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XXXVIII.
Der Mutter Geschichte.

Wittenberg 1545.

Gewiß gibt es in der ganzen Christenheit keine alten Leute, welche so dankbar sein sollten, als mein Gatte und ich.

Ohne Zweifel sind alle Eltern geneigt, ihre Kinder von der besten Seite zu betrachten, aber mir scheint, bei den unsrigen ist gar keine andere zu sehen. Else hat vielleicht ein wenig zu viel von meiner Aengstlichkeit, aber ihr zärtliches Herz hat doch, so gut wie alle andern, ein reiches Maß von der Heiterkeit ihres Vaters. Und obgleich wohl keines von ihnen des Vaters erfinderischen Geist besitzt, so scheint dies eigentlich gar nicht bedauernswürdig. So wie es in der Welt zugeht, kommen oft Leute im letzten Augenblick und ernten die Frucht dieser Erfindungen, indem sie irgend eine unbedeutende Kleinigkeit hinzufügen, welche die Erfindungen aufs praktische Leben anwenden und ihnen den Anschein gibt, als seien sie die wahren Erfinder.

Nicht als ob ich einen Augenblick den Leuten zürnen möchte, welche das Geschick haben, die letzte Hand ans Werk zu legen und es zu Stande bringen; auch das ist, wie Vater sagt, eine Gabe Gottes, und wenn sie auch nicht den großen, hochfliegenden Gedanken und Plänen meines Gatten zu vergleichen ist, so hat sie doch mehr gangbaren Wert in der Welt. Ich will damit aber auch nicht über die Welt klagen. Wir haben hier alle so viel mehr, als wir verdienen (ausgenommen vielleicht mein lieber Mann, dem so wenig um ihre Belohnung zu thun ist). Es ist wunderbar, wie gut Jedermann gegen uns gewesen ist. Gottfried Reichenbach und alle unsere andern Schwiegersöhne sind wie leibliche Söhne für uns; sie hätten unsere Töchter nicht wehr schätzen können, wenn sie eine fürstliche Mitgift gehabt hätten. Allein ich muß aufrichtig bekennen, ich glaube, unsere lieben Töchter selbst, ohne einen Kreuzer Mitgift, sind ein ganzes Vermögen wert für jeden Mann. Oft wundere ich mich im Stillen, wie sie so gute Hausfrauen und in jeder Beziehung so verständig und klug geworden sind, da ich mich doch nie für eine ausgezeichnete Haushälterin angesehen habe. Freilich waren die Gespräche ihres Vaters sehr belehrend, und meine liebe, selige Mutter war eine wahre Schatzkammer von Weisheit und Erfahrung. Allein solche Dinge lassen sich nicht erklären. Gott ist unbeschreiblich gütig, indem er die geringsten Bemühungen, die Kleinen zu Seiner Ehre zu erziehen, segnet. Unsere Armut während ihrer frühern Jugend war gewiß eine rechte Schule der Geduld und häuslicher Tugenden für alle. Selbst Christoph und Thekla, welche uns zuerst die meisten Sorgen machten, sind nun die Stütze und Freude unseres Alters geworden. Daraus erhelligt, wie wenig man das Gute vorhersehen kann.

Wie pflegte ich nicht für beide zu zittern! Es machte Elsen und mir solche Sorge, als Christoph der Religion anscheinend den Rücken zuwandte, nachdem Fritz ins Kloster gegangen war; und welch ein Trost war es für uns, zu sehen, daß er in Dr. Luthers Predigten und in der Bibel die Wahrheit fand, vor der sein Herz sich in Ehrfurcht beugte, die aber keineswegs die freie Entwicklung seines Charakters hemmte und nicht verlangte, ihn in eine Form zu gießen, die für andere gemacht war. Welcher Trost war es, als wir hörten, daß er sich nicht von der Religion abwandte, sondern nur von den Irrtümern, die gelehrt wurden, und daß er sich mit ebenso heiligem Eifer seinem Berufe als Buchdrucker widmete, wie Fritz dem eines Pastors!

Dann unsere Thekla! Wie besorgt war ich eine zeitlang um sie! Wie gern hätte ich ihre Erziehung aus Gottes Hand in die meinige genommen, weil ich meinte, ihrem feurigen, begeisterten, liebenden Gemüt manchen Schmerz zu ersparen!

Mit liebevollen Warnungen und weisen Vorschriften wollte ich alles in ihr besänftigen und zähmen. Ich wollte, daß sie weniger heftig lieben, sich mit mehr Mäßigung freuen und minder leidenschaftlich trauern sollte. Ich gab mir alle Mühe, ihren Charakter in eine engere Form zu zwängen. Allein Gott wollte es nicht. Ich erkenne es jetzt ganz deutlich. Sie sollte lieben und sich freuen, dann weinen und klagen, wie ihr Herz gebot, damit sie in den Höhen und Tiefen, wohin sie Gott führte, das lernte, was sie lernen sollte von der Höhe und Tiefe jener Liebe, die über alle irdische Freude und Trauer geht. –Ihr Charakter, den meine ungeschickte Hand an seiner Entwicklung gehindert und verkrüppelt hätte, wurde dadurch gekräftigt und befestigt, damit andere in ihrer Teilnahme und Liebe Schutz und Trost finden möchten, wie dies jetzt so vielfach der Fall ist. Ich hätte geschwächt, um zu besänftigen; die göttliche Vorsehung hat gestärkt, entwickelt und zugleich besänftigt, und hat sie statt gemacht, um nicht allein zu fühlen, sondern auch zu leiden und zu helfen.

Es ist unaussprechlich, was sie für uns ist, das einzige Kind, das uns noch ganz gehört, dem wir noch immer die Nächsten und Teuersten sind, das unser Alter mit solch zärtlicher Pflege versüßt, durch ihre kindliche Liebe uns verjüngt und durch ihr eigenes, wohlwollender Thätigkeit gewidmetes Leben unserm abnehmenden Leben den Reiz und die Thätigkeit eines reiferen Alters mitteilt.

Else und ihre Familie sind unsere tägliche Freude und Wonne, Eva und Fritz unsere köstlichen Schätze, und alle andern sind so gut und lieb wie nur möglich; aber für alle übrigen sind wir Großvater und Großmutter; für Thekla allein sind wir noch immer Vater und Mutter, ihre Beschützer, ihre Heimat. Nur zuweilen beschleicht mich meine frühere ängstliche Besorgnis, was aus ihr werden wird, wenn wir einmal dahin sind. Doch habe ich jetzt keine Entschuldigung mehr dafür, da ich jetzt alle die herrlichen Verheißungen unseres Herrn und seine Worte über die Lilien und Vögel in meiner deutschen Bibel habe, und Vögel und Lilien draußen vor meinem Fenster, auf dem Dache und im Garten mir deutlich genug davon predigen.

Keine Frau hat Dr. Luther und der Reformation so viel zu danken wie ich. Ihm danke ich Christophs Frömmigkeit, Fritzens und Evas Verbindung, ihm, daß Thekla noch bei uns zu Hause ist, anstatt sich in ein Kloster begraben zu haben, daß ich noch zwei Monate mit meiner teuren Schwester Agnes zubringen durfte vor ihrem friedevollen Heimgang, und daß mein eigenes Herz von der schweren Last der Furcht befreit ist, die ehedem es fast erdrückte!

Und doch möchte oft mein schüchternes, Ruhe liebendes Gemüt fast erschrecken, nicht sowohl vor dem, was geschehen ist, als vor der Art, wie es geschah. Es däucht mir, ein wenig mehr Sanftmut hätte den schrecklichen Bruch zwischen der alten und der neuen Religion ersparen, den Bauernkrieg verhindern und die Guten beiderseits noch miteinander verbinden können. Denn daß es unter beiden Parteien fromme Menschen gibt, lasse ich mir von niemanden zweifelhaft machen. Ja, ist nicht unser guter, nüchterner, verständiger Pollux noch in der alten Kirche? Und kann ich zweifeln, daß sein frommes, liebevolles Weibchen, das die Armen besucht und die Kranken pflegt, Gott liebt und Ihm zu dienen sucht?

Wahrlich, ich kann mich nicht enthalten, es unter unsere Segnungen zu zählen, daß einer unserer Söhne noch der alten Religion anhängt; obschon meine Kinder, die weiser als ich sind, nicht so denken, noch Dr. Luther, den ich eigentlich für den weisesten von allen halte. Ich sollte vielleicht lieber sagen so groß auch für uns der Kummer und für ihn der Verlust ist, so halte ich es doch für gut, daß unser Pollux ein Band ist zwischen uns und der Religion unserer Väter. Es ist mir, als würden wir dadurch an das Band unserer gemeinsamen Schöpfung und Erlösung und unseres gemeinsamen, wenn gleich dunkeln Glaubens an unsern Schöpfer und Erlöser erinnert. Es bewahrt uns davor, die ganze Christenheit, welche noch der alten Religion anhängt, als Heiden und Türken zu betrachten, es verhindert auch sie, uns als ganz verlorene Ketzer anzusehen.

Ueberdies haben Pollux und seine Frau, obgleich sie es nicht eingestehen wollen, vieles von Dr. Luther und der Reformation gelernt. Auch sie haben eine deutsche Bibel, und obgleich diese viel verworrener ist, und nicht eine solche einfache, kräftige Sprache hat, wie Dr. Luthers Uebersetzung, können sie doch darin lesen. Ich hoffe oft, wir werden nach und nach finden, daß wir nicht so verschiedener Ansicht über den Heiland sind, obgleich wir verschieden über Dr. Luther urteilen.

Vielleicht aber denke ich mit Unrecht, solch große Veränderungen hätten ruhiger und sanfter bewerkstelligt werden können. Thekla sagt, im Frühling müßten ebensowohl Stürme als Sonnenschein und milde Regenschauer kommen, und ohne Erdbeben hätte weder der Vorhang vor dem Allerheiligsten entzweigerissen noch der Stein von des Grabes Thüre gewälzt werden können.

Elsens Gottfried sagt, der Teufel würde es nicht ohne Kampf zugegeben haben, daß man seine Lügen über den guten, gnädigen Gott beseitigte: und die heiligen Engel hielten nicht nur bei der Wiege kleiner Kinder Wache, sondern hätten auch mächtige Kriege zu führen. Nur wünschte ich, daß die Reformatoren, und selbst Dr. Luther, dem Beispiele des Erzengels Michaels folgten und nicht Scheltwort mit Scheltwort vergälten.

Eines jedoch bin ich gewiß, was man auch darüber sagen mag: es ist ein ganz besonderer Segen für uns, daß unsere Atlantis einen Schweizer geheiratet und wir dadurch mit unsern Brüdern, den evangelischen Christen, welche der Lehre Zwinglis folgen, verbunden sind. Immer werde ich mich mit Dankbarkeit der Monate erinnern, die ich mit dem Vater unter ihrem Dache verlebte. Wenn Dr. Luther nur wüßte, wie sehr sie ihn um seines großen Werkes willen verehren, und wie völlig sie mit uns eins sind im Glauben an Christum und in christlicher Liebe.

Es war mir lange Zeit unbegreiflich, wie so fromme Menschen sich entzweien konnten, bis Thekla mich erinnerte, daß der Böse herumgeht, Gott bei uns und eines von uns bei den andern verklagt.

Auf der andern Seite tadeln einige Zwinglianer Dr. Luther sehr streng wegen seines »Vergleiches mit Rom« und seiner »schriftwidrigen Lehren,« wie Etliche seine Erklärung der Sakramente nennen.

Ueber diese Dinge kann ich mit meinem Kopfe nicht klar genug urteilen. Es ist mir viel natürlicher, Vereinigungspunkte als Streitfragen aufzusuchen; mir däucht, daß trotz aller Unterschiede fromme Menschen im Grunde oft dasselbe meinen. So betrachtet Dr. Luther die heilige Taufe im Gegensätze zu den Klostergelübden, und verficht die gemeinsame Würde der Taufe und des christlichen Bekenntnisses, die alle Christen mit einander teilen, gegen die ausschließlichen Ansprüche der Priester und Mönche.

Und beim heiligen Abendmahle will er, wie mir däucht, nur die Gewißheit des Segens und die wirkliche Gegenwart unseres Heilandes in dem Sakramente verteidigen, indem er auf den Worten besteht: »Dies ist mein Leib.« Die Taufe stellt ihm die Weihe und Priesterschaft aller Christen dar, welche er gegen die engherzigen Privilegien gewisser Stände zu behaupten hat; und das heilige Abendmahl die fest versicherte Gegenwart Christi, die er gegen alle Zweifler verteidigt.

Für die Schweizer dagegen besteht der Kontrast zwischen Glaube und Form, zwischen Buchstaben und Geist. Das ist wenigstens, was mein Mann darüber denkt.

Ich wollte nur, daß Dr. Luther ein paar Monate bei unserer Atlantis und ihrem Konrad zubrächte; ich werde mich immer dankbar an die Zeit unseres dortigen Aufenthalts erinnern.

Neuerdings war der Ton in Dr. Luthers Predigten oft sehr vorwurfsvoll und warnend. Diese Spaltungen zwischen den evangelischen Christen betrübten ihn tief. Allein er selbst mit seinem unbeugsamen Willen hält sie getrennt, wie wenn er seine Kinder von giftiger Berührung abzuhalten hätte. Und er sagte bittere und strenge Worte über die Zwinglianer, welche mich sehr betrübten, da ich Konrad Winkelrieds Gemeinde und das Familienleben unserer Atlantis kenne.

Nun wohl, eins ist gewiß: wenn Dr. Luther mir ähnlich gewesen wäre, hätten wir gar keine Reformation erlebt. Und doch hat Dr. Luther und die Reformation mein Herz und Leben mit Frieden und Freude erfüllt, für die ich alle Stürme über mich ergehen lassen wollte. Nur unsere Lieben in dem Sturme allein zurücklassen zu müssen, das ist etwas anderes.

Doch unser himmlischer Vater hat uns noch nicht aufgefordert, sie zu verlassen. Wenn Er uns ruft, wird Er uns auch die Kraft dazu schenken. Und dann werden wir alles klar erkennen, denn wir werden unsern Heiland sehen, wie Er ist, Seine Liebe kennen und Ihn vollkommen lieben. Was das sein wird, wissen wir noch nicht.

Aber ich bin fest überzeugt, daß wir alle, wenn wir einmal wirklich unsern lieben Herrn von Angesicht zu Angesicht schauen, uns sehr verwundern und finden werden, daß wir ebenso gut etwas zu verlernen, als auch unendlich viel zu lernen haben; nicht allein Pollux, die Zwinglianer und ich, sondern sogar Dr. Philipp Melanchton und Dr. Luther und alle!

Denn die Reformation und selbst Dr. Luthers deutsche Bibel haben noch nicht alle Wolken verscheucht. Wir sehen immer noch durch einen dunkeln Spiegel.

Jedoch ist, das haben wir gelernt, nichts Schlimmes und Dunkles dahinter, nur bleibt vieles zu offenbaren, das zu gut ist, als daß wirs jetzt schon zu verstehen, und zu glänzend, als daß wirs zu sehen vermöchten.


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