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XXX.
Fritzens Geschichte.

31. Dezember 1522.

Wir sind verlobt. Feierlich, vor allen unsern Verwandten und Freunden, hat Eva versprochen, meine Gattin zu werden, und in wenigen Wochen wird die Vermählung sein. Wir werden (wenigstens fürs erste) im Thüringer Wald in dem Pfarrhause wohnen, das zu Ulrich von Gersdorfs Schlosse gehört. Der alte Priester kann nichts mehr wirken. Chrimhilde wünscht sehnlichst, daß wir die Bauern für das Wahre und Gute gewinnen möchten, und alle glauben, daß die Stille und die reine Waldluft meine Gesundheit wieder herstellen werden, die durch alles, was ich in den letzten Monaten durchgemacht habe, ziemlich erschüttert ist, obgleich nicht in so hohem Grade, als sie es sich vorstellen. Schon fühle ich mich wieder zu allem stark genug. Ach! was habe ich all diese langen Jahre der Trennung von ihr nicht verloren! Wie arm und einseitig war nicht mein Leben! Wie stark fühle ich mich durch die Ruhe, die ihre Nähe mir verleiht, jede Arbeit zu vollbringen, die Gott mir anweist.

Unbegreifliche Gotteslästerung, zu behaupten, daß die Ordnung, worauf der Schöpfer das menschliche Leben gegründet hat, eine Unordnung sei, und daß die Liebe, mit welcher der Sohn Gottes Sein Verhältnis zu Seiner Kirche vergleicht, das Herz erniedrige und beflecke.

Sind denn also die verflossenen Jahre als verloren zu betrachten? Habe ich denn in Eigensinn und Thorheit auf das schöne Los, das Gott mir bestimmt hatte, verzichtet, seit jener schrecklichen Pestzeit in Eisenach? Sind dies lauter vergeudete Jahre gewesen? Waren alle meine Leiden unnütz und fruchtlos? Kehre ich denn endlich nach so viel verlorener, kostbarer Zeit, mit geschwächter Kraft auf denselben Punkt zurück, den ich längst hätte erreichen können?

Bei Eva ist dies nicht der Fall; das weiß ich gewiß. Die liebende Hand des Herrn hat sie bei jedem Schritte geleitet. Ist nicht durch sie das Kloster für viele zu einer Heimat oder zum Wege nach dem ewigen Vaterhause geworden? Aber bei mir? Nein, auch mir haben diese Jahre mehr eingebracht, als genommen. Diejenigen, welche den Mühseligen und Beladenen ihrer Zeit zu helfen und zu raten bestimmt sind, müssen zuerst auch in den Kämpfen ihrer Zeit bewährt worden sein. Hat nicht eben dies Martin Luther zum Lehrer unseres Volkes gemacht? Ist es nicht eben dies, was schwache, sündige Menschen noch vor den Engeln des Himmels befähigt, Prediger des Evangeliums zu werden.

Die heiligen Engel besangen in himmlischen Höhen die große Freudenbotschaft; aber Hirten, Fischer und Zöllner verbreiteten sie von Haus zu Haus! Der Engel, welcher die Apostel aus dem Kerker befreite, sagte, wie aus der Fülle seines Herzens: »Geh, sage dem Volke die Worte dieses Lebens.« Aber der bebende Mund eines Petrus, der seinen Herrn verleugnet, eines Thomas, der gezweifelt, und eines Johannes, der ihn mißverstanden hatte, sollte eben verleugnenden, zweifelnden und mißverstehenden Menschen die Lebensworte sagen; ihnen mitteilen, was sie selbst erfahren, wie der Heiland vergeben könne.

Es lag in der Stimme, deren feige Beteuerungen und Flüche, vor einem Blicke göttlich verzeihender Liebe verstummt waren, eine überzeugende Macht, welche selbst die des Erzengels Michael nicht haben konnte.

Und als endlich die Pharisäer, die verhärtetsten von allen, gewonnen werden sollten, wählte Gott einen der eifrigsten unter ihnen, einen Lästerer und Verfolger, welcher sagen konnte: »Ich möchte mich wohl auch des Fleisches rühmen, da ich die Gemeine Gottes verfolgt habe.«

War Davids einsamer Kampf mit dem Löwen und Bären der Wildnis vergeblich, in welchem er, um die paar Schafe zu verteidigen, die Waffen erprobte, mit denen er nachher den Goliath erschlug und das Heer der Israeliten erlöste? Waren die Jahre, welche Martin Luther im Kloster zu Erfurt zubrachte, verloren? Oder waren sie nicht vielmehr eine Schule für ihn, die Werkstätte, wo seine Waffen geschmiedet wurden, der Fechtplatz, auf dem er Auge und Hand für den Kampf auf dem Schlachtfeld übte?

Er hat das Innere der Klöster gesehen, er hat das Leben darin aus eigener Erfahrung kennen gelernt. Er kann von all diesen äußern Regeln sagen: »Ich habe sie erprobt und machtlos gefunden, das Herz zu heiligen.« Das ist es, was seinen Worten und Schriften diese unwiderstehliche Macht gibt. Das ist es, was ihn durch Gottes Gnade befähigt hat, die Episteln des heiligen Paulus so zu übersetzen, wie er es gethan hat. Lange zuvor hatte der heilige Geist diese Wahrheiten in die Sprache seiner Erfahrung übersetzt und in sein Herz geschrieben, so daß er bei Uebertragung des griechischen Textes ins Deutsche von Dingen zeugte, die er gesehen hatte, und daß seine Uebersetzung der Bibel sich liest, als ob sie ursprünglich in deutscher Sprache für das deutsche Volk geschrieben worden wäre.

Auch für mich nach meinem geringen Maße sind diese Jahre nicht verloren gewesen. Manche Wahrheiten lernt man nur dadurch in ihrem ganzen Umfange einsehen, daß man die harte Sklaverei der Irrtümer, welche sie bestreiten, an sich selbst erfährt.

Vielleicht werden wir uns auch gegenseitig, sowie Andern besser beistehen können, weil wir beide getrennt erzogen wurden. Ich hatte so oft von dem Glücke geträumt, sie ins Leben einzuführen. Und nun gibt Gott sie mir zurück, bereichert mit all den eigenen Erfahrungen unserer vieljährigen Trennungszeit, nicht als das Kind Eva, wie ich sie zuletzt gesehen, sondern zur vollkommenen Jungfrau herangereift; nicht blos um meine Gedanken in sich aufzunehmen, sondern um die reiche Fülle ihres Lebens mit dem meinigen zu verschmelzen.


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