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VIII.
Fortsetzung von Elsens Chronik.

Es ist mir jetzt nur zu klar, warum Fritz nicht zurücksehen mochte, als er die Straße hinabging. Er dachte, es wäre ein Zurücksehen vom Himmelreiche nach den Freuden der Welt.

Das Kloster ist also das Reich Gottes; und wir, Vater, Mutter, Geschwister, Freunde, Heimat, das ist die Welt. Nie werde ich das begreifen lernen. Denn wenn alles das wahr ist, was meine jüngern Brüder erzählen, so können nicht alle Priester und Mönche zum Reiche Gottes gehören, oder dasselbe müßte hier unten in sonderbarer Weise regiert werden.

Fritz unterstützte uns alle. Er wäre die Stütze unserer betagten Eltern geworden. Er war die Bewunderung und das Vorbild meiner kleinem Brüder, unser aller Freude und Stolz; und für mich! O, es erbittert mich, wenn ich darüber schreibe. Ich möchte alle hassen und mit Vorwürfen überhäufen. Alle bis auf Fritz, ihn könnte ich natürlich nicht hassen. Warum mußten denn gerade seine zartesten, edelsten Gefühle ihn zu diesem Schritte antreiben?

Wenn Vater in seinen Unternehmungen glücklicher gewesen wäre, hätte Fritz nicht nötig gehabt, in das klösterliche Stift zu Erfurt einzutreten, das sein Gewissen so übermäßig empfindlich machte; wenn meine Mutter nicht so gar fromm gewesen wäre und uns nicht gelehrt hätte, Tante Agnes mehr zu verehren als sie selber, würde er vielleicht nie an das Kloster gedacht haben; wenn ich frömmer gewesen wäre, würde er mehr Vertrauen zu mir gehabt haben, und ich hätte ihn vielleicht vermocht, wenigstens noch einige Jahre zu warten, ehe er diesen unwiderruflichen Schritt that. Wenn Eva nicht so eigensinnig gewesen und sich nicht der Ansteckung ausgesetzt hätte, wäre sie vielleicht nie von der Pest befallen worden, und Fritz hätte vielleicht nie ein solches Gelübde gethan. Wenn Gott ihn nicht unschuldiger Weise hätte die Pest über uns bringen lassen! –Doch ich darf kein Wort der Klage mehr sagen, sonst möchte es eine Gotteslästerung sein. Gott hat ohne Zweifel dieses Elend über uns bringen wollen, und sich gegen Gott empören, ist eine Todsünde. »Der Herr ist ein eifriger Gott,« wie Tante Agnes sagt, und will nicht, daß wir Götzen anbeten. Wir müssen ihn über alles, zuerst, ausschließend lieben. Wir müssen unser Herz ganz aller irdischen Neigung entleeren, damit Er es füllen könne. Wir müssen das Fleisch töten, um ewig zu leben. Was ist aber das Fleisch? Wahrscheinlich alle natürliche Liebe zu den Unsrigen, welche die Mönche fleischliche Lüste nennen. Auf diese hat Fritz verzichtet. Allein wenn all unsere natürliche Liebe in uns sterben muß, was lebt alsdann noch in uns? In manchen Predigten sagt man uns: »Das geistige Leben und die Liebe zu Gott.« Aber sind nicht gerade meine natürlichen Neigungen mein Herz; und wenn ich Gott in meinem Herzen lieben soll, womit ich Vater und Mutter liebe, womit soll ich ihn denn dann lieben? Gottes Liebe zu uns, scheint mir, muß etwas ganz verschiedenes sein von irgend einer menschlichen Liebe.

Wenn Menschen uns lieben, so mögen sie gerne uns bei sich haben; es ist ihre Wonne, uns glücklich zu machen; ja sie freuen sich über unser Glück, ob sie es uns bereitet haben oder nicht, wenn es ein wahres Glück ist, das zu unserm Besten dient.

Gottes Liebe aber muß ganz anderer Art sein. Er warnt uns beständig, ihm nur ja nicht nahe zu kommen. Wir müssen Priester und Heilige und Bußübungen zwischen ihn und uns stellen, und ihm nur mit der größten Vorsicht nahen; weil wir ihn sonst, wenn es nicht in der rechten Weise geschähe, erzürnen könnten. Und anstatt sich über unser Glück zu freuen, ist ihm nichts wohlgefälliger, als wenn wir auf alles Lebensglück verzichten und auch andere elend machen, wie Fritz, unser lieber Fritz, kürzlich gethan hat.

Die Liebe also, welche Gott von uns fordert, ist ohne Zweifel ganz verschieden von der, welche wir Menschen für einander fühlen. Es muß wohl, denke ich, eine ernste, strenge, ruhige Anbetung sein, zu erhaben, um uns Freude oder Schmerz zu verursachen, eine solche, deren Siegel auf Tante Agnesens ruhigem, teilnahmlosem Gesicht ausgeprägt ist. Nie, nie kann ich auch nur mich bestreben, sie zu erlangen! Und jetzt habe ich in der That auch keine Zeit, daran zu denken.

Dem Himmel sei Dank, du liebst noch immer, gnadenreiche Mutter Gottes! Dein Gesicht benetzten Thränen, wirkliche, bittere, menschliche Thränen; deine Augen haben gestrahlt von wirklicher, einfältiger, menschlicher Freude! Du wirst uns verstehen und Mitleid mit uns haben. Allein hättest du nicht, liebe Mutter Gottes, ihn an die Mutter erinnern können, die er verlassen hat, und die sich nun allein durchkämpfen muß? »Du, die du eine Mutter bist und dich auch über eine Wiege niedergebeugt, und auch in Nazareth eine kleine, niedrige Hütte gehabt hast?«

Doch ich weiß, meine eigene Mutter würde nicht mit einem Worte Fritz zurückgehalten haben. Als wir es zuerst erfuhren, und ich ihr dringend zuredete, ihm zu schreiben und ihn von dem Schritte abzumahnen, sagte sie, während Ströme von Thränen aus ihren Augen flossen: »Nicht ein Wort, Else, nicht eine Silbe! Soll ich ihn nicht freiwillig Gott, der ihn mir geschenkt hatte, wiedergeben? Er hätte ihn ganz von der Erde abrufen können, als er an der Pest daniederlag, soll ich ihn nun dem Kloster nicht gönnen? Ich werde ihn wiedersehen,« fuhr sie fort, »wenigstens noch ein- oder zweimal. Wird es nicht eine hohe Freude sein, wenn er die Priesterweihe empfängt, ihn in seinem weißen Chorrock am Altar zu sehen, und vielleicht den Leib des Herrn aus seinen Händen zu empfangen?«

»Ein- oder zweimal, –Mutter!« schluchzte ich; »und noch dazu in der Kirche unter Hunderten von Fremden! Was soll das für eine Freude sein?«

»Else,« sagte sie sanft, aber mit ungewöhnlicher Festigkeit, »sage kein Wort mehr darüber, mein Kind! Ich selbst hatte einmal eine schwache Neigung für das Kloster, welche, wenn ich sie genährt hätte, wohl zum wirklichen Beruf geworden wäre. Allein ich lernte deinen Vater kennen und dachte nicht mehr an das Kloster. Und nun sieh, was haben meine Kinder nicht schon zu tragen gehabt! Ist es nicht als ob ein Unstern über Vaters Erfindungen waltete? Vielleicht will Gott endlich von meinem Sohne annehmen, was ich ihm verweigert habe, und dann mit uns ausgesöhnt sein und uns bessere Tage senden; ja vielleicht auch Vaters große Erfindung zuletzt noch gelingen lassen. Aber sage ihm nichts von dem, was ich dir soeben anvertraut habe.«

Noch nie habe ich Vater so betrübt gesehen.

»Gerade als er anfing meine Pläne zu verstehen!« sagte er. »Und ich würde sie ihm alle vermacht haben!«

Mehrere Tage lang ließ er seine Modelle unberührt stehen; doch jetzt ist er wieder zu seinen alten Folianten und Instrumenten zurückgekehrt und sagt uns, daß etwas in Fritzens Horoskop uns auf diesen Schritt hätte vorbereiten können, wenn er es ein bischen früher verstanden hätte. Diese Entdeckung übrigens, obgleich zu spät uns vor dem Schlage zu warnen, tröstet unsern Vater, und so hat er seine gewohnte Beschäftigung wieder aufgenommen.

Eva sieht sehr schwach und angegriffen aus, was zum teil die Folge der Pest sein mag. Als das erste Gerücht zu uns kam, suchte ich Teilnahme und Trost bei ihr und sagte: »O Eva, ist es nicht sonderbar, daß Fritz, der sonst immer zuerst an uns dachte, uns Alle verlassen kann, ohne uns vorher ein Wort davon zu sagen?«

»Base Else,« antwortete sie, »Fritz hat es jetzt gemacht wie immer. Er hat zuerst an uns gedacht; ich bin dessen so gewiß, als wenn ich es von ihm gehört hätte. Er dachte, er werde besser für uns sorgen, wenn er uns verlasse, sonst würde er es nie gethan haben.«

Sie hat von uns allen ihn am besten verstanden. Denn in seinem Briefe an unsere Mutter gab er gerade die Gründe an, welche sie bei ihm vorausgesetzt hatte.

Was Eva fühlt, ist schwer zu erraten, wegen des wunderbaren innern Friedens, der beständig auf dem Grunde ihres Herzens ruht und alle andern Gefühle zu tragen scheint.

Ich habe sie keine Thräne vergießen sehen; und während ich es fast nicht ertragen kann, in unsere alte, liebe Rumpelkammer zu gehen, oder etwas zu thun, was ich sonst mit ihm gethan habe, scheint es ihre größte Wonne zu sein, alle seine Lieblingsbücher wieder zu lesen, und alle Lieder, die er sie gelehrt hat, zu wiederholen.

Meine Mutter und Eva hängen sehr aneinander. Sie will meine Mutter fast nichts in der Haushaltung arbeiten lassen, sondern besteht darauf, jedes mühsame Geschäft, dessen wir sie bisher wegen ihrer Schwächlichkeit überhoben hatten, mit mir zu teilen.

Freilich pflege ich sehr frühe aufzustehen, um beiden so viel Mühe zu ersparen, als ich vermag, weil keine von beiden halb so kräftig ist, wie ich, und es mir wohlthut, mich zu rühren. Wenn ich ruhig sitze, kommen mir viel mehr bittere Gedanken.

Aber wenn ich einen Teig knete, oder an Waschtagen das Leinenzeug am Flusse klopfe und wasche, so ist es mir, als ob ich auf alle meine Sorgen und Widerwärtigkeiten losschlüge, und dadurch wird meine Hand kräftiger, meine Sorgen verschwinden wie ein Nebel und ich fange sogar an zu singen, während ich die Wäsche auswinde. Es ist so angenehm, im Sonnenschein an dem zwischen Binsen und Kressen murmelnden Bache zu stehen, und die kleine Thekla an meiner Seite zu beaufsichtigen, die sich einbildet, mir zu helfen.

Wenn aber dann mein Tagewerk vollbracht ist und ich in's Haus zurückkomme, finde ich gewöhnlich Mutter und Eva beieinander. Dann ist Eva wohl oft still und Mutter wischt Thränen hinweg, die auf ihren Strickstrumpf fallen; aber wenn sie mich anschauen, liegt ein heiliger Friede auf ihren Zügen, und ich errate, daß sie von Fritz gesprochen haben.

 

Eisenach, den 2. Februar.

Gestern kam ich dazu, wie Eva der Mutter ein lateinisches Lied, welches Fritz besonders liebte, übersetzte, und hierauf mit ihrer lieben sanften Stimme alle Verse sang. Es handelte von unserm lieben himmlischen Vaterlande und der herrlichen Gottesstadt.

Des Abends sagte ich zu ihr: »O Eva! wie kannst du nur die Lieder singen, welche Fritz so gerne hatte, während ich nicht eine Zeile irgend eines Liedes herausbringen könnte, das er sonst gerne von mir singen hörte? Und es war sonst seine Freude, mir zuzuhören. Bei jedem Ton, welchen ich sänge, würde mir sein, als hörte ich ihn antworten: »Nimmer, nimmermehr!« und mein Gesang würde jedesmal mit Schluchzen endigen.«

»Ich fühle mich aber gar nicht von Fritz getrennt, Base Else,« sagte sie, »und werde es auch nie sein. Anstatt des traurigen Echos, wovon du sprichst, glaube ich bei all seinen Lieblingsliedern seine Stimme zu vernehmen, die mir antwortet: »Auf ewig, ewig!« Und dann denke ich an die Zeit, wenn wir sie wieder miteinander singen werden.«

»Meinst du im Himmel, Eva?« fragte ich. »Dahin ist es noch sehr weit, wenn wir je dahin gelangen.«

»Nicht so gar weit, Base Else,« sagte sie. »Ich denke oft, daß er sehr nahe ist. Wenn er es nicht wäre, wie könnten dann die Engel so viel um uns und doch bei Gott sein?«

»Das Leben scheint mir eben jetzt so lang, seitdem Fritz fort ist.«

»Nicht so sehr lang, Base Else,« versetzte sie. »Ich denke oft, daß es vielleicht sehr kurz sein wird, und ich bitte oft darum.«

»Eva!« rief ich erschrocken aus, »du wirst doch nicht beten, daß Gott dich sterben lasse?«

»Warum nicht?« erwiderte sie ruhig. »Ich denke, wenn Gott uns zu sich nähme, könnten wir unsern Lieben besser helfen, als hier im Hause oder selbst im Kloster. Und dort werden wir uns wiedersehen, wo es keine Trennung mehr gibt. Mein Vater hat es mir gesagt,« fügte sie hinzu, »ehe er starb.«

Nun verstand ich, wie Eva um Fritz trauert, und warum sie nicht weint; aber ich vermochte blos zu sagen:

»O Eva! bitte nicht um den Tod! Es gibt schon so viele Heilige im Himmel, und du bist uns hier noch so nötig!«

 

9. Februar.

Ich kann mich mit Fritzens Verlust noch gar nicht aussöhnen, und werde es auch nie können. Wie jeder andere Kummer sollte er uns zum besten dienen, aber ich bin fest überzeugt, er macht mich gar nicht besser, was natürlich nur meine eigene Schuld ist. Was mich besser machte, war das Glück, Fritz wieder bei mir zu haben, und das ist, ach! für immer vorbei!

Mein größter Trost ist unsere Großmutter. Mutter und Eva schweben in solch erhabenen Sphären; nur Großmutter fühlt ungefähr wie ich. Freilich tadelt sie Fritz oft sehr streng; aber das thut mir wohl; denn dann natürlich verteidige ich ihn und sie wird böse und sagt, wir seien eine unbegreifliche Familie und hätten die seltsamsten Begriffe von Recht und Unrecht, von meinem Vater bis zum kleinsten Kind herunter. Dann werde ich böse und sage ihr, mein Vater sei der beste und weiseste Mann in allen kurfürstlichen Landen. Hierauf fängt sie an, ihre arme, liebe Tochter und deren hartes Los zu beklagen und wünscht sich selbst mit kläglichem Tone Glück, daß sie nun bald von dieser Welt erlöst sein werde. Nun versuche ich sie zu trösten, indem ich zugebe, daß es in dieser Welt nicht viel gäbe, was einem das Dableiben wünschenswert mache; und wenn wir dann zu diesem Grad der Traurigkeit gekommen sind, umarmen wir uns und weinen miteinander, und sie nennt mich ihr armes, liebes Kind und sagt, Fritz sei stets die Wonne ihres Hebens gewesen, was ich sehr wohl weiß; und so trösten wir einander. Auch haben wir beide feierlich beschlossen, was auch daraus folgen möge, Fritzen nie anders als bei seinem rechten Taufnamen, Fritz zu nennen.

»Warum nicht gar Bruder Sebastian!« sagte sie; »ebensowohl könnte deine Mutter einen andern Mann nehmen,, wie dein Bruder einen andern Namen! Ist sie nicht in der Kirche getraut und er dort getauft worden? Ist Friedrich nicht ein schöner, ehrlicher Name, den Hunderte deiner Vorfahren getragen haben? Und statt dessen sollten wir ihn bei einem fremden heidnischen Namen rufen, den noch keines von der Familie getragen hat?«

»Es ist kein heidnischer Name,« wagte ich einzuwenden; »erinnerst du dich nicht, Großmutter, daß du uns den Märtyrertod des heiligen Sebastian unter den heidnischen Kaisern erzählt hast?«

»Willst du mir widersprechen, Kind?« rief sie, »habe ich nicht das ganze Märtyrerbuch auswendig gewußt, noch ehe deine Mutter zur Welt kam? Es ist ein heidnischer Name, sage ich. Es ist keine Schande für den Heiligen, wenn seine Eltern arme, unwissende Heiden waren und ihm keinen bessern Namen zu geben wußten; aber daß unser Fritz denselben statt des seinigen annimmt, das ist eine Schande. Meine Lippen wenigstens sind zu alt, um solchen neumodischen Unsinn aussprechen zu lernen. Ich werde ihn bei dem Namen nennen, bei dem ich ihn vor dem Taufstein und in der Wiege genannt habe, und bei keinem andern.«

»Ja, er ist und bleibt unser Fritz bis zum Tode!«

 

15. Februar.

Wir haben soeben erfahren, daß Fritzens erster Probemonat zu Ende und er als Novize eingekleidet worden ist. Der Gedanke, daß man sein dickes, schwarzes, lockiges Haar rund abgeschoren hat, um ihm die Tonsur zu geben, macht mich ganz ärgerlich. Noch viel trauriger aber ist die Wirkung, welche sein Klosterberuf auf die beiden Knaben, Christoph und Pollux, gehabt hat.

Sie, welche sonst in Fritz das Vorbild alles Guten und Edlen verehrten, haben jetzt einen Widerwillen gegen alle Religion. Ich habe die größte Mühe, sie nur in die Kirche zu bringen.

Neulich sagte Christoph zu mir: »Else, warum nennt man einen Menschen, der seine Familie plötzlich verläßt, um Soldat zu werden, einen Nichtswürdigen, während man den Mann, der, um Mönch zu werden, die Seinigen, deren Stütze er war, verläßt, einen Heiligen nennt?«

Es ist schlimm, daß die Knaben mit ihren religiösen Zweifeln zu mir kommen, da ich selbst so viele habe und nicht weiß, wie ich ihnen antworten soll. Gewöhnlich verweise ich sie dann an Eva.

Dies Mal wußte ich ihnen nichts anderes zu antworten, als was Großmutter uns früher oft gesagt hat:

»Ihr müßt warten, bis ihr älter seid, dann werdet ihr es schon verstehen. Uebrigens,« setzte ich hinzu, »liegt darin ein großer Unterschied: der eine verläßt seine Heimat um Gottes, der andere um der Welt Willen.«

Allein Christoph, der der Schlimmste von beiden ist, fuhr fort:

»Schwester Else, ich kann die Mönche gar nicht leiden. Du und Eva und Mutter, ihr habt keinen Begriff, wie schlecht viele von ihnen sind. Reinhardt sagt, er habe sie schon oft betrunken gesehen und fluchen gehört. Er sagt auch, daß einige von ihnen sogar über die Messe spotten, und daß kein anständiges Mädchen in die Häuser der Priester gehen dürfe.«

»Reinhardt ist ein böser Junge,« sagte ich errötend; »und ich habe dich schon oft erinnert, daß ich nichts von dem wissen will, was er sagt.«

»Ich wenigstens werde nie ein Priester oder Mönch werden,« versetzte Christoph; »ich denke, die Kaufleute sind besser. Frauen verstehen diese Dinge nicht,« sagte er stolz, »und es ist besser so, aber ich verstehe sie, und ich will entweder ein Kaufmann oder ein Soldat werden.«

Christoph und Pollux sind fünfzehn und Fritz ist zweiundzwanzig Jahre alt. Aber er hat nie mit solchem Hochmut davon gesprochen, daß Frauen dies oder jenes nicht verstehen könnten!

Ich war entrüstet, daß Christoph, der seine Kleider immer so sehr zerreißt und alle möglichen Streiche spielt, aus denen wir ihn mit Mühe herausziehen, sich mit Fritz zu vergleichen wagte, und auf seine Schwestern herabsah; darum sagte ich zu ihm: »Nur Knaben sprechen verächtlich von den Frauen. Männer, rechte Männer ehren die Frauen!«

»Die Mönche nicht,« versetzte Christoph. »Ich selbst habe sie schlimmere Dinge über die Frauen sagen hören, als ich je gesagt habe. Behauptete nicht Pater Bonifazius letzten Sonntag, daß die Hälfte alles Unheils in der Welt fast nur von den Frauen angestiftet worden sei, von der Eva an bis zu der Helena und Kleopatra!«

»Erwähne nicht unsere Mutter Eva zugleich mit diesen Heidinnen, Christoph,« sagte unsere Großmutter, mir zu Hilfe aus ihrem Winkelchen hinter dem Ofen hervorkommend. »Eva ist in der heiligen Schrift, und viele dieser Heidinnen verdienen nicht, daß man von ihnen redet. Du weißt sehr wohl, daß die Hälfte der Heiligen Frauen sind. Bauern und Krämer,« fügte sie mit Hoheit hinzu, »mögen geringschätzend von den Frauen sprechen; aber kein ächter Ritter wird dieses thun.«

»Aber die Mönche thun es doch,« murrte Christoph störrig. »Mit den Mönchen habe ich nichts zu thun,« antwortete die Großmutter herbe. Und diese unvorsichtige Aeußerung der Großmutter für ein Zugeständnis annehmend, gab Christoph den Streit auf.

 

25. März.

Soeben habe ich zwei Briefe gelesen, welche Martin Luther an den Pater Johann Braun, einen hiesigen Priester, geschrieben hat. Die Aufschrift lautete: An den heiligen und ehrwürdigen Priester Jesu Christi und der Jungfrau Maria! So viel konnte ich verstehen, und auch, daß er sich selbst Bruder Martin Luther, nicht Bruder Augustin nennt, welchen Namen er wählte, als er in's Kloster trat. Darum darf ich ganz gewiß unsern Fritz Bruder Friedrich Cotta heißen.

 

29. März 1510.

Ein junger Mann war diesen Abend bei Tante Ursula Cotta, der uns seltsame Dinge erzählt hat von dem, was in Annaberg vorgeht.

Dr. Tetzel ist seit zwei Jahren dort, um Ablaßzettel an die Leute zu verkaufen; und neuerdings, wie er sagt, aus Rücksicht auf die große Frömmigkeit des deutschen Volkes hat er den Preis herabgesetzt.

Es wurde viel darüber gesprochen in Gegenwart der Knaben, was mir leid that. Mein Vater sagte, daß der Ablaß nicht Vergebung der Sünden bedeute, sondern nur Erlassung gewisser Bußübungen, welche die Kirche auflegt. Aber der junge Mann von Annaberg sagte uns, Dr. Tetzel versichere die Leute feierlich, daß, da es ihnen wegen ihrer Sünden unmöglich wäre, Gott durch ihre Werke zu versöhnen, der heilige Vater, der Papst, der den durch alle Jahrhunderte von der Kirche angesammelten Schatz von Verdiensten zu verwalten habe, gnädig diese Verdienste allen verkaufe, die sie zahlen wollen und ihnen dadurch Vergebung der Sünden (selbst solcher Sünden, von denen kein Priester absolvieren kann) erteile und die Versicherung der ewigen Seligkeit gewähre.«

Ferner erzählt der junge Mann, daß das große, rote Kreuz mit der Dornenkrone, den Nägeln und dem darauf aufgehängten Speer im Schiff der Hauptkirche aufgehängt worden sei, und daß man zuweilen sehen dürfe, wie das Blut des Gekreuzigten an dem Kreuze herunterfließe. Unter dem Kreuze ist das päpstliche Banner mit der dreifachen Krone. Davor steht die große, starke, eiserne Geldkiste. Auf der einen Seite steht die Kanzel; darauf predigt Dr. Tetzel alle Tage und ermahnt das Volk, so lange es noch Zeit ist, dieses unschätzbare Gut für sich und ihre Verwandten im Fegfeuer zu kaufen und übersetzt ihnen das lange Mandat auf Pergament, an welchem die päpstlichen Siegel hängen. Auf der andern Seite sitzen mehrere Priester an einem Tische, mit Federn, Tinte und Schreibpulten versehen, und verkaufen die Ablaßzettel und zählen das Geld in den Kasten. Nicht nur ist neulich, wie er erzählt, der Preis herabgesetzt, sondern auch dem Brief an die Kirchen die Worte beigefügt worden: » Pauperibus dentur gratis.« (Den Armen unentgeltlich!) Das wäre etwas für uns! Wenn ich nur Zeit hätte, nach Annaberg zu pilgern; wenn dies eine Frömmigkeit ist, die Gott gefällt, dann könnte ja ich sogar in den Himmel kommen.

Wenn nur Fritz dies früher gewußt hätte, so hätte er nicht nötig gehabt, das unglückliche Gelübde abzulegen.

Allein wenn der Papst über solch unermeßliche Schätze verfügen kann, warum hat er sie nicht jederzeit und überall den Armen umsonst gespendet?

Doch ich weiß wohl, es ist Sünde, das, was der Papst thut, zu bekritteln. Fast eben so wohl dürfte ich bekritteln, was unser Herrgott thut. Denn er selbst, der dem Papste diese Schätze gegeben hat, ist er nicht allgegenwärtig, und könnte er sie uns nicht selbst umsonst austeilen? Doch diese Fragen sind natürlich für mich zu hoch.

Ich bin jedoch nicht die Einzige, die dieser Ablaß verwirrt. Meine Mutter sagt, so sei sie nicht gelehrt worden, und sie wolle lieber auf ihrem gewohnten Wege bleiben.

Eva sagt: »Wenn ich der Papst wäre und einen solchen Schatz hätte, würde ich, däucht mich, keinen Augenblick länger in meinem Palaste, in dem herrlichen Rom verweilen, sondern über Berge und Meere reisen, in jede Stadt und jedes Dorf; jede Hütte im Walde, jedes Stübchen in der engsten Gasse besuchen, damit keiner den Segen entbehren möchte und wenn ich barfuß wandern müßte und mein schönes Rom nie wiedersehen dürfte.«

»Aber dann,« versetzte unser Vater, »würde die große St. Peterskirche nie gebaut werden. Dazu wird, wie ihr wißt, das Geld für die Ablaßzettel verwendet.«

»Aber das goldene Jerusalem würde gebaut, Onkel Cotta,« sagte Eva, »und wäre dieses nicht viel besser?«

»Laß uns lieber nicht mehr davon sprechen, Eva,« sagte die Mutter. »Das himmlische Jerusalem wird gebaut, und ich vermute, es gibt verschiedene Wege, die dahin führen. Nur ist mir der Weg, den ich kenne, der liebste.«

Während dieses Gesprächs über den Ablaß hatten die Knaben leider allerlei spöttische Gesichter geschnitten, und ich hielt es ihnen nachher vor.

Aber Christoph sagte: »Schwester Else, was du sagst, ist ganz umsonst. Ich hasse nun einmal die Mönche und alles, was dazu gehört. Und ich glaube kein Wort von dem, was sie sagen, –wenigstens nicht, weil sie es sagen. Die Schulknaben sagen, dieser Tetzel sei ein sehr schlechter Mann und ein frecher Lügner. Vorige Woche erzählte uns Reinhardt etwas, das er gethan hat, und aus dem du erkennen kannst, was er ist. Einst versprach er, dem Volke eine Feder zu zeigen, welche der Teufel dem Erzengel Michael aus dem Flügel gerupft haben sollte. Reinhardt sagt, er vermute, der Teufel habe sie selbst dem Dr. Tetzel gegeben. Wie dem auch sein mag, während der Nacht schlichen einige Studenten zum Spaß an seinen Reliquienkasten, stahlen die Feder und legten einige Kohlen an ihre Stelle. Den folgenden Tag, nachdem Dr. Tetzel lange höchst andächtig über die Wunderkraft der Feder gepredigt hat, will er sie herausholen und findet nichts als ein wenig Kohle. Allein er geriet nicht in die mindeste Verlegenheit, sondern sagte ganz ruhig: »Ich habe das falsche Reliquienkästchen genommen, wie ich sehe; dies ist eine unbeschreiblich heilige Asche, die Reliquie des heiligen Leibes von St. Laurenzius, der auf einem Roste gebraten wurde.«

»Schulknabengeschichten!« erwiderte ich.

»Sie sind jedenfalls so gut wie Mönchsgeschichten,« versetzte Christoph.

Ich beschloß, zu untersuchen, ob Pollux eben so sehr wie Christoph von diesem unehrerbietigen Geiste ergriffen sei und sagte daher, als ich diesen Morgen allein mit ihm war: »Pollux, du liebtest unsern Fritz so herzlich, du wirst hoffentlich keinen Gedanken Raum geben, die ihn so tief betrüben würden, wenn er etwas davon erführe.«

»Ich habe Fritz wirklich lieb,« erwiderte Pollux: »aber ich werde nie glauben, daß es Recht von ihm war, uns alle zu verlassen, und das Credo und die Zehn Gebote sind eine bessere Religion als die der Mönche.«

Täglich, stündlich fühle ich Fritzens Verlust. –Es ist nicht sowohl das Geld, welches er verdiente, obgleich es freilich eine Hilfe war –aber wir können es schon entbehren und uns durchkämpfen –als sein Einfluß auf die Knaben. Sie wußten, daß er auf derselben Laufbahn ihnen voraus war, und wenn er ihnen Vorstellungen machte, hörten sie auf ihn. Aber wenn ich sie tadle, denken sie, es sei nur weibliche Unwissenheit oder weiblicher Aberglauben, und Knaben können den Frauen nicht gleich sein. Und jetzt ist es gerade so mit Fritz. Er ist in eine andere, fremde Sphäre versetzt, und wenn ich sie erinnere, wie Fritz gehandelt oder geredet, sagen sie: »Ja, so hat Fritz gedacht;' aber du weißt, er ist ein Mönch geworden, und wir hingegen haben nicht die Absicht, in's Kloster zu gehen, und die Religion der Mönche und die der Laien ist ganz verschieden.«

 

2. April.

Der Frühling ist wieder da. Ob er wohl auch seinen Jubel in Fritzens Zelle zu Erfurt sendet, wie in alle Wälder um uns her und in mein Herz?

Ich vermute, daß Bäume in seiner Nähe sind, und Vögel, glückliche Vögelein, welche dort wie in unserm Hofe ihre Nester bauen und bei ihrer Arbeit singen.

Aber die Vögel sind keine Mönche. Sie führen ein Familienleben und fliegen frei herum, wohin sie wollen, und nur ihre Liebe bringt sie zurück. Vielleicht hört Fritz den Vögeln nicht mehr gern zu, weil sie ihn an die Heimat und an unsere langen Frühlingstage in den Wäldern erinnern. Vielleicht gehören sie auch zu der Welt, auf die er verzichtet hat, und er muß ja der Welt absterben.

 

3. April.

Wir haben einen ganzen Tag im Walde zugebracht und Reisig gesammelt, alles schien dort so glücklich! Welche Freude, die Ameisen zu beobachten, wie sie mit Tannenzweigen das Dach ihrer Wohnung bauten, und die Vögelein, wie sie so emsig hin- und herflogen und ihren Jungen Futter zutrugen; und den Waldtauben zu lauschen, welche Fritz immer mit Eva verglich, und die so süß im Waldesdickicht girrten.

Des Mittags setzten wir uns an eine lichte Stelle des Waldes und ließen uns das mitgebrachte Mahl schmecken. Ein kleiner murmelnder Bach in der Nähe stillte unsern Durst, und die zarten jungen Zweige der dunkeln, majestätischen Fichten zitterten leise im Walde wie vor Freude.

Während wir ruhten, erzählten wir einander Geschichten. Pollux erzählte von der wilden, dämonischen Jagd, welche um Mitternacht mit schrecklichem Gebell geisterhafter Hunde durch eben diese Wälder ziehen soll. Als nun die Kinder anfingen sich furchtsam umzuschauen und am hellen Mittage fröstelten, unterhielt sie Christoph mit drolligen Geschichten von Wölfen in Schafskleidern, die sich den Bauern als Schäfer anboten, welche wahrscheinlich aus Reinecke Fuchs oder einem ähnlichen gefährlichen Buche entlehnt, ohne Anwendung aber sehr unterhaltend waren.

Die Geschichten von Chrimhilde und Atlantis handelten von Kobolden, welche sonderbare Streiche in den Kuhställen spielten, von Rübezahl und seinen ungestalteten zwerghaften Gnomen, welche ungeheure Schätze von Gold und Silber in den schimmernden Höhlen unter der Erde bewachen; und von kleinen niedlichen Elfen, die an den Bächen im Mondlichte tanzen.

»Und ich,« sagte die liebliche kleine Thekla, »möchte gern einmal den armen kleinen Nix, den Wassergeist sehen, der an den Strömen im Mondschein weint und seine Thränen in's Wasser fallen läßt, weil er keine Seele hat und doch ewig leben möchte. Ich möchte ihm die Hälfte von der meinigen geben.«

Wir würden uns gescheut haben, von diesen Wesen hier unter den Fichten, wo sie gewöhnlich hausen, zu reden, wenn die Sonne nicht hoch am Himmel gestanden hätte. Aber auch so war mir nicht ganz wohl zu Mute und ich suchte dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. Viele halten in der That diese Elfen und Gnomen für die Geister der alten heidnischen Götter, welche noch ihre früheren Wohnsitze besuchen. Ein Grund, warum die Leute das glauben, ist der, daß diese seltsamen Wesen sich nicht an Orte wagen, wo man das Geläute der Kirchenglocken hören kann; eben darum werden sie von andern noch für etwas Schlimmeres gehalten als diese armen, entthronten heidnischen Götter, eine Sache, die man lieber gar nicht erwähnt. Ich hielt es daher für das beste, die Legende von meinem geliebten Riesen Offerus zu erzählen, welcher zum heiligen Christophorus wurde, weil er das göttliche Kind über das Wasser trug.

Thekla wollte wissen, ob ihr lieber Nix wohl auf dieselbe Weise gerettet werden könnte. Sie wünschte sosehr ihn zu sehen und ihm dies alles mitzuteilen.

Eva hatte noch nichts erzählt und begann nun ihre Legende von der heiligen Katharina.

»Die heilige Katharina,« begann sie, »war von fürstlicher Abkunft, die einzige Tochter des Königs und der Königin von Aegypten. Ihre Eltern waren Heiden, allein sie starben und ließen ihre Tochter als Waise zurück, da sie erst vierzehn Jahre alt war. Sie war schöner als alle Damen des Hofes, reicher als alle Prinzessinnen von der Welt; aber es lag ihr nichts an Kleidern, Pracht und Herrlichkeit. Die goldenen Sterne am Himmel schienen ihr viel prachtvoller als aller Glanz ihres Königreichs, und sie schloß sich daher in ihrem Palast ein und studierte die Naturwissenschaften, besonders die Sternkunde, bis sie gelehrter war als alle Gelehrten des Morgenlandes.

Da versammelten sich eines Tags die Stände in Aegypten und beschlossen, daß ihre junge Königin zum Heiraten überredet werden sollte. Sie sandten also eine Deputation zu ihr in den Palast und ließen fragen, ob sie sich nicht entschließen würde, den schönsten, gelehrtesten, edelsten und reichsten Fürsten zu heiraten, wenn er sich fände? Die Königin erwiderte: »Wenn er so edel wäre, daß jedermann ihn anbete; so groß, daß es mir nie einfiele, daß ich ihn zum König gemacht; so reich, daß keiner ihm je nachsagen dürfte, ich habe ihn bereichert; so schön, daß die Engel Gottes ihre Lust hätten, ihn anzuschauen; wenn ihr einen solchen Prinzen findet, soll er mein Gemahl und der Gebieter meines Herzens werden.« Neben dem Palaste der Königin lebte aber in einer Höhle ein armer, alter Einsiedler. Diesem erschien in derselben Nacht die heilige Mutter Gottes und sagte ihm, kein anderer als ihr Sohn soll der Geliebte der Königin werden. Da ging der Eremit in den Palast und schenkte der Königin das Bild der heiligen Jungfrau mit dem Christuskinde; und als die heilige Katharina es erblickte, ward sie so entzückt von dieser heiligen Schönheit, daß sie ihre Bücher, ihre Weltkugeln und die Sterne darüber vergaß, Plato und Aristoteles wurden ihr so langweilig wie ein oft gehörtes Märchen und sie behielt das heilige Bild immer vor den Augen.

Da hatte sie eines Nachts folgenden Traum: Auf der Spitze eines hohen Berges begegnete sie einer Schar herrlicher Engel in weißen Kleidern, mit Kränzen von weißen Lilien. Sie fiel vor ihnen auf ihr Angesicht; aber sie sprachen: »Steh auf, liebe Schwester Katharina, und sei uns herzlich willkommen!« Dann wurde sie zu einer Gesellschaft noch glorreicherer Engel geführt, in Purpur gekleidet und mit Kränzen von roten Rosen geschmückt. Vor diesen fiel sie abermals auf ihr Angesicht, verblendet von ihrer Herrlichkeit; aber sie sagten ihr: »Steh auf, Schwester Katharina, es ist des Königs Freude, dich zu ehren.« Dann führten die Engel sie an der Hand in ein inneres Gemach des himmlischen Palastes, wo eine Königin auf dem Throne saß, und sprachen: »Gnädigste Gebieterin, Kaiserin des Himmels und Mutter des Königs der Seligkeit! gestatte, daß wir Dir hier unsere Schwester vorstellen, deren Name in dem Buche des Lebens geschrieben ist, und Dich anflehen, sie als Deine Tochter und Dienerin anzunehmen!« Da stand unsere liebe Frau auf, lächelte gnädig und führte die heilige Katharina zu ihrem hochgelobten Sohne. Allein er wendete sich von ihr ab und sagte traurig: »Sie ist nicht schön genug für mich.« Die heilige Katharina erwachte, und immer tönten in ihren Ohren die Worte: »Sie ist nicht schön genug für mich;« und sie hatte nicht eher Ruhe, bis sie eine Christin und getauft worden war. Einige Jahre später ließ der Tyrann Maximin sie grausam foltern und köpfen, weil sie eine Christin war. Aber die Engel nahmen ihren Leichnam und legten ihn in ein Grab von weißem Marmor auf dem Berge Sinai, und der Herr Jesus nahm ihre Seele auf in den Himmel, als seine reine fleckenlose Braut; denn er hatte sie endlich schön genug gemacht für ihn; und so hat sie seitdem im Himmel gelebt und ist eine Schwester der Engel.«

Als Eva ihre Legende erzählt hatte, begannen wir unsere Arbeit von neuem, und am Abend, da wir mit unsern Reisbüscheln zurückkehrten, freuten wir uns der Roßkäfer, welche vor den langen Schatten herliefen, die der Abend über die grünen Thäler zu werfen anfing.

Die Lieder, welche Eva sang, waren ganz im Einklang mit allem Uebrigen. Ich brauchte die Worte nicht zu verstehen. Es war mir, als ob die ganze Natur sänge.

»Gott ist gut gegen uns alle. Er gibt den Ameisen Reiser und den Vögeln Körnlein; Er gibt ihnen die Bäume zu Palästen und lehrt sie singen; sollte Er nicht auch für dich sorgen?«

Auch die Knaben waren heute sehr artig; sie haben mir keinen verdrießlichen Augenblick verursacht, nicht einmal Christoph, sondern in der Hälfte der Zeit noch einmal so große Büschel gebunden als wir, und dann noch an den unsrigen geholfen; und überdies alle möglichen Kunststücke gemacht, sind auf Bäume geklettert, über Bäche gesprungen und haben für Thekla unzählige Schätze heimgebracht.

An solchen Tagen bin ich immer ein bischen besser, sogar ein wenig fromm, fast als ob ich Gott lieben könnte. Erst wenn ich wieder in die Straßen zurückkehre, in den Schatten der neun Klöster und die Mönche und Priester in ihren langen, schwarzen Kleidern mit niedergeschlagenen Augen still an mir vorbeigehen sehe, fällt mir ein, daß wir nicht wie die Vögel oder Ameisen sind: denn diese haben nie gesündigt, und daß Gott darum nicht so für uns sorgen, noch uns so lieben kann, wie die geringsten seiner andern Geschöpfe, bis wir heilig geworden sind und uns durch die große Mauer von Sünden durchgearbeitet haben, welche uns von ihm trennt und unser ganzes Leben verdüstert.

Eva fühlt dies nicht. Als wir zurückkehrten, setzte sie ihren Korb auf die Schwelle der St. Georgskirche, bekreuzte sich mit Weihwasser, schritt leise vor bis zu dem Hochaltar und kniete dort nieder, während die Lampe vor der Monstranz brannte. Als ich sie ansah, nachdem sie sich erhoben hatte, war ihr Gesicht freudestrahlend.

»Du bist in der Kirche wie im Walde glücklich, Eva,« sagte ich zu ihr, als wir nach Hause gingen. »Du scheinst überall zu Hause zu sein.«

»Ist Gott denn nicht überall?« fragte sie; »und hat er nicht die Welt geliebt?«

»Aber unsere Sünden?« sagte ich.

»Haben wir nicht einen Heiland?« sagte sie, sich verneigend.

»Aber bedenke doch, wie schwer manchem wird, ihm zu gefallen,« sagte ich; »denke an die Pilgerfahrten, die Bußübungen, den Ablaß!«

»Ich verstehe dies alles nicht recht,« antwortete sie, »ich verstehe nur meinen Spruch und das Kreuz, welches uns sagt, daß der Sohn Gottes für die Menschen gestorben ist. Das muß er aus Liebe gethan haben, und darum liebe ich ihn, und das Uebrige macht mir keine Sorgen.«

Allein diese Nacht, während ich ihr liebes, kindliches Gesicht im süßen Schlummer auf dem Kissen ruhen sehe und bemerke, wie mager die Wangen sind, welche ihre langen, dunkeln Wimpern beschatten, und wie durchsichtig die kleine Hand scheint, auf der sie ruht, überläuft mich ein kalter Schauder, Gott könnte wohl schon jetzt ihre Seele »schön genug« machen für den Himmel, und zu schön für die Erde und für uns!

 

4. April.

Diesen Nachmittag war ich ganz erfreut, als ich sah, wie eifrig Christoph und Pollux miteinander in ein Buch schauten, das sie vor sich auf das Fensterbrett gestellt hatten. Es erinnerte mich an Fritz, und ich ging hin, um zu sehen, was sie lasen.

Zu meinem Leidwesen fand ich jedoch, daß es weder ein frommes, noch ein gelehrtes lateinisches, sondern ein deutsches Buch war, mit einer Menge von Holzschnitten, die mir sehr ärgerlich waren. Es hieß Reinecke Fuchs, und so viel ich davon verstehen konnte, machte es aus allem einen Scherz. Da waren Füchse in Mönchskutten, und sogar mit Kardinalshüten, und Wölfe in Leibröcken mit geschorenen Schädeln. Es schien mir ein so leichtfertiges und gefährliches Buch, daß ich es unserem Vater zu bringen für gut fand, allein zu meinem Erstaunen schien es meinem Vater eben so gut zu gefallen wie den Knaben, und er sagte, es gebe Uebel in der Welt, welche eher durch Spott als durch Predigten gehoben würden.

 

April. St. Markustag.

Soeben habe ich einen berühmten Prediger, einen Dominikaner, welcher überall herumreist, um die Leute zu bekehren, gehört; er sprach von der Pflicht, diese Welt zu verachten.

Vorzüglich zog er gegen das Geld los und nannte es ein Blendwerk, einen Unrat, wertlosen Staub und seelenvergiftenden Krebs.

Für Mönche mag dies wahr genug sein; denn was sollten sie damit thun? Aber für mich ist es dies nicht. Gestern verschaffte mir Geld eine der reinsten Freuden, die mein Herz je empfunden hat, und trieb mich an, Gott herzlicher zu danken als je zuvor.

Die Zeit war gekommen, wo wir Druckmateralien zahlen sollten und wir wußten nicht, wo wir die nötige Summe hernehmen sollten. Nun hatte ich neuerdings meine Mußestunden dazu benutzt, einen schönen venetianischen Seidenstoff zu sticken, welchen Tante Ursula mir gegeben; und in Ermangelung einer passenden Zeichnung hatte ich frische Blätter und Blumen aus dem Walde geholt und versucht, sie nachzubilden, in der Hoffnung, meine Arbeit zu verkaufen.

Als die Stickerei fertig war und Alle sie hübsch fanden, trug ich sie zu dem Kaufmann, der Vaters unvollendete kostbare Uhr gekauft hat, und der seither immer gut gegen uns gewesen ist und uns billigeres Papier und Tinte verschafft hat, als man sie sonst bekommt.

Als ich ihm meine Arbeit zeigte, schien er überrascht; aber anstatt sie, wie ich es erwartet hatte, seiner Frau zu zeigen, sagte er lächelnd:

»Solche Dinge passen nicht für arme ehrliche Bürgersleute wie wir. Du weißt, meine Frau könnte in Strafe verfallen, wenn sie sich dem Adel gleichstellen wollte, indem sie ein so prächtiges Kleid trüge. Aber ich will dir einen andern Vorschlag machen. Ich bin im Begriffe, auf die Wartburg zu gehen, um mit dem Kurfürsten über einen Auftrag zu sprechen, den ich für ihn ausgeführt habe. Willst du, so nehme ich dich und deine Stickerei mit dahin.«

Ich war zuerst bestürzt; allein ich trug gerade den neuen Anzug, den Fritz mir voriges Jahr geschenkt, und so beschloß ich, es zu wagen.

Es waren so viele Jahre verflossen, seit ich durch das mächtige Thor in den Hof eingetreten war; ich dachte an die heilige Elisabeth, welche vielleicht gerade an diesem Thore Brot unter die Armen verteilt hat, und bat sie, mir den Kurfürsten und die Damen des Hofes günstig zu machen.

Man ließ mich, wie mir's vorkam, lange Zeit in einem Vorzimmer stehen. Einige schön gekleidete Herren und Damen gingen an mir vorbei und sahen mich mit ziemlich verächtlichen Blicken an. Mich däuchten die Hofleute nicht viel besser als zu Zeiten der heiligen Elisabeth, gegen die sie sich so unfreundlich bezeigten.

Endlich wurde ich zu dem Kurfürsten gerufen. Ich zitterte nicht wenig; denn ich dachte: wenn die Diener so hochmütig sind, wie muß nicht erst der Herr sein? Allein er blickte mich ganz freundlich an und sagte lächelnd: »Mein gutes Kind, deine Arbeit gefällt mir, und dieser Kaufmann sagt mir, du seist eine wackere Tochter. Ich will diesen Stoff für eine meiner Schwestern kaufen und dich sogleich bezahlen.«

Ich war so überrascht und erfreut über seine Güte, daß ich mich der Worte nicht mehr genau erinnern kann, welche er nachher sagte; allein die Hauptsache davon war, daß der Kurfürst in seiner neuen Universität zu Wittenberg eine Kirche bauen lasse, welche kostbarere Reliquien haben soll als irgend eine andere in ganz Deutschland, und ich soll die Altardecken und die Decken über die Reliquienkästchen sticken. Und die Summe, welche mir ausbezahlt wurde, deckte gerade unsere Schuld.

Nein, was auch jener Dominikanermönch sagen mag, nichts wird mich je überzeugen, daß jene kostbaren Gulden, die ich gestern Abend mit einem von Freude und Dank überströmenden Herzen nach Hause trug, die meinen Vater bewogen, zu einem Dankgebet die Hände zu falten, die meiner Mutter Augen mit Freudenthränen füllten, Blendwerk, Unrat oder Staub seien!

Ist nicht das Geld gerade das, wozu wir's eben machen? Staub –in der Kiste des Geizigen, ein Krebs –in dem Herzen des Hochmütigen; aber goldener Sonnenschein, Segensströme, wo es, durch eines Kindes Arbeit gewonnen, der Eltern Herz tröstet, oder wenn die Hände des Reichen es liebend dem Dürftigen spenden.

 

20. April.

Bessere Tage scheinen endlich für uns anzuheben. Dr. Martin, welcher an der neuen Universität, zu Wittenberg predigt, muß bei dem Kurfürsten für uns gesprochen haben, denn unser Vater ist gewählt worden, die Buchdruckerei, besonders lateinischer Schriften zu leiten, die dort gegründet werden soll.

Und was unser Glück noch verdoppelt, ist, daß wir es unserm Fritz zu verdanken haben. Fritz, unser lieber, uneigennütziger Fritz, ist der Wohlthäter der Familie. Er war es, welcher Dr. Luther bat, sich für uns zu verwenden. Er denkt also an uns in seiner einsamen Zelle zu Erfurt. Er betet für uns. Er wird uns nie vergessen. Sein neuer Name wird sein Herz nicht ändern. Vielleicht wenn sein Noviziat vorüber ist, dürfen wir ihn wiedersehen. Aber nicht mehr als unsern Fritz, sondern als Bruder Sebastian, wenn das Kloster seine Heimat, die Kirche seine Mutter, heilige Nonnen seine Schwestern geworden sind! Wird das nicht am Ende noch bitterer sein, als ihn gar nicht zu sehen?

In einem Monat ziehen wir Alle nach Wittenberg, Pollux ausgenommen, der zu Vetter Konrad in die Lehre kommt.

Christoph fängt an, in der Druckerei zu helfen.

Mein Besuch auf der Wartburg hat einen Gedanken in mir erweckt, der manchen Freudenschimmer in mein Herz wirft. Wenn der Kurfürst, vor dem ich so bange war, so viel herablassender und zugänglicher war als seine Höflinge, wäre es da nicht wohl möglich, daß wir über Gott im Irrtum wären, und daß Er gnädiger und schneller bereit ist, uns zu erhören, als seine Priester, ja selbst als die Heiligen, die ihm in seinem himmlischen Palaste dienen?


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