte mich eben dazu erbieten.

Les beaux esprits – dann wären wir ja im reinen. Halt! noch eins! Als Rendezvous ist ein Wäldchen hinter Pirkenhammer bestimmt – das muß hier irgendwo in der Nähe sein.

Leider nicht eben in der Nähe, erwiderte Eberhard. Man fährt eine halbe Stunde.

Baron Secken hat den Vorschlag gemacht; er sagt, in größerer Nähe gebe es keinen Fußbreit, auf dem man, auch des Morgens um sechs, vor Störung sicher sei.

Das ist freilich richtig. Es ist nur für den Fall –

Daß Ihr Pflasterkasten aufgemacht werden muß. Aber erstens hoffe ich, daß der Fall nicht eintreten wird, und zweitens bin ich sicher, daß, wann schon, dann schon, nicht für unseren Mann. Also, Arnold, wir holen Sie rechtzeitig ab, und inzwischen schlafen Sie den großartigen Schlaf Alexanders vor der Schlacht von Gaugamela – glaube ich, hieß das asiatische Nest. Kommen Sie, Doktor, es ist die höchste Zeit.

Er hatte Eberhard unter den Arm gefaßt und zog ihn mit sich fort. Nur ungern folgte der Doktor. Am liebsten hätte er Justus nicht wieder verlassen; aber Sandor hatte recht: Justus bedurfte vor allem der Ruhe. Nur daß ich fürchte, er wird sie nicht finden, sprach der Bekümmerte seufzend bei sich.

Justus sah den beiden Gestalten nach, bis sie im Dunkel verschwunden waren, dann ging er langsam in das Haus, dessen Thür, nach Karlsbader Gepflogenheit, so lange noch ein Gast draußen, offen stand.

Auf seinem Zimmer angelangt, trat er an das Fenster und blickte über den kleinen Platz hinüber nach dem Hause, in dem sie wohnte. Zwei Fenster linker Hand in der ersten Etage waren noch erleuchtet: es mußten ihre Fenster sein. Die Fenster waren geöffnet; er sah die Vorhänge sich bewegen in dem lauen Winde. Die Entfernung war so gering – er hätte ein »Gute Nacht!« hinüberrufen können.

So gering die Entfernung und doch unüberbrückbar weit, wie der Abgrund, der ihn von ihr trennte, durch den sie sich von ihm getrennt hatte. »Mehr kann ich Dir nicht sagen, nicht versprechen!«

Die Worte klangen ihm immerfort im Ohr; er vermochte nichts anderes zu denken, zu empfinden. Sie hatte nicht sagen, nicht versprechen können, daß sie sein Weib sein wolle. Was aber sollte ihm dann noch das Leben?

Er wollte ihr das schreiben und begann einen Brief, den er nach der ersten Zeile zerriß, einen zweiten zu beginnen, dem es erging, wie dem ersten, um endlich in einem dritten ihr kurz zu melden, daß er mit ein paar Freunden einen Ausflug vorhabe, von dem er vermutlich erst spät abends zurückkehren werde. Auch wolle man so früh aufbrechen, daß er nicht an den Brunnen kommen könne. Und so –

Die Feder wollte schreiben: habe ich Dich denn heute abend wohl zum letztenmal gesehen. Das sollte sie nicht; er legte sie aus der Hand, nahm sie nach einer Weile wieder auf und vollendete den angefangenen Satz:

– muß ich Dir die morgen fälligen Rosen bis übermorgen schuldig bleiben. – Justus.

Er couvertierte, adressierte das Billet und atmete erleichtert auf, als es fertig vor ihm lag.

Sollte er noch an Eve, an ihren Vater schreiben? An Marthe, die treue Seele?

Ja, mein Gott, so werde ich die ganze Nacht nicht fertig, rief er, ungeduldig von dem Stuhl aufspringend, so wenig, wie –

Er war wieder an den Tisch getreten und hatte von zwei dicken, übereinander liegenden Heften das oberste ergriffen – den zweiten Band seines Romanes – es fehlten nur noch wenige Kapitel.

Schade! murmelte er; ich dachte, er würde gut werden; und nun soll die Kugel aus der Pistole eines albernen Gecken ein häßliches Loch durch die saubere Rechnung schlagen. Das wäre so Wasser auf Sandors Mühle. Die Welt ist dumm und blind, und ihr, die ihr sie in eurer sogenannten Poesie klug und sehend machen wollt, seid Narren. Pah!

Er legte das Heft wieder hin und trat abermals an das Fenster. Das Licht drüben war erloschen. Lauter als vorhin rauschte das Wasser über das Wehr; aus den Büschen weiter das Flüßchen hinauf kam in einzelnen langgezogenen Tönen der Gesang einer Nachtigall. Vom dunklen Himmel glitzerten einzelne Sterne; die Sichel des Neumondes stand über dem Bergwalde, höher und glänzender als vor zwei Stunden.

Vor zwei Stunden, als sie ihm gesagt hatte, daß sie ihn liebe und daß sie mehr nicht sagen, nicht versprechen könne!

Ein Gedicht seines englischen Lieblingsdichters Robert Browning kam ihm in den Sinn. Ein vornehmes junges venetianisches Liebespaar fährt in der Nacht auf einer Gondel durch die Lagunen. Sie plaudern: jedes Wort, das sie wechseln, ist ein Kuß; und dann Kuß um Kuß und sprachlose Wonne. Er weiß, daß die Bravi auf ihn lauern. Sie sind kaum gelandet, so fällt er unter ihren Dolchen. Die Geliebte will sich über den Sterbenden werfen; er preist sich selig, daß er zu ihren Füßen sterben darf und bittet sie nur, acht zu haben auf ihr goldenes Haar, daß es sein Blut nicht beflecke.

Justus mußte lächeln.

Sandor würde das für den größten Unsinn und die greulichste Unnatur halten. Ich finde es nicht nur wundersam schön, sondern, daß es der Ausdruck einer allgewaltigen Liebe ist, die noch im Moment des Todes demütig den letzten Saum des Kleides ihrer Gottheit küßt.

Und sie hatte ihm alles gegeben; sie hatte nicht gefeilscht: »mehr kann ich dir nicht sagen, nicht versprechen.«

Justus schloß leise das Fenster, als fürchte er, die Schlafende drüben zu wecken. Dann warf er sich angekleidet auf sein Bett.


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