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II.
Auszüge aus Friedrichs Chronik.

Erfurt, 1503.

Da stehe ich endlich an der Schwelle der Welt, in die ich so lange mich sehnte einzutreten. Elsens Welt ist nicht länger die meinige; doch hatte ich bis auf diese vergangene Woche nie gewußt, wie teuer diese kleine heimatliche Welt meinem Herzen ist. Nun, der Himmel bewahre mich, sie auf immer verlassen zu haben! Ich hoffe im Gegenteil, dorthin zurückzukehren, nicht mehr als eine Last für die Eltern, sondern als ihre Stütze und ihr Trost, um meine Mutter von den Sorgen zu befreien, welche ihr kostbares Leben langsam verzehren, meinem Vater die Mittel zu verschaffen, seine großartigen Pläne auszuführen, und aus meiner kleinen Else ein so vornehmes Fräulein zu machen wie jene Ritterfräulein, von denen Großmutter uns erzählt. Freilich, wer kann reizender aussehen als meine Else, wenn sie an Feiertagen mit mir zur Kirche geht in ihrem roten Rocke und der schwarzen mit einer silbernen Kette über dem weißen Brustlatze geschnürten Jacke, welche ihre niedliche runde Gestalt so vorteilhaft hervorhebt, mit ihrem blonden, zierlich geflochtenen Haar und ihren muntern blauen Augen? Ich habe auch wohl bemerkt, daß ich in Eisenach nicht der Einzige bin, der so denkt. Ach, ich wollte daß ich alle Tage zu Festtagen für sie machen könnte, daß mein liebes Schwesterchen nicht mehr nötig hätte, am Sonntag Abend all ihren Staat so sorgfältig in die große Truhe zu verschließen und ihre Aschenbrödelkleider wieder anzuziehen, in denen der Märchenprinz die schöne kleine Prinzessin, die er in der Kirche gesehen, wohl schwerlich wieder erkennen würde! Und doch brauchte sich unserer Else kein Zauberprinz selbst in ihrem Alltagsanzuge zu schämen; wenigstens könnte er dann nicht der rechte sein.

In der Dämmerung, wenn die Tagesarbeit vollbracht ist, wenn die Kinder eingeschlafen sind und sie sich mit ihrem Strickzeug neben mich setzt in der Rumpelkammer oder unter dem Birnbaum im Garten –welche Prinzessin kann dann niedlicher aussehen als meine Else mit ihrem weichen blonden Haar, das wie eine Krone geflochten ist? Wer sollte dann glauben, daß sie den ganzen Tag gearbeitet, gekocht, gewaschen und die Kinder gepflegt hat? Wenn es nicht an der frischen Röte ihrer Wangen oder an ihrer sanften leisen Stimme zu erkennen wäre, welche die Frauen wohl am besten an der Wiege kleiner Kinder sich aneignen.

Wahrscheinlich habe ich mich darum noch nie verliebt, weil ich noch kein Mädchen gesehen habe, das mit unserer Else sich vergleichen dürfte. Und doch träume ich nicht von einem Gesicht wie das unserer Else, noch wie das meiner Mutter, wenn ich in Träumerei versinke. Meiner Mutter Augen sind durch viele Sorgen getrübt; doch ist es nicht eben diese gefurchte Stirne, welche sie mir heilig macht, heiliger als irgend ein Heiligenschein es zu thun vermöchte! Und Else, meine gute, fleißige kleine Else ist eine liebe Fee in unserm Hause, aber das Gesicht, von dem ich träume, ist ein ganz anderes. Elsens Augen sind gut, wie sie selbst sagt, um zu sehen und zu helfen; es sind gar liebe, freundliche, treue Augen. Aber mir träumt manchmal von ganz anderen Augen, feurig wie die meiner Großmutter, leuchtend wie die Sonne des Südens, dunkel, träumerisch, tiefblickend, Herzen durchglühend, wie die der Fräulein in den Romanzen, und doch in den Himmel dringend, wie die Blicke der heiligen Cäcilia, wenn sie begeistert vor ihrer Orgel steht. Sie sollte eine Heilige sein, zu deren Füßen ich sitzen und durch deren reines Herz ich in den Himmel hineinschauen könnte, und doch sollte sie mich innig, leidenschaftlich, furchtlos, hingebend lieben, als ob meine Liebe ihr Himmel wäre. Meine Liebe! –Wer bin ich denn, daß ich solche Träume nähren dürfte? Ein armer Bürgerjüngling von Eisenach, seit acht Tagen ein mittelloser Student in Erfurt! Der älteste Sohn einer zahlreichen, Not und Mangel leidenden Familie, der nicht daran denken darf, das herrlichste Mädchen in der Welt zu lieben, selbst wenn ich sie treffe, ehe ich Vater, Mutter und sechs Geschwister den entsetzlichen Krallen der Armut entrissen habe. Ja, selbst im Traume däucht es mir fast Verrat, ein anderes irdisches Wesen über Else zu stellen. Es ist mir, als ob ich ihre lieben blauen Augen in Thränen des Vorwurfs schwimmen sähe. Denn in Elsens Herz ist ganz gewiß Keiner über mir, selbst nicht im Traume. Arme, liebevolle kleine Else!

Ja, sie muß befreit werden von dem Drucke dieser täglich nagenden Sorgen der Armut und getäuschter Erwartungen, welcher meine Mutter so früh gealtert hat! Wenn ich an Vaters Stelle gewesen wäre, hätte ich es nicht ertragen können mit anzusehen, wie der Winter so bald den Sommer ihres Lebens verdrängte. Aber er bemerkt es nicht. Oder wenn je einmal ihr bleiches Gesicht oder die grauen Haare, die sich schon einstellen, ihm auffallen, küßt er sie auf die Stirne und sagt:

»Mutter, es wird bald Alles gut gehen; es fehlt nur noch das letzte Glied zu meiner letzten Erfindung und dann –«

Und dann geht er in seine Druckerei; aber bis auf diesen Tag hat er das fehlende Glied noch nicht gefunden. –Else und unsere Mutter glauben freilich noch immer, daß es einmal geschehen werde. Unsere Großmutter zweifelt sehr daran, und ich habe fast gar keine Hoffnung mehr, obgleich ich um alle Welt Niemand zu Hause ein Wörtchen davon sagen möchte. Für mich ist das Laboratorium meines Vaters mit seinem Schmelzofen, seinen Modellen, seinen seltsamen Maschinen der traurigste Platz von der Welt. Es ist mir ein von Gespenstern bewohnter Ort, in welchem die hülflosen Geister von Kindern spucken, die gleich bei ihrer Geburt gestorben sind, nämlich die Geister vergeblicher, fruchtloser Projekte; es gleicht den Ruinen einer durch ein Erdbeben noch vor ihrer Vollendung zerstörten Stadt voll zerfallener Paläste, die nie ein Dach hatten, eingestürzter Häuser, welche nie bewohnt waren, versunkener Kirchen, in denen noch nie Gottesdienst gehalten worden. Mögen die Heiligen mich vor einem solch verfehlten Leben bewahren! Ich habe es nie ausfindig machen können, warum meinem Vater denn nichts gelingen will. Er ist kein Träumer, kein Müßiggänger. Er sitzt nicht mit verschlungenen Armen und brütet über seinen Entwürfen. Er macht seine Berechnungen mit der größten Genauigkeit, Zieht alle Gelehrten und Bücher, die er sich verschaffen kann, zu Rate. Er wiegt und mißt und verfertigt die schönsten Modelle. Sein Zimmer ist ein wahres Museum voll auserlesener Kunstwerke, die man für höchst brauchbar halten sollte, die es aber niemals sind. Die Professoren und selbst der Schreiber des Kurfürsten, der mehr als einmal kam, um ihn zu Rate zu ziehen, haben mir gesagt, daß er ein Mann von außerordentlichem Geiste sei.

Woher mag es denn wohl kommen, daß sein Leben ein so verfehltes ist? Ich kann mir's nicht denken; es müßte denn sein, daß andere große Erfinder und Entdecker ihre Erfindungen und Entdeckungen, wie es scheint, nur so zufällig in dem Laufe ihres gewöhnlichen Lebens gemacht haben. Ein Schiffer, der nach einem bestimmten Hafen segelt, bemerkt Treibholz oder Pflanzen, welche von einem unbekannten Lande jenseits des Meeres kommen müssen. Während sein Beruf ihn von einem Hafen zum andern führt, liegt ihm dieser Gedanke immer im Sinn; alles, was er hört, reiht sich von selbst daran an; er beobachtet Winde und Strömungen, sammelt Berichte von Seefahrern, die von ihrem Laufe verschlagen worden sind in der Richtung, wo er glaubt, daß jenes unbekannte Land liegen müsse. Endlich überredet er einen Fürsten, daß sein Glaube kein leerer Wahn sei, und wie der große Admiral Christoph Kolumbus wagt er sich über den noch nie befahrenen, unbekannten atlantischen Ozean und entdeckt Westindien. Allein ehe er ein Entdecker wurde, war er ein tüchtiger Seemann.

Oder ein Verfertiger von Holzschnitten kommt auf den Einfall, Lettern auszuschneiden und erfindet so die Buchdruckerkunst. Das lag in seinem Berufe; er ist nicht davon abgewichen, um nach Erfindungen zu jagen; er hat sie auf seinem Pfade, seiner gewöhnlichen Beschäftigung gefunden. Es scheint mir, daß man kein berühmter Entdecker oder Erfinder wird, wenn man sich bemüht, es zu werden, sondern wenn man sich bestrebt, sein Geschäft auf die möglichst beste Weise zu verrichten. So fällt man von selbst nach und nach auf Verbesserungen; jede Verbesserung wird durch praktische Anwendung erprobt, bis endlich der glückliche Einfall kommt, nicht wie eine Elfe aus dem Dickicht finsterer Wälder, sondern wie ein lieblicher Engel auf dem gebahnten Lebenswege; aus den kleinen Verbesserungen entsteht die großartige Erfindung. Diese Methode hat noch einen andern großen Vorteil vor der meines Vaters voraus. Wenn nämlich die große Erfindung ausbleibt, so hat man wenigstens die Verbesserungen, die schon etwas wert sind. Es kann nicht ein Jeder die Buchdruckerkunst erfinden oder Westindien entdecken; aber jeder Formschneider kann seine Holzschnitte ein wenig besser machen und ein jeder Seemann ein bischen weiter auf seinen Fahrten vordringen als sein Vorgänger.

Doch es kommt mir fast wie Verrat vor, so über unsern Vater zu schreiben. Was würden Else und unsere Mutter davon denken, sie, die überzeugt sind, daß nur der leidige Zufall oder die Verblendung der Menschen unserm Glück im Wege stehen. Nicht als ob sie dies von unserm Vater gelernt hätten! Nie in meinem Leben habe ich ihn ein Wort des Neides oder der Herabsetzung über diejenigen sagen hören, welche bessere Erfolge gehabt haben als er. Es scheint, daß er alle diese Männer als zu einer großen Brüderschaft gehörig betrachtet und sich eben so darüber freut, wenn Einer den rechten Punkt trifft, den er verfehlt hat, wie er sich freuen würde, wenn ihm heute etwas gelänge, was ihm gestern mißglückte. Dieser Adel der Gesinnung macht mir unsern Vater ehrwürdiger als die glänzendsten Erfolge es je vermöchten. Weil ich aber fühle, daß bei einem Leben so voll getäuschter Erwartungen mein Charakter sich nicht so edelmütig erweisen, sondern daß das Mißlingen mein Gemüt verbittern und Armut meinen Geist entwürdigen würde, was bei ihm nie der Fall war; darum habe ich es gewagt, die Felsen aufzusuchen, an welchen er gescheitert ist, um sie vermeiden zu können. Nicht ein Jeder vermag es, schiffbrüchig, zerlumpt und elend von einer vergeblichen Reise zurückzukehren mit einem so hoffnungsvollen Gemüte, so heileren Sinne, mit einem Herzen so frei von Neid und Mißgunst, als ob er selbst das goldene Vließ mitgebracht hätte. Mein Vater thut dies immer und immer wieder und daher hoffe ich, daß sein Lohn ihm hinterlegt ist wie für diejenigen, welche nach der christlichen Vollkommenheit trachten, nach dem Schatze, den weder Motten noch Rost fressen. Mir wäre dies nicht möglich. Ich würde nicht eher zurückkehren, bis ich das bringen könnte, was ich gesucht, oder ich würde als ein unglücklicher Mensch die Heimat wiedersehen, der am Herzen sowohl wie am Vermögen Schiffbruch gelitten hätte. Daher muß ich meine Karten wohl studieren, sorgfältig mein Schiff und meinen Hafen auswählen, ehe ich unter Segel gehe.

Alle diese Gedanken kamen mir in den Sinn, als ich auf der letzten Anhöhe des Waldes stand, von welcher aus ich nach Eisenach zurückschauen konnte, das friedlich in dem von der Wartburg beherrschten Thale liegt. Möge die liebe Mutter Gottes, die heilige Elisabeth und alle Heiligen es ewig beschützen!

Allein ich hatte nicht Zeit, lange nach Eisenach zurückzublicken; denn die Wintertage sind kurz und in der vergangenen Nacht hatte es geschneit. Die Dächer in Eisenach waren weiß und der Kirchturm schien wie mit Alabaster ausgelegt. Eine dünne, weiße Decke lag auf den Wiesen und Abhängen der Hügel und die Zweige der Fichten waren wie mit weißen Federn behängt. Ich hatte beinahe sechs Meilen zu wandern, ehe ich Erfurt erreichen konnte. Das Wetter war hell und die Luft so leicht wie mein Herz. Die Fichten warfen ihre Schatten auf den gefrorenen Schnee, über welchen meine Füße munter vorwärts schritten. An lichten Stellen schien der klare, blaue Winterhimmel durch die dunkeln Tannenzweige. Die Umrisse waren so scharf und bestimmt, wie ich hoffte, daß das Ziel meiner Bestrebungen sein werde. Ich wußte, daß meine Absichten rein und edel waren und zweifelte nicht, daß der Himmel mir günstig sein werde.

Allein als der Tag allmälig verstrich, dachte ich, ob wohl der Wald nicht auch bald ein Ende hätte, und da nun die Sonne immer tiefer und tiefer hinabsank, fürchtete ich, den rechten Weg verfehlt zu haben. Ich stieg auf eine Anhöhe, um weiter ausschauen zu können, und erkannte zu meinem Schrecken, daß ich mich, durch den Schnee getäuscht, verirrt hatte. Nach allen Seiten dehnte sich der Wald aus; ein mit Tannen bedeckter Hügel erhob sich hinter dem andern und nur in weiter Ferne erblickte ich an einer kleinen Oeffnung die Ebene, auf welcher Erfurt liegen mußte. Das Tageslicht verging schnell und mein Felleisen war leer. Ich wußte, daß hie und da Dörfer in den Thälern verborgen sein mußten, aber kein Rauch war zu erblicken, keine Spur von Menschen, ausgenommen Reisbüschel, die da und dort in frischgemachten Lichtungen aufgehäuft lagen. Nach einer dieser gelichteten Stellen richtete ich meine Schritte, in der Absicht, der Spur des Holzhauers zu folgen, welche mich, wie ich hoffte, wahrscheinlich zu der Hütte eines Köhlers führen würde, wo ich Obdach und Feuer finden könnte. Ehe ich jedoch diese Stelle erreichte, war die Nacht eingebrochen. Es fing wieder an zu schneien und ich hielt es für zu gefährlich, den breiten Weg zu verlassen, um einer unbekannten Fährte zu folgen. Ich beschloß daher, mich so gut als möglich nach den Umständen zu richten. Sie waren nicht unerträglich. Ich hatte Feuerstein mit Zunder, und nachdem ich etwas trockenes Holz mit Reisig gesammelt hatte, gelang es mir mit einiger Mühe ein Feuer anzuzünden. Kalt und hungrig war ich freilich nicht wenig. Aber das schlug ich nicht hoch an. Es war blos ein Extrafasttag und ich fand es ganz natürlich, daß meine Lebensreise mit Schwierigkeiten und Gefahr begann. So geht es ja auch immer in den Legenden oder Märchen oder wenn etwas Großes vollbracht werden soll.

Aber in der Nacht, als der Wind durch die zahllosen Stämme der Fichten heulte, nicht mit jenem sanften Säuseln, womit er Sommers in den Eichenwäldern spielt, sondern eintönig, klagend, wie ein Grablied, da erhob sich ein Sturm in meinem Innern, wie ich ihn nie zuvor gefühlt hatte. Ich wußte, daß Räuberbanden in dieser Gegend hausten, und in der Ferne hörte ich das Geheul der Wölfe; aber es war nicht Furcht, was mein Gemüt so sehr beunruhigte, wenigstens nicht Furcht vor leiblicher Gefahr. Ich dachte an alle Geschichten von wilden Jägern, von unseligen, schuldbeladenen Menschen, welche von Scharen böser Geister verfolgt wurden; und diese Geschichten, welchen Else und ich mit Freude und Schauer gelauscht hatten, während die Großmutter sie zu Hause hinter dem warmen Ofen erzählte, erfüllten jetzt meine Seele mit starrem Entsetzen. Denn war ich nicht selbst ein sündhaftes Geschöpf und nur zu gewiß von Teufeln umgeben? Was konnte sie hindern, sich meiner zu bemächtigen? Wer in aller Welt stand mir zur Seite? Durfte ich vertrauensvoll zu Gott emporblicken, der nur die liebt, die reines Herzens sind? Oder zu Christo? Aber er ist ja der Richter; und schrecklicher als das Geschrei ganzer Legionen Teufel wird von dem furchtbaren schneeweißen Gerichtsstuhle herab seine Stimme in das Ohr des Sünders schallen. Nun standen alle meine Sünden gegen mich auf, meine versäumten Gebete, unvollständig vollbrachte Bußübungen, mangelhafte Beichte. Hatte ich nicht erst noch am Morgen stolze und ehrgeizige Gedanken gehegt, ja vielleicht in eitlem Hochmute mich mit einem guten Vater verglichen und in Träumen glänzender Erfolge und weltlicher Freuden gewiegt? Wohl konnte der Wunsch, meine Eltern der Armut und Not zu entreißen, schwerlich eine Sünde sein; aber gewiß war es Sünde, nach weltlichem Ruhme zu trachten, wie Pater Christoph mir oft gesagt hat. Wie schwierig aber nun, beides von einander zu trennen! Wo endigte die Tugend, wo begann Stolz und Ehrgeiz? Ich beschloß, wenn ich je Erfurt erreichen sollte, mich sogleich nach einem Beichtiger umzusehen. Und doch, was könnte selbst der weiseste Beichtvater mir in solchen Schwierigkeiten helfen? Wie könnte ich je gewiß sein, daß ich bei der Prüfung meiner Absichten mich nicht selbst und dann ihn getäuscht und somit eine auf falschen Gründen ruhende Absolution erhalten hätte, die mir nichts helfen könnte? Und wenn dies vielleicht der Fall wäre mit allen künftigen Beichten, warum könnte es nicht immer so gewesen sein?

Dieser Gedanke war mir entsetzlich; er schien einen unergründlichen, gähnenden Abgrund des Elendes unter meinen Füßen zu öffnen. Ich konnte aus dieser quälenden Unruhe eben so wenig mich herausfinden als aus dem endlosen Walde.

Denn waren diese Befürchtungen begründet, so hatte ich nicht nur keine Vergebung für die Sünden, die ich zu beichten versäumt, sondern auch für jene, welche ich zwar gebeichtet, für die ich aber unter falschen Voraussetzungen absolviert worden war. So stand meine Seele vielleicht in diesem Augenblicke völlig unbeschützt wie mein Leib vor dem Schnee, dem Zorne Gottes, dem Richterspruche Christi und der triumphierenden Grausamkeit des Teufels anheimgefallen da.

Nur eines konnte mich noch retten: aber es war nirgends zu finden. Wenn es einen Beichtvater gäbe, der in die Tiefen meines Herzens und zurück in jede Stunde meines vergangenen Lebens zu schauen, mich mir selbst zu enthüllen und alle meine Beweggründe zu erforschen vermöchte und mir die Bußübungen auflegen könnte, die ich wirklich verdiente, o dann wollte ich bis ans Ende der Welt reisen, um ihn zu finden. Die strengsten Bußübungen, die er nur in dem Leben der heiligen Einsiedler und Märtyrer finden könnte, würden mir leicht dünken, wenn ich nur sicher sein dürfte, daß es die rechten wären und eine gültige Absolution verschafften. Doch schien mir, ein solcher Beichtvater sei ja unmöglich zu finden.

Wie könnte ich denn nun je eine sichere Hoffnung der Vergebung meiner Sünden erhalten? Welcher Priester oder Mönch, und wäre er der heiligste auf der ganzen Erde, könnte mich je versichern, daß ich gegen mich selbst aufrichtig gewesen? Welche Absolution könnte mir ein Recht geben zu glauben, daß mein Taufkleid, das ich, wie man mir gesagt, schon befleckt hatte, noch ehe ich die Kinderschuhe zertreten, je wieder rein und weiß werde?

Unter solchen Ueberlegungen kam mir zum ersten Male in meinem Leben der Gedanke an das Mönchsgelübde, an das Kloster und die Kutte. Ich wußte, daß in dem Klosterleben eine Macht liege, welche manche einer zweiten Taufe gleichstellen. Sollte wirklich das Ende aller meiner Bestrebungen zuletzt nur die Mönchskutte sein? Was sollte dann aus Vater und Mutter, aus meiner lieben Else und den Kleinen werden? Der Gedanke an diese geliebten Wesen schien auf einen Augenblick die düstere Furcht zu vertreiben, gerade wie ein Herdfeuer die Wölfe fern halten soll. Allein bald schien eine hohle Stimme mir zuzurufen: »Wenn Gott dir zuwider ist und die Heiligen und dein Gewissen, welche Stütze kannst du für deine Familie oder irgend Jemand sein?« –Der Widerstreit wurde mir ganz unerträglich. Es war mir unmöglich zu unterscheiden, welche Eingebungen vom Teufel, welche von Gott und welche von meinem eigenen sündhaften Herzen herkamen, und doch konnte es unverzeihliche Sünde sein, sie zu verwechseln. Daher bemühte ich mich, den übrigen Teil der Nacht hindurch gar nicht zu denken, sondern sagte, immer auf- und abgehend, die zehn Gebote, das Credo, das Paternoster, das Ave Maria, die Litanei der Heiligen und alle Gebete her, die mir einfielen. Nach und nach beruhigten sie mich, besonders das Credo und das Paternoster, entweder weil dies Zaubersprüche sind, welche die bösen Geister besonders fürchten, oder weil etwas so Tröstliches in den Worten »Unser Vater« und »Vergebung der Sünden« liegt, vielleicht aus beiden Gründen.

Endlich tagte der Morgen und die Sonnenstrahlen schienen schräg zwischen den roten Stämmen der Fichten hindurch. Ich sprach das Ave Maria, dachte an die liebe Mutter Gottes und fühlte mich ein wenig erheitert.

Allein den ganzen folgenden Tag konnte ich mich nicht völlig von den Schrecknissen der vergangenen Nacht erholen. Ein Schatten war auf alle meine Pläne und Entwürfe gefallen. Wie konnte ich wissen, ob meine heiligsten Lebenszwecke nicht Versuchungen der argen Welt, des Fleisches und des Teufels waren und ob nicht bei all meiner Arbeit für die Lieben in der Heimat, meine Sünden ihnen mehr Fluch bringen würden, als alle Erfolge ihnen helfen könnten.

Als ich jedoch den Schatten des Waldes verließ, wurde mir das Herz leichter und froher. Ich werde nie mehr an der Wahrheit der schauerlichsten Geschichten aus den Wäldern zweifeln, noch daran, daß die bösen Geister besonders in einsamen Wäldern des Nachts ihr Wesen treiben.

Wie froh war ich, als ich auf der Ebene die Türme von Erfurt sich erheben sah.

Ich fand blos einen Freund in Erfurt; aber Martin Luther gilt mir so viel als ein ganzes Heer. Er ist schon sehr geachtet bei den Studenten, und die Lehrer erwarten große Dinge von ihm.

Er studiert vorzüglich die Rechtswissenschaft, weil sein Vater wünscht, daß er ein bedeutender Advokat werde. Das soll künftig auch mein Beruf sein, und sein Rat, der stets so recht von Herzen kommt, ist mir von dem größten Nutzen.

Seine Verhältnisse haben sich indessen sehr verbessert, seitdem wir zuletzt seine Bekanntschaft machten und Tante Ursula sich des armen, um ein Stücklein Brot vor den Thüren singenden Schülers erbarmte. Die unablässigen Bemühungen seines Vaters, seine Familie zu ernähren und empor zu bringen, sind endlich mit Erfolg gekrönt worden; er ist jetzt Besitzer einer Gießerei und einiger Schmelzöfen und unterstützt Martin freigebig auf der Universität. Der eisige Morgen von Martins Kämpfen ist nun wohl vorüber und die Zukunft lächelt ihm freundlich entgegen.

Erfurt ist die bedeutendste Universität Deutschlands, gegen welche alle andern, wie Martin Luther sagt, nur einfache Privatschulen sind. Wir haben gegenwärtig tausend bis dreizehnhundert Studenten. Einige unserer Professoren haben die Klassiker in Italien bei den Nachkommen der alten Griechen und Römer studiert. Der Kurfürst Friedrich hat freilich erst vor Kurzem zu Wittenberg eine neue Universität gegründet; aber wir zu Erfurt sind gar nicht bange, daß sie unserer alten Anstalt den Rang ablaufen werde.

Die Humanisten oder Schüler der alten, heidnischen Gelehrsamkeit, mit Mutianus Rufs an ihrer Spitze, haben hier große Macht. Sie kommen oft zusammen, besonders in seinem Hause, und er giebt ihnen Gegenstände zu lateinischen Versen, wie z. B. das Lob der Armut, auf. Martin Luthers Freund, Spalatin, hat sich dieser Gesellschaft angeschlossen, aber er selbst nicht, wenigstens nicht als ordentliches Mitglied. Es werden freilich über ihre Gespräche seltsame Dinge erzählt, welche die Dichter und Philosophen (was sie sich zu sein rühmen) in orthodoxen Kreisen in sehr schlechten Ruf bringen. Man sagt, daß Mutianus und seine Freunde diese Ideen mit der klassischen Litteratur aus Italien eingeführt haben. Er hat sogar erklärt und in einem Briefe an einen Freund geschrieben, daß es nur »einen Gott und eine Göttin gebe, obgleich unter verschiedenen Formen und Namen, als Jupiter, Sol, Apollo, Moses, Christus; Luna, Ceres, Proserpina, Tellus, Maria;« allein er warnt seine Schüler, öffentlich davon zu reden. »Diese Ansichten müssen in Schweigen gehüllt werden,« sagte er, »gleich eleusischen Mysterien. In Sachen der Religion müssen wir uns des Gewandes der Fabel und Rätsel bedienen. Laßt uns durch die Gnade Jupiters, des besten und höchsten Gottes, die geringeren Götter verachten! Wenn ich Jupiter sage, so meine ich Christum und den wahren Gott.«

Mutianus und seine Freunde sprechen in ihren vertrautesten Kreisen auch sehr leichtfertig über die Ceremonien der Kirche, nennen die heilige Messe eine Komödie, die heiligen Reliquien Rabengebeine (d. h. an dem Galgen hängen gebliebene Skelette, an denen die Raben picken), den Altardienst eine verlorene Zeit und bezeichnen höhnisch die Stundengebete als ein bloßes Hundegebell oder als das Gesumse nicht fleißiger Bienen, sondern fauler Drohnen.

Wenn man ihnen solche unehrerbietige Reden vorwerfen wollte, würden sie wahrscheinlich erwidern, daß sie dieselben nur in einem geheimen Sinne ausgesprochen und nichts damit gemeint hätten. Allein wenn Menschen es für Recht halten, die Wahrheit so zu verstellen und ihre Irrtümer wegzuleugnen, so ist es schwer zu unterscheiden, was bei ihnen Maske und was Wirklichkeit ist. Auch scheint es mir, daß sie aus den tiefsten und wichtigsten Fragen ein bloßes Spiel oder eine Uebung ihres Verstandes machen.

Wahrscheinlich hält dieses mehr als die Verwegenheit ihrer Forschungen Martin Luther ab, sich ihnen zuzugesellen. Er ist so ehrfurchtsvoll ungeachtet seines mutigen Charakters. Ich glaube, er wäre fähig alles zu wagen oder zu leiden für das, was er für wahr hält; aber er kann es nicht ertragen, auch nur das kleinste Teilchen von dem, was ihm heilig ist, als eine Posse oder als eine bloße Uebung des Witzes behandelt zu sehen.

Auf den ausdrücklichen Wunsch seines Vaters beschäftigt er sich gegenwärtig vorzüglich mit den Gesetzen und der Literatur der Römer und mit dem Studium der Philosophie und den Allegorien des Aristoteles. Er mag es gern zu thun haben mit dem, was wahr, ernst und gediegen ist; Poesie und Musik sind seine Freude und Erholung. Aber worin er sich am meisten auszeichnet, das ist die Kontroverse. Neulich führte er mich Abends in eine Gesellschaft von Studenten ein, wo über alte und neue Fragen gestritten wurde, und es war herrlich zu sehen, wie unser Martin die Palme davontrug; zuweilen auf seine Gegner sich stürzend, wie ein Adler auf eine Schar kleiner Vögel, oder mit seiner großen Löwentatze ein ganzes Heer von Einwürfen ruhig zerdrückend, offenbar ganz unbekümmert um das Unheil, welches er angerichtet, bis die leise Wehklage des niedergeworfenen Feindes ihn darauf aufmerksam machte, worauf er sich mit einer herzlichen Entschuldigung, ihm wehe gethan zu haben, zurückzog. Zuweilen vernichtete er einen unrichtigen Schluß oder eine verwirrte Behauptung mit einem Blitzstrahle seines Witzes oder seiner Satyre.

Ich glaube nicht, daß die Menge der Einwürfe bei einer Streitfrage ihn je verwirren kann. Er hält die eine Wahrheit, wofür er streitet, fest und blickt auf den einen Punkt, nach dem er zielt, und geht darauf los mit der ganzen vereinten Macht seiner wunderbaren Willenskraft und der blitzartigen Schnelligkeit seiner Gedanken, alles zertretend, was ihm in den Weg kommt, zerstreuend, was ihm rechts und links ausweicht und sich wenig darum kümmernd, wie sich die zerstreuten Kräfte hinter ihm wieder sammeln und aufstellen mögen. Er weiß, daß er sich nur umzuwenden braucht, um dieselben in einem Augenblicke aufs neue wieder aus dem Felde zu schlagen.

Ich kann nicht gerade sagen, ob diese Art der Kriegführung bei einem Advokaten, der jede Sache, die er übernommen hat, aufs Beste verteidigen muß, besonders zweckmäßig wäre. Ich kann mir Martin Luther durchaus nicht vorstellen, wie er ruhig für den Teil, der im Unrecht ist, die Beweisgründe sammelt, um eine schlechte Sache zu verfechten; und doch ist dies wohl sehr oft die Aufgabe eines Rechtsgelehrten.

Nichtsdestoweniger wird er schon seinen Beruf in der Welt finden. Die Professoren und Gelehrten hegen die glänzendsten Erwartungen von seiner Laufbahn. Und er scheint, was sehr selten sein soll, ebenso der Liebling der Studenten wie der Professoren. Er ist so gesellig und sein musikalisches Talent sowohl als seine wunderbare Beredsamkeit machen ihn allgemein beliebt.

Und doch können wir, die ihm am nächsten stehen, zuweilen jene Flut gedankenvoller Schwermut an ihm entdecken, welche im Grunde eines jeden Herzens liegt, das tief in sich selbst und in das Leben geblickt hat.

In der Religion ist er so eifrig als je und versäumt keinen Tag die Messe. Aber bei unsern vertraulichen Unterredungen sehe ich wohl, daß sein Gewissen nichts weniger als ruhig ist. Hat er vielleicht ähnliche Kämpfe bestanden, wie ich in jener furchtbaren Nacht im Walde? Vielleicht noch heftigere und schrecklichere als die meinigen waren, da er mehr Charakterstärke und Tiefe des Gemüts besitzt als ich! aber wer kann das wissen? Was würde es helfen, einander die Angst und Unruhe zu enthüllen, welche keine Intelligenz der Welt zu lösen vermag? Ich vermute, die innersten Tiefen des Herzens müssen immer eine Einsamkeit bleiben, gleich jenem düstern und hehren Heiligtums hinter dem Vorhange des alten jüdischen Tempels, welches nur einmal des Jahres betreten und durch die dichten Falten des heiligen Vorhangs hindurch von dem äußern Lichte nur schwach erleuchtet wurde.

Wenn nur auch diese Einsamkeit wirklich ein solches Allerheiligstes wäre; –oder wenn wir, so wie es nun ist, dieselbe nur jährlich einmal zu betreten brauchten und nicht das Bewußtsein ihrer düstern Geheimnisse überall mit uns herumtragen müßten! Allein ach! wer einmal in diese Tiefen eingedrungen, kann es nimmermehr vergessen. Sie gleichen jenen eiskalten, düstern, unterirdischen Kapellen unter unsern Kirchen, wo die Totenmessen gehalten werden, und wie es bei Klosterkirchen vorkommt, wo die zu Mumien eingeschrumpften, einbalsamierten Leichen hinter Eisengittern zu sehen sind. Das Andenken an jene düstern Gemächer des Todes scheint leise herauf zu schleichen und sich in die freudigsten Festlichkeiten oben zu mischen, wie die Feuchtigkeit der Gewölbe durch den Weihrauch dringt, wie die murmelnde Wehklage des Grabliedes durch den Lobgesang tönt.

 

Erfurt im April 1503.

Soeben kommen wir von einem Ausfluge zurück, der für Martin Luther sehr unglücklich hätte werden können. Vor drei Tagen machten wir uns in der Frühe des Morgens auf den Weg, um seine Verwandten ins Mansfeld zu besuchen, unsere Herzen so voll Hoffnung, wie die Wälder voll Gesang. Wir hatten Schwerter an der Seite, unsere Felleisen waren wohl gefüllt, und so schritten wir leichten Sinnes rüstig vorwärts. Unser Weg ging durch Feld und Wald, dann an dem Ufer des Holmflusses entlang durch die goldene Aue, wo so viele herrliche Klöster und kaiserliche Burgen liegen. Allein kaum mochten wir eine Stunde unterwegs sein, als sich Luther durch irgend einen Zufall sein Schwert in den Fuß stieß. Das Blut floß zu meinem Entsetzen wie ein Strom heraus. Er hatte sich eine der Hauptpulsadern verletzt. Ich ließ ihn unter der Pflege einiger Bauern zurück und rannte nach Erfurt, einen Wundarzt zu holen. Als er jedoch ankam, hatte er große Mühe, die Wunde mit einem Verbande zu schließen. Wie vermißte ich Elsens oder der Mutter geschickte Hände! Unter mancherlei Schwierigkeiten trugen wir Luther nach der Stadt zurück. Ich wachte bei ihm. Da fing mitten in der Nacht die Wunde aufs Neue an zu bluten. Die Gefahr war sehr groß und Martin, der schon alle Hoffnung aufgab und den Tod ganz nahe glaubte, befahl seine Seele der gebenedeiten Mutter Gottes. Und wo möchten wir eine sicherere Zufluchtsstätte finden, als bei der gnadenreichen, mitleidsvollen Mutter Gottes, die selbst Sorge und Schmerz erfahren hat, aber jetzt über allen Kummer hoch erhaben ist, die ein Mutterherz hat für alle die sie anrufen, und Mutterrechte über Den, welcher der Weltenrichter ist. Ganz rührend war Martins Verehrung der heiligen Jungfrau, und ihr verdanken wir's ohne Zweifel, daß die Mittel endlich wirkten, die Wunde wieder geschlossen und das Blut gestillt wurde.

Dafür will ich der süßen Gnadenmutter manches Ave hersagen. Vielleicht erbarmt sie sich auch meiner. »O gebenedeite Jungfrau, ewige Tochter des ewigen Vaters, Herz der unteilbaren Dreieinigkeit,« will ich zu ihr sprechen; »du siehst meinen Wunsch, meiner von Sorgen niedergebeugten Mutter zu helfen; o steh' mir bei und habe Erbarmen mit mir, deinem sündhaften Kinde!«

 

Erfurt im Juni 1503.

Martin Luther hat den ersten Grad erlangt. Er ist ein eifriger Student; es ist ihm Ernst mit allem, was er thut. Cicero und Virgil sind seine beständigen Begleiter. Ueber die drückenden Nahrungssorgen ist er jetzt hinaus und wird wahrscheinlich nie mehr darunter zu leiden haben. Sein Vater ist jetzt ein wohlhabender Bürger von Mansfeld und sogar auf dem Wege Bürgermeister zu werden. Ich wollte, es stünde bei uns zu Hause eben so gut! Für mich selbst wollte ich noch ein paar Jahre drückender Armut nicht hoch anschlagen; aber meiner Mutter und Elsens Sorgen liegen mir oft recht schwer auf dem Herzen. Ach, es wird noch lange anstehen, ehe ich ihnen wesentliche Hülfe leisten kann, und indessen vergeht die schöne Jugendzeit meiner kleinen Else und vielleicht gar das Leben meiner unter der Last der Arbeit gebeugten und stets so geduldigen Mutter.

In Bezug auf mich stimme ich ganz mit Martin Luther überein, welcher sagt: »Die Jugend sollte vorzüglich lernen Mangel und Leiden zu ertragen; denn solches Leiden schadet ihr nichts. Es ist weit schädlicher, ohne Mühe und Arbeit in Wohlstand zu leben, als Mangel zu leiden.« Er sagt auch: »Gott pflege aus Bettlern mächtige Leute zu machen, gerade wie er die Welt aus Nichts geschaffen hat. Sehet die Höfe der Könige und Fürsten, die Städte und Gemeinden; da werdet ihr Juristen, Aerzte, Räte, Schreiber und Prediger finden, welche meistens zuvor arm, immer zuerst Studenten waren und durch die Feder so hoch gestiegen und Herren geworden find.« –

Aber der Weg zur Wohlhabenheit durch die Feder scheint mir sehr lang und das kostbare Leben meiner geliebten Mutter und Schwester kann sich verzehren, bis ich den Punkt erklommen habe, wo es mir möglich ist ihnen zu helfen. Oft denke ich, es wäre besser gewesen, wenn ich den Beruf eines Kaufmanns ergriffen hätte; es scheint mir, als ob man durch den Handel viel schneller reich würde, als durch Gelehrsamkeit, und nichts in der Welt scheint mir mehr der Arbeit wert zu sein, als die Last von den Herzen der Meinigen wegzunehmen. Allein es ist jetzt zu spät. An einem rollenden Steine wächst kein Moos. Ich muß nun den Weg verfolgen, den ich eingeschlagen habe. Nur zuweilen überfällt mich noch dieselbe Angst, wie in jener schauerlichen Nacht im Walde. Dann meine ich der Himmel sei mir zuwider und achte es für eitle Vermessenheit, daß ein Mensch wie ich zu hoffen wagt, Andern nützlich zu werden.

Zum Teil wohl mögen diese Gedanken von der Abspannung, die eine Folge meiner kärglichen Nahrung ist, herrühren. Martin Luther sagte es mir einst, als er mich so niedergeschlagen fand. Er hat ja auch Not und Mangel gelitten und hatte sogar ernstlich daran gedacht, das Studieren aufzugeben und zu seines Vaters Beruf zurückzukehren. Er ist sehr gütig gegen mich und alle Bedürftigen; allein seine Mittel reichen nicht weiter als zu seinem eigenen Unterhalt aus. Oder vielmehr, sie gehören nicht ihm, sondern seinem Vater, und sein Gefühl sagt ihm, daß er kein Recht habe, auf Kosten seines Vaters, der für ihn arbeitet und spart, freigebig zu sein.

Ich muß freilich gestehen, nach einer guten Mahlzeit sieht man das Leben ganz anders an. Aber dann kann ich den Gedanken gar nicht los werden, welch kärgliche Nahrung die Meinigen zu Hause haben. Elsens Briefe sind freilich nicht traurig; nie erwähnt sie etwas, das mich betrüben könnte, und diese Woche hat sie mir sogar einen Gulden geschickt, der, wie sie sagte, ihr eigen gehört und den sie nie zu gebrauchen gelobte, wenn ich ihn nicht annehmen würde. Allein ein Student, der sie kürzlich gesehen hat, sagte, meine Mutter sehe mager und kränklich aus. Und um die Sorgen noch zu vermehren, hat mein Vater vor einem Monat eine kleine Waise, Namens Eva von Schönberg, eine Base seiner Mutter, ins Haus genommen. Bewahr mich Gott, daß ich der Waise das Stücklein Brot mißgönnen sollte; aber wenn unsere Mutter und die Kleinen darum verkürzt werden, hält es schwer, sich über eine solche Handlung der Barmherzigkeit zu freuen.

 

Erfurt im Juli 1503.

Soeben habe ich ein Stipendium erhalten, welches, wie ich hoffe, wenigstens für jetzt meine Familie aller Sorgen um meinen Unterhalt enthebt. Die Regeln sind sehr streng und durch viele furchtbare Gelübde und Eide eingeschärft, die mein Gewissen nicht wenig beunruhigen, weil ich durch die geringste unwillkürliche Uebertretung derselben mich der Eidbrüchigkeit schuldig mache. Jedoch ist es ein Schritt zur Selbständigkeit und man könnte wohl für solchen Zweck noch ein viel härteres Joch tragen.

Wir (die Teilnehmer an dieser Stiftung) haben feierlich gelobt, die sieben Stundengebete zu halten und nie eines derselben zu versäumen. Dies verpflichtet zum Frühaufstehen, was für einen Studenten eine sehr gute Gewohnheit ist. Am schwierigsten ist es das Mitternachtsgebet zu halten, nachdem man den ganzen Tag über vom eifrigen Lernen müde geworden ist. Allein es ist nichts schwereres, als was die Soldaten im Dienste gar oft thun müssen. Außerdem haben wir bei Begräbnissen das Miserere zu singen und häufig den Preis der gebenedeiten Jungfrau Maria zu hören. Dies letztere kann gewiß keine schwere Aufgabe heißen, am wenigsten für mich, der ich der Mutter Gottes eine ganz besondere Verehrung widmen, täglich den Rosenkranz beten, der Freuden der Maria, des englischen Grußes, der Reise über das Gebirge, der schmerzlosen Geburt, der Auffindung Jesu im Tempel und ihrer Himmelfahrt gedenken möchte. Nur das Gelübde macht, daß es mir eine schwere Verpflichtung scheint; eigentlich aber ist es trotz alledem eine große Wohlthat. Ich kann jetzt mit gutem Gewissen Elsen schreiben, daß ich nun keinen Pfennig mehr von ihrem spärlichen Vorrate brauche und mit der nächsten Gelegenheit auch den Gulden zurücksenden werde, welchen sie mir geschickt hat und den ich glücklicherweise noch nicht berührt habe.

 

Erfurt im August 1503.

Martin Luther ist gefährlich krank; die Professoren und Studenten sind sehr um ihn besorgt. Er hat so viele Freunde. Kein Wunder, da er selbst kein kalter Freund ist, und Alle von seinen außerordentlichen Gaben große Ehre für die Universität erwarten. Ich darf kaum daran denken, was ich an ihm verlieren würde. Doch diesen Morgen hat ein alter Priester, der ihn besuchte, uns wieder neue Hoffnung gemacht. Als Martin anscheinend in den letzten Zügen dalag und selbst den Tod erwartete, kam dieser alte Priester an sein Bett und sagte sanft, aber in dem Tone fester Ueberzeugung: »Sei guten Mutes, mein Bruder, du wirst diesmal nicht sterben; Gott will noch einen großen Mann aus dir machen, der viele trösten soll. Wen Gott liebt und zum Segen für andere setzen will, dem legt er frühe das Kreuz auf, und wer geduldig leidet, lernt viel in dieser Schule.«

Diese Worte hatten eine wundersame Gewalt und ich kann mich nicht enthalten zu glauben, daß der Patient ein wenig besser ist, seitdem sie ausgesprochen worden. Wahrlich, ein gutes Wort ist Nahrung und Arznei für Leib und Seele.

 

Erfurt im August 1503.

Martin Luther ist genesen! der Allmächtige, die gnadenreiche Mutter und alle Heiligen seien dafür gepriesen!

Die Worte des guten alten Priesters sind auch mir besonders tröstlich geworden. Wenn doch nur wirklich der Druck und die Sorgen, welche so früh auf Elsen und mir gelastet, nicht eine Zornrute Gottes, sondern das Kreuz wären, das Gott denen auflegt, die er liebt! Wer vermag das zu sagen? Für Else wenigstens will ich mich bemühen es zu glauben.

Die Welt ist so weit und groß in unsern Tagen, durch den von den spanischen Seeleuten jenseits des atlantischen Ozeans entdeckten neuen Erdteil und die edle alte Welt, welche für die Gelehrten durch die herrlichen Quellen der alten Klassiker eröffnet und durch das wiederaufgenommene Studium der griechischen und lateinischen Sprachen entsiegelt worden ist. Dazu kommt, daß die vor Kurzem erfundene Buchdruckerkunst die neuerdings eröffneten Quellen der Weisheit des Altertums, wie Vater sagt, in zahllosen Kanälen unter Hohen und Niedern verbreiten wird.

Ja, es ist jetzt eine glorreiche Zeit, in der wir leben. So Vieles ist uns schon aufgeschlossen, und wer weiß, was noch kommen mag? Ist es doch, als ob alle Herzen vor Erwartung höher schlügen, als ob nichts zu groß wäre, das wir nicht erwarten, nichts zu gut, das wir nicht hoffen dürften?

Wohl uns, daß wir unsern Drachen an der Schwelle des Lebens und nicht am Ende unserer Laufbahn an der Schwelle des Todes gefunden haben! In dieser weiten und immer weiter werdenden Welt muß es auch für mich und die Meinigen einen Platz geben. Welcher Art mag er wohl sein?

Und was wird noch aus Martin Luther werden? Großes wird von ihm erwartet. Berühmt, sagt ein Jeder auf der Universität, muß er werden. Auf welchem Felde wird er seine Lorbeeren verdienen? Werden es Lorbeeren oder Palmen sein?

Wenn ich ihm in den Disputationen der Studenten zuhöre, wo Alle seiner Meinung lauschen, seine Beredsamkeit bewundern, sehe ich schon jetzt den Lorbeerkranz auf seinen schwarzen Locken um seine hohe, ernste Stirne gewunden. Wenn ich aber an den Kampf denke, der, wie ich wohl weiß, auch in seinem Innern vor sich geht, an die ängstliche Inbrunst seiner Gebete, an den Widerstreit in seinem Gewissen, an seine Not bei jeder Versäumnis der Pflicht, und die tiefe Schwermut beobachte, die sich oft in seinen Blicken kund gibt, dann denke ich nicht an die Heldensagen, sondern an die Legenden der Heiligen und bin begierig, in welchem Siege über den alten Drachen er seinen Palmenzweig gewinnen wird.

Doch die Glocke ruft zum Gebete, und ich darf die heilige Stunde nicht versäumen.


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