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(Schluß.)
Alles ist vorüber. Die geliebte, verehrte Gestalt ist wieder hier; aber Luther, unser Vater, unser Pastor, unser Freund wird nie mehr bei uns sein. Seine unaufhörliche Arbeit und Sorge für uns alle hat ihn verzehrt –die Sorge, welche das Leben mehr zerstört als selbst der Kummer, –Sorgen, wie seit dem Apostel Paulus niemand ähnliche gekannt, die nur ein Glaube gleich dem des heiligen Paulus ihn befähigen konnte so lange zu ertragen.
Diesen Morgen ging seine Witwe mit ihren verwaisten Kindern, sowie eine Menge Studenten und Bürger zum östlichen Stadtthore hinaus, dem Leichenzuge entgegen. Langsam bewegte sich derselbe durch die gedrängten und doch so stillen Straßen nach der Stadtkirche, wo Dr. Luther sonst zu predigen pflegte.
Fritz kam mit dem Leichenzuge von Eisleben, auch Eva ist mit ihren Kindern bei uns; denn unsre Mutter sehnte sich, einmal wieder ihre Lieben um sich versammelt zu sehen, jetzt da der Tod uns gezeigt hat, wie sogar die Liebe einer Nation nicht vermag, das Leben zurückzuhalten, das allen das teuerste und notwendigste ist.
Durch Fritz haben wir näheres über den Trauerzug gehört.
Die Grafen von Mansfeld mit mehr als fünfzig Reitern, viele Prinzen, Grafen und Edelleute geleiteten den Sarg. In jedem Dorfe, durch welches der Zug sich bewegte, wurden, wie für den Landesfürsten, die Glocken geläutet; an jedem Stadtthore kamen ihm der Magistrat, die Geistlichkeit, Alt und Jung, Matronen, Jungfrauen und Kinder entgegen, alle in Trauerkleidern und Begräbnislieder singend, –deutsche, evangelische Hoffnungs- und Glaubenslieder, die er selbst sie gelehrt hatte. In der letzten Kirche, in welcher der Sarg ruhte, bevor er Wittenberg erreichte, sang das Volk, mit vor Weinen und Schluchzen fast erstickter Stimme das von ihm selbst gedichtete Lied: »In Fried' und Freud' fahr ich dahin.«
So wurde Tag und Nacht hindurch die Leiche langsam und still, durch das Thüringer Land getragen. Jetzt erinnerten sich die Bauern wieder, wie gut er es mit ihnen gemeint hatte, und aus jedem Dorfe und Weiler, aus jeder kleinen Hütte kamen weinende Männer und Frauen herbeigeströmt, um den sterblichen Ueberresten dessen, den sie im Leben so oft verkannt hatten, die letzte Ehre zu erweisen.
Nachdem Pastor Bugenhagen von Luthers Kanzel herab die Leichenrede gehalten, sprach Melanchthon einige Worte am Sarge im Chor der Stadtkirche. Sie hatten einander so innig geliebt! Als Melanchthon den Tod seines Freundes erfuhr, war er tief ergriffen und sprach in dem Hörsaale:
»Die Lehre von der Vergebung der Sünden und von dem Glauben an den Sohn Gottes ist nicht durch menschlichen Verstand entdeckt, sondern uns von Gott durch diesen Mann, den Er uns erweckt hat, geoffenbart worden.«
Die Worte, welche Melanchthon an dem Sarge, ehe derselbe an seine bleibende Ruhestätte in der Nähe der Kanzel hinabgelassen wurde, auf lateinisch sprach, wurden von Caspar Cruziger sogleich ins Deutsche übersetzt und lauteten:
»Jeder, der ihn genau kannte, muß bezeugen, daß er ein wohlwollender, barmherziger, in all seinen Reden liebevoller, ein freundlicher und liebenswerter Mann war; nicht voreilig, noch zornig, weder eigensinnig noch empfindlich. Und doch lag in seinen Worten und seinem Benehmen ein Ernst und Mut, wie es sich für einen solchen Mann geziemte. Er hatte ein aufrichtiges und treues Herz ohne Falsch. Die Strenge, welche er in seinen Schriften gegen die Feinde der evangelischen Lehre bewies, rührte nicht von einem streitsüchtigen, heftigen Charakter, sondern von seinem großen Ernst und Eifer für die Wahrheit her. Stets zeigte er einen männlichen festen Mut und kein Geschrei der Feinde konnte ihn schrecken. Keine Drohung noch Gefahr vermochte ihn zu erschüttern. Sein Verstand war so klar und scharf, daß er der einzige war, der in verwickelten, dunkeln und schwierigen Angelegenheiten zu raten und zu helfen wußte. Auch verachtete er nicht die Obrigkeit wie etliche meinen, sondern richtete sich fleißig nach ihrem Willen und Gebot. Seine Lehre bestand nicht in rebellischen Grundsätzen, die er mit Gewalt verbreitet hätte, sondern vielmehr in der Auslegung des göttlichen Willens und der wahren Anbetung Gottes, in einer Erklärung des göttlichen Wortes, nämlich des Evangeliums von Christo. Jetzt ist er zu den Propheten versammelt, von welchen er so gern zu reden pflegte, und sie begrüßen ihn als ihren Mitarbeiter und preisen mit ihm den Herrn, der seine Kirche sammelt und erhält. Wir aber wollen unserm geliebten Vater ein treues, unvergängliches Andenken bewahren und sein Gedächtnis nie in unsern Herzen erlöschen lassen.«
Sein Bildnis wird in der Stadtkirche aufgestellt werden, aber sein lebendiges Bild wohnt in zahllosen Herzen. Seine schönsten Denkmäler sind die durch das ganze Land verbreiteten Schulen, jede fromme Pfarrfamilie und vor allem »die deutsche Bibel für das deutsche Volk!«
Wittenberg, im April 1547.
Wir stehen jetzt in der vordersten Reihe der Geschlechter unsrer Zeit. Unser irdisches Vaterhaus ist auf immer dahin. Nicht lange nach Dr. Luthers Tode entschlummerte sanft und selig unsere gute Mutter, und unser Vater ging ein zu der Erfüllung jener unfehlbaren Hoffnungen, von welchen seit seiner Erblindung sein zufriedenes Herz getragen wurde.
Kaum ein Jahr von einander getrennt, in hohem Alter, von allen, die ihnen auf Erden die teuersten waren, umringt, entschliefen beide sanft in Jesu Christo.
In dem väterlichen Hause wohnt nun Fritz, der einen Ruf an die hiesige Universität erhalten hat, mit Eva und ihren Kindern und mit unserer Thekla.
Oft denke ich, daß von unserer ganzen Familie Theklas Leben das gesegnetste ist. Auch in unserer evangelischen Kirche beruft Gott, wie mir däucht, durch seine Vorsehung einzelne zu Nonnen, fromme Frauen, die den Reichtum ihrer Liebe über die Kirche ausgießen, die alle Kinder Gottes begreift. Wie viele, die sie in der Schule erzogen, in Zeiten der Krankheit oder des Unglücks gepflegt hat, leben auf Erden und segnen ihr Andenken, oder im Himmel, um sie in den ewigen Wohnungen zu empfangen.
Und daß sie so geliebt und verehrt wird, kommt wohl hauptsächlich daher, daß ihre Stellung nicht eine sehr hohe, sondern eine demütige ist.
Sie hat den natürlichen Beruf als Gattin und Mutter nicht durch klösterliche Würden ersetzt. In diesem Leben hat sie den niedrigsten Platz eingenommen, weshalb, sowie aus andern Gründen, ich oft denke, daß sie im Himmel auf den höchsten erhoben werden wird. Aber Eva und Chrimhilde, Atlantis und ich werden sie nicht darum beneiden.
Mit welcher Freude werden wir nicht ihre sanfte, geduldige Stirn mit der strahlendsten Krone der Herrlichkeit und unverwelklicher Freude geschmückt sehen!
Der kleine Garten hinter der Augustei ist ein geweihter Ort geworden. Luthers Witwe und Kinder wohnen noch immer dort. Diejenigen, welche ihn näher kannten und darum auch am innigsten liebten, finden eine traurige Freude darin, im Schatten der Bäume, welche ihm Obdach gewährten, an dem Brunnen und dem kleinen Fischteich, den er selbst gemacht, bei den Blumen, die er gezogen, zu verweilen und seiner Worte und Gewohnheiten zu gedenken. Wie pflegte er Gott für die Fische des, Teiches, für die Gemüse des Gartens zu danken; wie kindlich bewunderte er die Vorsehung Gottes, welche die Sperlinge und all die andern Vögelein ernährt, »was ihm mehr kosten müsse, als die Einkünfte des Königs von Frankreich betragen.« Wie freute er sich über den »Tau, dieses wunderbare Werk Gottes,« und über die Rose, welche kein Künstler so schön nachzubilden verstände, und den Gesang der Vögel. Wie lebensfrisch wurden die Stählungen der Bibel, wenn er davon redete! Wie begeistert sprach er von dem Apostel Paulus, den er so sehr verehrte, aber als einen unansehnlichen, magern Mann, wie Philipp Melanchthon, schilderte; oder von der Jungfrau Maria, »die ein edles, erhabenes Wesen, eine schöne, anmutige Jungfrau mit einer freundlichen sanften Stimme gewesen sein müsse;« oder von der niedrigen Hütte von Nazareth, »wo der Heiland der Welt als ein kleines, gehorsames Kind erzogen wurde.«
Und bei all seiner Heftigkeit vermöchte nicht eines von uns sich eines eifersüchtigen oder argwöhnischen Wortes oder einer vorübergehenden Entfremdung zu erinnern, so edel und vertrauensvoll war sein Charakter.
Oft kommen uns auch der Klang seiner vollen, klaren Stimme und die Töne der Laute oder Leyer wieder ins Gedächtnis, die so oft in seinem Wohnzimmer mit dem großen Erkerfenster erklangen, wenn er Freunde bei sich sah, oder auch in stilleren Stunden der Andacht.
Wenn wir oft in der Dämmerung ruhig und vertraulich mit einander reden, erzählt Frau Luther wohl auch von den Gewohnheiten seines innigsten Familienlebens; wie er sie in seinen Krankheiten zu trösten pflegte, und wenn sie weinte, unter unaufhaltsamen Thränen zu ihr sagen konnte: »Liebe Käthe, unsere Kinder vertrauen uns, obgleich sie nicht verstehen, was wir mit ihnen vorhaben: so sollen wir Gott vertrauen. Wir thun wohl daran; denn alles kommt von Ihm.« Sie spricht von seinen Gebeten Morgens und Abends, bei Tische und zu andern Zeiten des Tags, wie er oft andächtig den kleinen Katechismus »dem lieben Gott« hergesagt, mit welcher Inbrunst er das Vaterunser oder Psalmen aus dem Psalmbuche, das er beständig bei sich trug, gebetet habe. Zuweilen redet sie auch voll Ehrfurcht von seinen Kämpfen, wenn seine Gebete gleichsam den Himmel zu stürmen schienen, wenn er mit Gott rang wie ein verzweifelndes Kind zu den Füßen seines Vaters; oder wie er oft in der Nacht plötzlich erwachte und in heißem Gebete oder mit verächtlichem Trotze oder Worten des Glaubens den unsichtbaren Feind überwand.
Manche unter uns wußten, welche Ursache er hatte so fest an Gebetserhörung zu glauben. Melanchthon besonders wird den Tag nie vergessen, als er totkrank, mit brechenden Augen, schon halb bewußtlos da lag, da Luther hereinkam und erschrocken ausrief:
»Gott stehe uns bei! Was hat der Teufel in diesem sterblichen Leib für eine Verheerung angerichtet!«
Und dann wendete er sich von den Umstehenden ab nach dem Fenster hin, schaute gen Himmel und betete. »Ich kam,« sagte er nachher selbst, »als ein Bettler, ein Flehender zu Gott und hielt ihm alle Verheißungen der heiligen Schrift, die mir einfielen, vor; so daß Gott mich erhören mußte, wenn ich je wieder seinen Verheißungen trauen sollte.«
Nach diesem Gebete ergriff er Melanchthons Hand und sagte: »Sei getrost, Philipp, du wirst nicht sterben.«
Von diesem Augenblicke kam Melanchthon wieder zu sich und war dem Leben wieder geschenkt.
Besonders wichtig aber ist für uns alle, was Luther über den Tod und die Auferstehung, über den Himmel, über die zukünftige Herrlichkeit und Freude gesagt hat. Ich will einiges davon für meine Kinder aufzeichnen.
»Im Papsttume pflegte man zu berühmten Heiligenbildern in Rom, Jerusalem, St. Jago, zu wallfahren, um die Sünden zu büßen. Allein jetzt können wir im Glauben erst rechte Pilgerfahrten machen, die Gott wohlgefallen. Wenn wir fleißig die Propheten, die Psalmen und Evangelisten lesen, reisen wir zu Gott, nicht durch Städte der Heiligen, sondern in unsern Gedanken und Herzen, und besuchen das wahre gelobte Land und Paradies des ewigen Lebens.
»Der Teufel hat uns den Tod geschworen, aber er knackt eine taube Nuß. Der Kern ist weg.«
Er war so oft gefährlich krank gewesen, daß er mit dem Gedanken an den Tod ganz vertraut war. In einer seiner Krankheiten sagte er: »Ich weiß, daß ich nicht mehr lange leben werde. Mein Gehirn ist wie ein Messer, das bis ans Heft abgenutzt ist; es kann nichts mehr schneiden.«
»In Koburg pflegte ich herumzugehen und ein ruhiges Plätzchen zu suchen wo ich begraben werden möchte; und ich dachte, in der Kapelle unter dem Kreuze könnte ich wohl ruhen. Aber nun bin ich noch kränker als damals. Gott verleihe mir ein seliges Ende. Ich wünsche nicht länger zu! leben.«
Wenn man ihn fragte, ob Menschen unter dem Papsttume, welche nie etwas von der evangelischen Lehre gehört hätten, selig werden könnten, so erwiderte er: »Ich habe manchen Mönch gesehen, dem man auf seinem Totenbette das Kruzifix vorhielt, wie es damals Sitte war, und der durch den Glauben an Christi Verdienst und Leiden gewiß selig gestorben ist.«
»Was ist der Schlaf,« sagte er, »als eine Art von Tod? Und was ist der Tod selbst, als ein Schlaf? Im Schlaf legen wir alle Müdigkeit ab, werden wieder munter und stehen am Morgen frisch und gesund wieder auf. So werden wir am nächsten Tage aus unsern Gräbern erwachen, als ob wir nur eine Nacht geschlummert hätten, und werden unsere Augen baden und frisch und gesund auferstehen.«
»Ich werde auferstehen,« sagte er, »und wieder mit Euch verkehren. Selbst dieser Finger, an dem ich den Ring trage, wird mir wieder gegeben werden. Alles muß wieder hergestellt werden. Gott will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, worin Gerechtigkeit wohnet. Dort wird nichts als Freude und Entzücken sein. Dieser neue Himmel und diese neue Erde werden kein dürrer, wüster Sand sein. Wenn ein Mensch glücklich ist, so kann er sich über einen Baum, einen Strauß, ja über das kleinste Blümchen freuen. Himmel und Erde werden erneut und die Gläubigen werden überall daheim sein. Hier ist es nicht so, wir werden hin- und hergetrieben, damit wir uns nach dem himmlischen Vaterlande sehnen lernen.«
»Wenn Christus am jüngsten Tage wird die Trompete blasen lassen, werden wir alle hervorkommen, gleich den Insekten, die im Winter erstarrt, wie tot daliegen, aber sobald die Sonne kommt, wieder zum Leben erwachen, oder gleich den Vögeln, die sich den Winter hindurch in Felsenklüften verbergen oder in Höhlen am Ufer der Flüsse, und doch im Frühling wieder lebendig sind.«
Ein andermal sagte er: »Geht in den Garten und fragt den Kirschbaum, wie es möglich ist, daß aus einem trockenen, toten Zweige eine Knospe hervorkeimen und aus der Knospe Kirschen erwachsen können? Geht in's Haus und fragt die Hausfrau, wie es möglich ist, daß aus den Eiern unter der Bruthenne lebendige Hühnchen herausschlüpfen können? Wenn Gott solches an Kirschen und Vögeln thut, willst du Ihm nicht die Ehre geben, Ihm zuzutrauen, daß er, wenn er den Winter über dich kommen, dich sterben und in der Erde verwesen läßt, auch im wahren Sommer dich wieder aus der Erde hervorziehen und von den Toten erwecken kann?«
»O barmherziger Gott!« rief er aus, »komm endlich! komme bald! Ich sehne mich nach diesem Frühlingsmorgen!«
Und er wartet noch immer darauf; zwar nicht mehr auf Erden, »wo, das wissen wir nicht,« wie er selbst sagte; »aber ganz gewiß frei von allem Kummer und Schmerzen, im Frieden und in der Liebe und Gnade Gottes ruhend.«
Auch wir warten auf diesen Tag der Erlösung, noch immer im Fleische, unter Stürmen und Kämpfen, aber gestärkt und friedevoll durch die Wahrheit, die Martin Luther uns gelehrt, und durch den Gott, dem er bis ans Ende vertraut hat.
Druck von Adolf Geering in Basel.