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Wittenberg, September 1527.
Ich habe es endlich von Herzen gesagt! Ja, ich weiß gewiß, ich sage es von Herzen; und wenn es auch mit gebrochenem ist, so wird Gott dies nicht verachten.
»Unser Vater, der du bist im Himmel! Dein Wille, nicht der meinige geschehe!«
Ich hatte gedacht, ich könnte alles eher ertragen als Ungewißheit; aber ich ahnte nicht, welch verzweiflungsvolle Leere die Gewißheit bringen werde.
Da kamen schreckliche, rebellische Gedanken, daß Gott ihn allein sterben ließ! Dann fiel mir alles aufs Herz, was man mir gesagt hatte, mir keine Abgötter zu schaffen, und ich fing an zu fürchten, daß ich noch nie Gott wahrhaft geliebt und angebetet habe, sondern nur Bertrand; und dann kam eine lange Zeit der Oede und Dunkelheit, in welche kein Strahl menschlicher noch göttlicher Liebe, keine Stimme des Trostes zu dringen vermochte. Ich glaubte, Gott werde mich nie annehmen, bis ich sagen könnte: »Dein Wille geschehe,« und dies konnte ich nicht.
Einige Worte in einer Predigt Dr. Luthers schienen zuerst etwas Eindruck auf mich zu machen. Er sagte, es sei ein Leichtes, in guten Tagen an Gottes vergebende Liebe zu glauben; aber in Zeiten der Versuchung, wenn der Teufel die Seelen mit all seinen feurigen Pfeilen angreife, habe er es selbst schwer gefunden, die so wohl bekannte Wahrheit, daß Christus nicht ein strenger Richter oder harter Gläubiger, sondern ein verzeihender Heiland, ja die Liebe selbst, nichts als reine, unveränderliche Liebe sei, festzuhalten.
Nun begann ich zu verstehen, daß es der Teufel war, auf den ich in der Finsternis meines Herzens gehört, daß jener boshafte, quälende Geist mich überredet hatte, ich dürfe nicht zum Vater kommen, ehe ich ihm ein vollkommen unterwürfiges Herz darbringen könne.
Jetzt fielen mir die Worte ein: »Kommet zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid.« Da fiel ich in meinem einsamen Zimmer auf die Knie und rief: »O lieber Heiland, o himmlischer Vater! ich bin nicht ergeben, aber ich bin mühselig und beladen und komme zu Dir. Willst Du mich annehmen, so wie ich bin und mich sagen lehren: Dein Wille geschehe? Da nahm er mich an, und hat es mich nach und nach gelehrt. Wenigstens kann ich heute Nacht so sprechen. Morgen vielleicht wird der alte Aufruhr wieder ausbrechen. Aber wenn es geschieht, werde ich abermals zu meinem himmlischen Vater gehen und wieder sagen: »Noch nicht ergeben; aber schwer beladen! Vater, nimm mich bei der Hand und sage: Beginne von neuem!«
Umringt von all diesen glücklichen Familien, fühlte ich mich so unnötig, so unaussprechlich einsam.
Ich wünschte die alten Klöster zurück, um mich fern von allen Lauten der Freude in eines derselben begraben zu können. Doch sie waren mir, Gott sei Dank! verschlossen, und ich sehne mich nun nicht mehr darnach.
Dr. Luther hat mir zuerst geholfen, indem er mir zeigte, daß es der Teufel war, der mich abhielt, mich Gott zu nahen.
Und jetzt hat mir Gott geholfen, indem er wieder einen Schimmer von Dankbarkeit und Liebe in meinem Herzen entzündet hat.
Die Pest ist abermals in Wittenberg gewesen. Dr. Luthers Augustei wurde zu einem Krankenhause. Denn so teuer ihm auch seine Käthe und sein Hänschen sind, so wollte er doch diesmal so wenig wie ehemals, da er noch als Mönch in dem Kloster, seinem jetzigen Hause lebte, der Gefahr entfliehen.
Und wie wohlthuend waren seine kräftigen, glaubensvollen Worte von der Kanzel, am Sterbebette und im Hause der Trauer!
Aber vorzüglich durch meine liebe, teure Mutter hat Gott zu meinem Herzen gesprochen und mir gezeigt, daß Er stützt, sorgt und erhört. Sie war am Rande des Grabes, und jetzt ist sie wieder besser. Man sagt, die Gefahr sei vorüber. Nie mehr will ich in meinem Herzen sagen: »Mir allein gibt Gott keine Familie!« Nie will ich wieder der Besorgnis Raum geben, ich möchte mich zu innig an die Lieben anschließen, welche Gott mir noch gelassen hat, aus Furcht vor dem Schmerz, der uns trifft, wenn das Band getrennt wird. Ich will Freude und Liebe mit allen Möglichkeiten des Kummers annehmen und beides Gott anheimstellen.
Vielleicht hat auch Gott noch ein kleines Liebeswerk für mich, irgend einen Dienst, den ich erweisen kann, um mir das Bewußtsein zu schenken, daß ich, so lange ich auf dieser Welt bleiben muß, doch nicht ganz unnütz bin. Heute kam Justus Jonas, der seinen kleinen Sohn an der Pest verloren hat, zu mir und sagte:
»Thekla, komm zu meinem Weibe. Sie sagt, du könntest sie trösten; denn du verstehst, was Kummer sei.« –
Natürlich ging ich zu ihr. Ich glaube aber nicht, daß ich etwas sagte, um sie zu trösten. Ich konnte fast nichts, als weinen, indem ich in das kleine, unschuldige, ruhige, leblose Gesichtchen sah. Allein als ich sie verließ, sagte sie, ich habe ihr wohl gethan, und bat mich, wieder zu kommen.
So hat Gott vielleicht noch manchen Liebesdienst mir anzuweisen, den ich nicht anders hätte lernen können, als so wie Er mich gelehrt hat. Und wenn Bertrand und ich uns dereinst wieder finden, und wir die liebe, gottmenschliche Stimme hören werden, die uns beide durch diese Welt geleitet hat, werden wir uns mit einander freuen über den bittern Schmerz, den wir gefühlt und ertragen haben, und Gott in alle Ewigkeit dafür danken!