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Oktober 1521.
Christoph ist soeben von einer Reise nach Halle zurückgekehrt. Dort hat man es gewagt, unter dem Schutze des jungen, genußsüchtigen Erzbischofs Albert von Mainz, den Ablaßhandel wieder anzufangen. Viele Studenten und die Nachdenklichem unter den Bürgern sind ganz entrüstet, das große rote Kreuz wieder aufgerichtet und die Sündenvergebung auf den Straßen feilgeboten zu sehen. Gottfried behauptet, man würde dies nicht gewagt haben, wenn der Feind nicht Dr. Luthers Stimme auf immer verstummt glaubte; allein unter seinen Freunden hier gehen Briefe von ihm von Hand zu Hand, und mancher weiß, daß er nicht fern von uns in sicherer Obhut ist.
November.
Gerade hat mir Gottfried Luthers Brief an den Erzbischof von Mainz gebracht, welcher zum wenigsten den Ablaßkrämern beweisen wird, daß sie den schlafenden Löwen geweckt haben.
Er erinnert den Kurfürsten und Erzbischof daran, daß bereits durch die Einsprache eines armen, unbedeutenden Mönches ein Brand gegen Tetzel entzündet worden sei, und mahnt sie daran, daß jene schwache Menschenstimme, der Gott Kraft verliehen, weil sie seine Wahrheit redete, noch am Leben sei, und die stolzen Cedern und hochmütigen Pharaone erniedrigen und einen Kurfürsten von Mainz demütigen könne, und sollten vier Kaiser ihn unterstützen. Feierlich fordert er ihn auf, den habsüchtigen Handel mit lügenhafter Vergebung in Mainz abzuschaffen, wo nicht, so wolle er in kürzester Frist eine Anklage (die er schon geschrieben hat) gegen »die Neue Schule in Halle« veröffentlichen. »Denn Luther,« sagte er, »ist noch nicht tot.«
Wir sind sehr begierig, wie der Erzbischof diese kühnen Vorstellungen aufnehmen wird.
20. November.
Die Vorstellung hat gewirkt. Der Fürst-Erzbischof hat einen demütigen Entschuldigungsbrief an Dr. Luther geschrieben, und der Ablaß ist wieder aus Halle verbannt.
In Wittenberg jedoch sind Dr. Luthers Briefe kein Ersatz für seine Gegenwart. Es herrscht hier große Verwirrung und nicht selten kommt es in den Straßen zu Gefechten zwischen den feindlichen Parteien.
Fast alle Mönche im Augustinerkloster weigerten sich vor einigen Wochen, Privatmessen zu lesen und die Hostie anzubeten. Zuerst machten der sanfte Dr. Melanchthon und die andern Theologen ihnen Vorstellungen; aber endlich wurden sie selbst überzeugt und wandten sich an den Kurfürsten von Sachsen mit der Bitte, diese abgöttischen Gebräuche abzuschaffen. Noch wissen wir nicht, was er in der Sache thun wird. Bis jetzt ist noch keine Veränderung bei dem öffentlichen Gottesdienst getroffen worden.
Was aber ganz Wittenberg in Aufregung versetzt hat, ist, daß dreizehn Augustinermönche dem Klosterleben entsagt haben. Der Pastor Feldkirchen hat die priesterlichen Gelübde für Unrecht erklärt und sich schon vor mehreren Monaten verheiratet. Aber er war ein weltlicher Priester, und schon seit lange waren die Meinungen aller frommen Männer unter uns über die Priesterehe ungeteilt. –
In Bezug auf die Mönche ist dies aber etwas anderes. Die Verheiratung der Priester ist blos ein Wechsel des Standes; aber das Aufgeben der Mönchsgelübde ist die völlige Zerstörung des Ordens und des Klosterlebens überhaupt.
Gottfried und ich geben ihnen vollkommen recht und achten diese Männer, welche darauf verzichten, sich auf anderer Leute Kosten ernähren zu lassen, und sich nicht schämen, mit den Studenten zu lernen. Aber besonders ehrwürdig sind mir die ältern und weniger gebildeten Brüder, die, auf das Ansehen, den Müßiggang und das Wohlleben des Klosters verzichtend, irgend ein bescheidenes Handwerk erlernen. Einer von diesen ist als Lehrling bei einem Zimmermann eingetreten; und als wir unlängst an seiner Hobelbank vorbeikamen, und beobachteten, mit welcher Beharrlichkeit er sich bemühte, seine ungeübten Hände an den Gebrauch der Werkzeuge zu gewöhnen, nahm Gottfried seinen Hut ab und sagte, ihn ehrfurchtsvoll grüßend:
»So ist's recht. Das Christentum muß wieder mit der Zimmermannsfamilie in Nazareth beginnen.«
In unserer Familie jedoch sind die Ansichten geteilt. Unsere liebe, ängstliche Mutter ist in großer Sorge, wohin das alles noch führen werde. Freilich hat Fritzens neue Gefangenschaft ihren Glauben an die Mönche sehr erschüttert; aber die ungewisse Richtung unserer Zeit betrübt sie sehr. Alles scheint ihr zur Zerstörung hinzuführen, und die einzige Lösung aller Schwierigkeiten unserer Tage, die sie ersinnen kann, ist, daß wir wohl in den letzten Zeiten leben, und wenn alles umgeworfen ist, der Herr Jesus selbst kommen und sein Königreich in der rechten Weise aufbauen werde.
Fritzens, ihrer geliebten Eva und Dr. Luthers Rat entbehrend (in welch' letztern sie neuerdings mehr Vertrauen gesetzt hatte, obgleich sie noch immer seine heftige Sprache tadelt), weiß sie gar nicht, was sie von allem, was jetzt geschieht, denken soll. Besonders fürchtet sie den Ungestüm des Archidiakonus Carlstadt; und der milde Melanchthon hat in seinem Charakter zu viel Ähnlichkeit mit dem ihrigen, als daß sie sich auf sein Urteil stützen könnte. –
Nichtsdestoweniger fand ich sie diesen Morgen, als ich sie besuchte, eifrig beschäftigt, eine nahrhafte Suppe zu kochen, und als ich sie darum befragte, gestand sie, daß dieselbe für den aus dem Kloster getretenen Mönch bestimmt sei, der Zimmermann geworden.
»Die armen Leute,« sagte sie wie zur Entschuldigung, »waren im Kloster an gute Kost gewöhnt, und ich möchte nicht gern, daß sie den Unterschied zu plötzlich fühlen müßten.
Unsere Großmutter ist jetzt über achtzig Jahre alt. Ihre Gestalt ist noch ganz aufrecht, obgleich sie selten ihren Lehnstuhl verläßt. Ihre geistigen Kräfte sind nur wenig geschwächt, ausgenommen, daß sie ihre Aufmerksamkeit nicht lange auf denselben Gegenstand zu fesseln vermag. Ich denke zuweilen, das Alter gleiche bei ihr mehr den milden Tagen des anbrechenden Frühlings, als dem harten, frostigen Winter, und Thekla sagt, es scheine, dieses Leben verschmelze für sie sanft in ein besseres, oder es sei, als ob Gott sie wie Moses, mit ungetrübtem Gesicht und in ungeschwächter Kraft erhalte, bis sie einen Blick in das gelobte Land gethan und die Erlösung, auf die sie so lange gewartet, in der Nähe geschaut habe.
Sie ist jetzt eben so sehr der Liebling unserer Kinder, wie sie der unsrige war; nur ihre alte Weise, zu tadeln, scheint sie ganz vergessen zu haben, entweder weil sie glaubt, für die dritte Generation weniger Verantwortlichkeit zu haben, oder weil sie alle ihre kleinen Fehler in einem mildem Lichte sieht. Auch bemerke ich, daß die Geschichten, welche sie ihnen erzählt, einer ganz andern Gedankenreihe angehören, als diejenigen, womit sie uns zu fesseln pflegte. Sie scheint den Legendenschatz ihres reifem Alters übergangen zu haben, und zu den Erfahrungen ihrer bewegten, wechselvollen Kindheit und Jugend zurückgekehrt zu sein. –Meines Großvaters geheimnisvolle Geschichte, die wir vergebens zu erforschen gesucht, ist Gretchen und den Knaben längst enthüllt. Das Leben der Einsiedler und Heiligen, dem wir mit Entzücken gelauscht, ist verdrängt durch Geschichten von heimlichen Hussitenversammlungen, um in den Wäldern und Gebirgen die heilige Schrift zu lesen, von schauerlichen Verstecken in Höhlen, wo ganze Familien Monate lang sich verbargen, von herzzerreißenden Gefangennehmungen und wunderbaren Rettungen.
Nicht St. Christophorus oder St. Georg werden die Helden meiner Knaben sein, sondern hussitische Ketzer! Meine gute Mutter wirft zwar manch warnendes Wort dazwischen, daß dies schlimme Zeiten gewesen, und daß man jetzt nicht mehr nötig habe, solch ein abenteuerliches Leben zu führen. Allein der Text macht auf die Kinder weit mehr Eindruck als der Kommentar.
Unserer Großmutter größte Freuden sind noch immer Dr. Luthers Schriften. Ich habe ihr und meinem Vater unlängst, ich weiß nicht zum wievielten Mal, Dr. Luthers Brief aus der Wartburg »an die kleine Christenschar zu Wittenberg« vorgelesen, und die beigefügte Erklärung des 37. Psalms: »Erzürne Dich nicht über die Bösen.« Mein guter Vater hegt die glänzendsten Erwartungen. Er ist überzeugt, daß die ganze Welt bald wird in Ordnung gebracht werden, und daß wenig an der Ausführung seiner Erfindungen gelegen ist, da wir mit raschen Schritten uns dem goldenen Zeitalter nähern.
So treffen er und meine Mutter, obgleich von entgegengesetzten Punkten ausgehend, und auf höchst verschiedenen Wegen, m derselben Schlußfolgerung zusammen.
Tekla hat uns geschrieben, daß Ulrich Dr. Luther auf der Wartburg, wo er sich aufhält, besucht habe. Wie froh bin ich, zu wissen, wo er ist. Es ist mir immer schwer, an Leute zu denken, ohne ihre Umgebung zu kennen. Ihre Gestalt selbst verschwimmt in der unbestimmten, unbekannten, gleichsam in Nebel gehüllten Welt um sie her. Dies vergrößert auch noch meine Angst um unsern Fritz. Jetzt aber kann ich mir Dr. Luther deutlich vorstellen, wie er in dem großen Zimmer sitzt, in welchem ich vor vielen Jahren mit meiner Stickerei den Kurfürsten erwartete, von dem jähen Abhange hinabschauend über die einander einschließenden Hügelreihen hinweg bis da, wo am goldenen Horizonte die dunkeln Fichten und die schwankenden, grünen Zweige in ein liebliches Blau verschmelzen. Und beim Sonnenuntergang ist es mir, ich sehe die Schatten über die grünen Thäler, wo wir zu spielen pflegten, dahinschleichen, und die sinkende Sonne die roten Stämme der Fichten erleuchten.
Oder ich sehe ihn an den Sommernachmittagen unter seinen Büchern sitzen –großen griechischen, hebräischen und lateinischen Folianten –und an der Uebersetzung der heiligen Schrift arbeiten, welche ein Segen für unser ganzes Volk sein wird, während die Tannenwälder in den warmen Sonnenstrahlen aromatischen Duft aushauchen und ein sanfter Zephir ihn durch das geöffnete Fenster herein anweht.
Am frühen Morgen sehe ich ihn an der Schloßmauer stehen und auf die Türme und fernen Zinnen von Eisenach Hinabschauen, indes die Glocke des großen Klosters ihm die Stunde verkündigt und er an das rege Leben auf den Straßen denkt, wo er einst an Tante Ursula Cotta's Thür um Brot gebettelt hat. O, daß die gute Tante Ursula noch lebte, um die reiche Ernte zu sehen, die ihre Liebesthat gebracht hat.
Dann wieder stelle ich ihn mir vor des Nachts, wenn alles Geräusch verstummt ist, außer dem Rauschen des im Thale verborgenen Stromes und dem Flüstern des Windes in den Wäldern, wenn jener harte Kampf beginnt mit den Mächten der Finsternis, und er zu beten versucht, und das Herz nicht zu Gott zu erheben vermag; wenn er dann das Fenster öffnet und hinabschaut auf Wald und Fels und Wiesen, welche düster und leblos daliegen, und dann hinauf zu Gott, und sich ermutigt mit der Wahrheit, die er so gerne anführt:
» Gott lebt noch!« Wenn er daran denkt, daß die Nacht die Sonne nur verbirgt, nicht auslöscht, und so die Nacht durchwacht, bis der Morgen zu grauen beginnt. Ja, Dr. Melanchthon hat uns erzählt, wie er arbeitet und leidet auf der Wartburg, und daß er einmal geschrieben hat: »Vergessen denn meine Freunde ganz, für mich zu beten, und daß der Kampf so furchtbar wird?« Nein, Gottfried gedenkt seiner stets im Gebete für alle, die uns auf Erden die Teuersten sind.
»Aber,« sagte er heute, »wir müssen die Erziehung unseres Führers Gott überlassen.«
Aber geprüfte, heilige Elisabeth! Ein anderes königliches Herz leidet jetzt an deiner Stelle auf der Wartburg; ein anderer Heiliger verdient in jenem Schlosse durch Kreuz und Leiden seine Krone; aber nicht um im päpstlichen Kalender heilig gesprochen zu werden!
21. Dezember.
Das Kapitel des Augustinerordens in Thüringen und Meißen war vorigen Monat hier versammelt, um sich über die Frage, ob das Mönchsgelübde unwiderruflich sei, zu beraten. Man ist zu der Entscheidung gekommen, daß es in Christo weder Laien noch Mönche gebe, und daß jeder seiner Ueberzeugung folgen solle.
Christfest 1521.
Dies ist ein wichtiger Tag für uns gewesen.
Schon vor einiger Zeit verkündigte der Archidiakonus Carlstadt, daß er beabsichtige, am nächsten Erscheinungsfeste den Laien das heilige Abendmahl unter beiderlei Gestalt auszuteilen. Da man ihm das Recht, dies zu thun, streitig machen wollte, und er fürchtete, durch ein Verbot des Kurfürsten daran gehindert zu werden, so beschleunigte er die Ausführung seines Vorhabens.
Heute, nachdem er in seiner Predigt in der Stadtkirche von der Notwendigkeit gesprochen hatte, an der Stelle des abgöttischen Meßopfers das heilige Abendmahl zu feiern, trat er vor den Altar und nachdem er auf deutsch die Einsetzungsworte gesprochen hatte, wendete er sich zu der Gemeinde und sagte mit feierlichem Ernste:
»Wer sich schwer beladen fühlt von der Last seiner Sünden, wer da hungert und dürstet nach der Gnade Gottes, der nahe herzu und empfange den Leib und das Blut des Herrn!«
Eine kurze Stille folgte auf diese Worte, dann zu meinem unbeschreiblichen Erstaunen sah ich mein schüchternes, zurückhaltendes Mütterchen langsam durch das Schiff der Kirche schreiten, meinen Vater an der Hand führend. Andere folgten ihrem Beispiele; Viele mit andächtiger, feierlicher Miene, Einige mit etwas zu großer Hast und Eilfertigkeit. Als die Letzten den Altar verlassen hatten, sprach der Archidiakonus die allgemeine Absolution und endigte mit den feierlichen Worten:
»Gehet hin und sündigt nicht mehr!«
Eine kurze Stille erfolgte; dann erscholl von einzelnen Stimmen da und dort allmählig zum vollen Chore anschwellend das Agnus Dei: »O Lamm Gottes, das die Sünden der Welt getragen, erbarme Dich unser. Gib uns den Frieden.«
Wir brachten wie gewöhnlich das Christfest in meines Vaters Hause zu. So sehr ich mich auch über meiner Mutter Kühnheit verwundert hatte, so mochte ich doch nicht über diesen Gegenstand mit ihr reden; allein als wir am Nachmittage allein beisammen saßen, weil unser Vater mit Gottfried, Christoph und den Kindern ausgegangen war, um dem Schlittschuhlaufen auf der Elbe zuzusehen, sagte sie zu mir:
»Else, ich konnte mich nicht enthalten, zu gehen. Mir war, als hörte ich die Stimme unseres Heilandes selbst, die zu mir sagte: Du bist mühselig und beladen, so komm denn! Ich habe es nie so verstanden, wie jetzt. Ich glaubte das Evangelium vor Augen zu sehen; sah, daß die Erlösung vollbracht und der Tisch gedeckt ist. Ich vergaß zu fragen, ob ich auch bußfertig, gläubig und liebend genug sei. Ich sah durch die Jahrhunderte hindurch seinen Leib für mich auf Golgatha gebrochen, sein Blut vergossen; ich sah den Tisch bereitet, hörte die Einladung und konnte mich nicht enthalten, Vaters Hand zu ergreifen und sogleich hinzuzutreten.«
»Ja, liebe Mutter,« versetzte ich, »du hast der ganzen Gemeinde das gute Beispiel gegeben.«
»Ich?« rief sie aus. »Du willst doch nicht damit sagen, Daß ich zuerst gegangen sei? Was! vor all den frommen Männer und Doktoren und Magistratspersonen? Else! was habe ich gethan? Aber ich dachte gar nicht an mich, oder an irgend sonst jemand. Ich glaubte nur Seine Stimme zu vernehmen, die mich zu sich rief. Wie konnte ich da anders? Und ich kann mich auch eigentlich jetzt nicht darum kümmern, wie es aussah. O Else!« fuhr sie fort, »dieses Fest der Kirche wieder gegeben zu haben, lohnt wohl die Angst, die Welt in solcher Aufregung und Verwirrung zu sehen, und,« fügte sie mit bebender Stimme hinzu, »selbst den Schmerz, unsern Fritz im Gefängnis zu wissen. Unser hochgelobter Herr hat sich für uns geopfert, und wir genießen die Frucht seiner Leiden. Er starb für die Sünder. Er hat das Gastmahl bereitet für die Hungernden und Dürstenden. Daher müssen diejenigen, welche über ihre Sünden am meisten betrübt sind, nicht die Letzten, sondern die Ersten sein, welche herzunahen. Ich sehe es jetzt ganz klar. Das heilige Abendmahl ist für mich das Evangelium.«
10. Februar 1522.
Die ganze Stadt ist in Aufruhr. Männer sind unter uns aufgetreten, die sich besonderer Eingebungen vom Himmel rühmen. Sie sagen, das Studieren sei ganz überflüssig, ja sogar eine abgöttische Nachgiebigkeit gegen das Fleisch und den Buchstaben; die heilige Schrift übersetzen, heiße Zeit und Mühe Verschwenden, da Gott, ohne daß sie ein Wort von der griechischen oder hebräischen Sprache verstehen, ihnen den Sinn derselben im Herzen geoffenbart habe.
Die Leute kommen aus Zwickau. Zwei von ihnen waren Tuchweber, und der eine war ein Priester und heißt Thomas Münzer. Alle geben sich für Propheten aus. Ihr Oberhaupt, der Weber Nikolaus Storch, hat nach dem Vorbilde unseres Herrn zwölf Apostel und zweiundsiebenzig Jünger erwählt. Einer von ihnen rief heute in schauerlichem Tone durch die Straßen:
»Wehe, wehe den gottlosen Beherrschern der Christenheit! In weniger als sieben Jahren wird die Welt zerstört werden. Die Türken werden das Land überfallen. Kein Sünder wird am Leben bleiben. Gott wird die Erde mit Blut reinigen und alle Priester umbringen lassen. Die Heiligen werden herrschen. Der Tag des Herrn ist nahe. Wehe! wehe!«
In der Stadt und Universität sind die Ansichten über sie geteilt. Der Kurfürst selbst sagt, er wollte lieber seine Krone niederlegen und als Bettler durch das Land ziehen, als der Stimme des Herrn widerstreben. Dr. Melanchthon ist schwankend und sagt, man müsse die Geister prüfen, ob sie aus Gott sind. Auf den Archidiakonus haben sie einen tiefen Eindruck gemacht, und von seinem Katheder aus ermahnt er sogar die Studenten, das vergebliche Streben nach fleischlicher Gelehrsamkeit aufzugeben und Gottes Gebot gemäß ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts zu verdienen. Der Lehrer der Knabenschule rief aus dem Fenster des Schulzimmers den Bürgern zu, ihre Kinder zurückzunehmen. Nicht wenige von den Studenten zerstreuen sich, während andere in großer Aufregung zu allem fähig sind. Aus einer der Kirchen hat man die Bilder mit Gewalt weggenommen und verbrannt. Die Mönche des Franziskanerklosters haben gegen einen gedrohten Angriff die bewaffnete Macht zu Hülfe gerufen.
Gottfried und andere sind überzeugt, daß diese Zwickauer Leute betrogene Schwärmer sind. Er sagt: »Der Geist, welcher das Wort Gottes verachtet, kann nicht der Geist Gottes sein.«
Allein zu den entschiedensten Gegnern der neuen Lehre gehört, zu unserer großen Verwunderung, unsere liebevolle Mutter. Ihr milder demütiger Sinn scheint aus einem himmlischen Instinkt vor ihnen zurückzuweichen. Sie sagt: »Der Geist Gottes demütigt; er bläht nicht auf.«
Als man uns neulich hinterbrachte, daß Nikolaus des Nachts den Engel Gabriel gesehen habe, der auf ihn zugeflogen sei und gesagt habe: »Du sollst mit mir auf einem Throne sitzen,« bemerkte die Mutter:
»Das ist eine neue Sprache von dem Engel Gabriel, von seinem Throne zu reden. In allen Zeiten pflegten die Engel nur vom Throne Gottes zu sprechen.«
Und als ein anderer sagte, daß es Zeit sei, die Spreu von dem Weizen zu sichten, und eine Kirche von lauter Heiligen zu gründen:
»Das wäre gar nichts für mich, ich will lieber draußen bleiben in der Kirche von erlösten Sündern. Hat nicht St. Paulus selbst gesagt, wie wir von Dr. Luther gehört haben, Sünder, unter welchen ich der vornehmste bin?«
»Bist du denn nicht bange,« wurde sie einmal gefragt, »Gott zu beleidigen, indem du seine Boten verleugnest, wenn diese Propheten am Ende doch von ihm gesandt wären?«
»Ich glaube nicht,« versetzte sie ruhig. »Bis die gelehrten Theologen über die Sache Gewißheit haben, wird mein Helland es mir nicht verargen, wenn ich mich an die alte Botschaft halte.«
Mein Vater jedoch ist sehr dadurch erregt; er sieht keinen Grund, warum es nicht in Wittenberg eben so wohl Propheten geben könne wie in Jerusalem, und welche Wunder in unsern merkwürdigen Zeiten Zu groß sein könnten, um nicht daran zu glauben?
Ich und viele andere, wir sehnen uns unbeschreiblich nach Dr. Luther. Ich glaube freilich, daß Gottfried Recht hat; allein es wäre doch schrecklich, einen Irrtum zu begehen, und Dr. Luther durchschaut alles auf den ersten Blick und erstürmt die Festung, indessen Dr. Melanchthon lange rings herum geht und jeden Punkt der Festungswecke untersucht.
Dr. Luther schwankte nie in seiner Ansicht, wie wir aus seinen Briefen ersehen, worin er uns auf's Nachdrücklichste vor diesen Betrügereien des Satans warnt. Aber dann sagen die Leute, er habe die Propheten weder gesehen noch gehört. Ein Brief kann überlegt und beantwortet sein, ehe ein anderer kommt, und in solchem Streit hat das lebendige Wort den entschiedensten Einfluß.
Welcher Feldherr könnte durch Briefe ein Heer in die Schlacht führen?
20. Februar 1522.
Unsere Friedenstaube, unsere Eva, ist wieder zu uns zurückgekehrt! Diesen Abend, als ich meiner Mutter eine Botschaft überbringen wollte, fand ich Eva zu meinem nicht geringen Erstaunen neben meinem Vater sitzend, der ihre Hand in der seinigen hielt; sie las ihm eben den dreiundzwanzigsten Psalm vor, während meine Großmutter zuhörte und die Mutter mit ihrem Strickstrumpfe, zufrieden lächelnd, daneben saß.
Als ob sie kaum einen Tag abwesend gewesen, so still und ruhig hatte sie ihr altes Plätzchen wieder eingenommen. Es schien so natürlich und doch wieder wie ein Traum, so daß es mir gar nicht wunderbar vorkam; ich ging daher auf sie zu und küßte sie auf die Stirne.
»Liebe Base Else, bist du es?« rief sie aus. »Ich wollte dich morgen in aller Frühe besuchen.«
Wie wohlthuend war der Klang der lieben, sanften melodischen Stimme!
»Ihr habt Alle Tante Cotta verlassen, sagte sie mit leisem, bebendem Tone, »darum bin ich zurückgekommen, um bei ihr zu bleiben, wenn sie es mir erlaubt.«
Meine Mutter und Eva hatten nie Liebesversicherungen gewechselt, sie verstanden sich so vollkommen, auch ohne Wort.
28. Februar.
Es ist kein Traum: Eva hat das Kloster verlassen und ist wieder in unserer Mitte. Jetzt, da sie ganz wieder die Alte ist, wundere ich mich mehr als je, daß wir sie entbehren konnten. Sie spricht von ihrer Flucht aus dem Kloster und ihrer einsamen Reise nach Wittenberg, als ob es die leichteste und gewöhnlichste Sache von der Welt gewesen wäre. Sie sagt, Jedermann hatte ihr so freundlich geholfen und für sie gesorgt.
Sie ist sehr wenig verändert. Wie hätten diese Züge sich ändern können? Sie hat noch immer denselben harmlosen Zug um den Mund, ihre sanften, schwarzen Augen haben denselben vertrauensvollen aufrichtigen Blick; die ruhige, friedliche Stirne, welche immer einem sonnigen, wolkenlosen Himmel glich, ist noch immer ruhig und heiter, und ihr goldenes Haar, das im Kloster abgeschnitten wurde, umringt ihr Gesicht in kleinen Löckchen, wie in der ersten Zeit, da sie zu uns nach Eisenach kam. Nur scheint der Ausdruck des Gesichts tiefer, ich kann nicht sagen beschattet –aber durchdrungen von dem Wesen, das wohl, wie ich mir vorstelle, die Heiligen im Himmel von den Engeln unterscheiden muß; diejenigen, welche gelitten haben von denen, welche bloß das Mitgefühl für anderer Leiden gekannt haben, –jener tiefe, weiche, geduldige, vertrauensvolle Ausdruck, der nur das Teil derjenigen ist, welche zu der himmlischen Seligkeit des »Dein Wille geschehe,« erst durch die Seelenkämpfe des »Nicht mein Wille, sondern der Deinige« hindurchgedrungen sind.
Gretchen begrüßte sie zuerst mit der ehrfurchtsvollen Miene, die sie in der Kirche hat, und nachher frug sie mich: »Ist das wirklich die Base Eva auf dem Bilde?« Allein jetzt herrscht bereits die größte Vertraulichkeit zwischen ihnen, und Gretchen weiht Base Eva in ihre geheimsten Pläne und Freuden ein. Selbst die Knaben setzen einen ganz ungewöhnlichen Wert in ihre Meinung und schätzen ihr Urteil weit höher als das anderer Frauen; denn gestern erklärte ihr Fritz auf's Eifrigste die Vorzüge eines neuen Bogens nach englischem Muster, den er erhalten hatte.
Es ist hier ein ernstes Anliegen, neun junge Nonnen, welche die lutherische Lehre angenommen haben, aus Nimptschen zu befreien. Gottfried hält es für schwierig, aber durchaus nicht unmöglich, wenigstens mit der Zeit.
In welch stürmische Welt ist aber unsere Taube zurückgekehrt? Die Universität fast aufgelöst, die Stadt in heftiger Bewegung, und noch keine deutsche Bibel zu haben, vermittelst derer die Ansprüche dieser neuen Propheten geprüft werden könnten.
Allein Eva scheint durch diese Wirren gar nicht niedergeschlagen. Sie sagt, es sei ihr, als ob sie aus der Arche in eine neue Welt gekommen; und Noah hat wohl freilich auch nicht alles für ihn aufgeräumt und zubereitet gefunden. In Bezug auf die Propheten ist sie ganz auf meiner Mutter Seite. Sie sagen, die Apostel haben nicht sich selbst, sondern den Herrn Jesum Christum gepredigt. Wenn die Zwickauer Propheten Ihn predigen, so predigen sie nichts Neues; wenn sie aber sich selbst predigen, so haben sie diesen Auftrag weder von Gott noch von dem Erzengel Gabriel erhalten.
Unser Hauptkummer ist Fritzens fortwährende Gefangenschaft. Zuerst hofften wir ganz sicher, daß er entkommen werde; allein jeder Monat vermindert unsere Hoffnung, so daß wir kaum von ihm zu sprechen wagen, außer in unserem Gebete. Täglich beten Gottfried und ich sowohl um seine Befreiung, als auch um Dr. Luthers Rückkunft und die glückliche Vollendung seiner Uebersetzung der Bibel in die deutsche Sprache, welche, wie Gottfried glaubt, die größte Wohlthat ist, die Luther dem deutschen Volke und durch dieses der Christenheit je erwiesen hat oder erweisen kann.