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Erfurt, Augustinerkloster, 1. April.
Ich vermute, daß die heftigen innern Kämpfe, welche meine noch von der Pest geschwächte Konstitution erschütterten, die Krankheit verursachten, von welcher ich jetzt eben genese. Es ist wohlthuend, zu fühlen, wie die Kräfte allmälig wiederkehren. Wie wenig wir auch vom Leben haben mögen, so hat es dennoch einen unwiderstehlichen, natürlichen Reiz für uns, besonders wenn man so wenig bereit ist zum Sterben, wie ich. Während ich schreibe, krächzen die Saatkrähen auf den Ulmen des Kirchhofes, schwatzend und streitend wie eine Bande eifriger, prosaischer Bürgersleute. Etwas entfernt von dem Geräusche des öffentlichen Lebens haben ein paar Drosseln ihr Nest in einem Dornbusch (gerade unter dem Fenster meiner Zelle) gebaut, und wecken mich in der Frühe des Morgens mit ihrem lieblichen Gesange. Das Männchen fliegt hin und her, emsig wie eine Biene; bringt seinem Weibchen, welches, zwischen dem dicken Laube versteckt, in Sicherheit brütet, Futter im Schnabel, und dann setzt es sich auf einen Zweig und singt, als ob es sonst gar nichts zu thun hätte, als glücklich zu sein. Alles ist ihm Vergnügen; das Singen sowohl als die Arbeit. Glückliche Geschöpfe, welche nach dem Willen Gottes ihrer Natur gemäß leben dürfen.
Wahrscheinlich ist während der Genesung von schwerer Krankheit, wenn der Körper noch schwach ist und doch neue Lebenskraft sich zu regen beginnt, das Herz besonders zärtlich, und sehnt sich mehr nach der Heimat und dem frühern gewohnten Leben, als wenn die völlig wiedergekehrte Kraft zu den alten Pflichten zurückführt. Oder erinnert mich diese Krankheit vielleicht an die vorige, und an die liebenden Gesichter und sanften Stimmen, welche mich damals umgaben?
Doch ich habe keine Ursache, mich zu beklagen. Mein alter Beichtvater ist fast nicht von meiner Seite gewichen. Gleich am Anfang brachte er sein Bett in meine Zelle und pflegte mich wie ein Vater.
Und wie seine Hände für meine leiblichen Bedürfnisse sorgen, so sind seine Worte auch heilender Balsam für meine Seele. Wenn diese doch nur den Trost, welchen er anbietet, eben so bereitwillig annehmen wollte, wie ich Nahrung und Arznei aus seinen Händen empfange!
Er läßt sich nicht darauf ein, meine Zweifel einzeln zu widerlegen. Er sagt:
»Ich bin kein Arzt. Ich kann meine Hand nicht auf den Sitz des Uebels legen; aber Einer ist, der es vermag.« Und ich weiß gewiß, zu ihm betet der einfältige alte Mann für mich.
Besonders oft kommt er auf den Ausspruch im Credo zurück: »Ich glaube an die Vergebung der Sünden.« »Es ist der ausdrückliche Befehl Gottes,« sagte er einst zu mir, »daß wir an die Vergebung der Sünden glauben, nicht der Sünde Davids oder Petrus, sondern der unsrigen, unserer eigenen, gerade der Sünden, welche unser Gewissen beunruhigen.« Er führte auch eine Predigt des heiligen Bernhard an.
»Der heilige Geist gibt Zeugnis deinem Geiste, daß dir deine Sünden vergeben sind.«
Ja, sie sind allen Bußfertigen vergeben! Aber wer versichert mich, daß ich wirklich bußfertig bin?
Diese Worte haben, wie er mir erzählt, Bruder Martin getröstet, und er wundert sich, daß sie mich nicht auch trösten. Vermutlich hatte Bruder Martin das Zeugnis des heiligen Geistes in seinem Herzen: aber wer soll es mir geben? mir, der ich dem Rufe des heiligen Geistes so lange widerstrebt habe, und ihm in meinem innersten Herzensgrund noch so unvollkommen gehorche!
Bruder Martin war treu, aufrichtig, entschieden, einfältigen Herzens, –das Alles nimmt Gott gnädig an; alles das bin ich nicht.
Allein die Teilnahme und Liebe meines betagten Beichtvaters trösten mich oft, selbst wenn seine Worte wenig Macht haben. Sie lassen oft in meiner Seele eine schwache Hoffnung dämmern, daß der Herr, dem er dient, ein ebenso mitleidiges Herz haben mag.
Erfurt, 15. April.
Der Generalvikar Staupitz hat unser Kloster besucht. Ich habe ihm gebeichtet. Er war sehr mild gegen mich und hat mir zu meiner großen Verwunderung fast keine Buße aufgelegt, obgleich ich mich bemühte, ihm alles aufzudecken.
Einmal murmelte er vor sich hin, während sein Auge mit dem innigsten Mitleid auf mir ruhte: »Ja, Rückkehr ist unmöglich. O hätte ich dies früher gewußt.« Dann setzte er zu mir gewendet hinzu: »Bruder, man muß das Leiden nicht mit dem Sündigen verwechseln. Es ist Sünde umzukehren. Es mag ein Schmerz sein, zurückzuschauen, und zu sehen, auf was wir verzichtet haben; aber es ist nicht notwendig eine Sünde, wenn wir mit Ernst und Entschiedenheit vorwärts gehen. Und wenn Sünde in das Vermissen und Sehnen sich mischt, so bedenke, daß wir keinen gemalten, sondern einen wirklichen Heiland haben, und daß er nicht für gemalte, sondern für wirkliche Sünden gestorben ist. Die Sünde wird nicht überwunden damit, daß man sie ansieht, sondern indem man von ihr hinweg auf den sieht, der für unsere Sünden, deine und meine, am Kreuze gestorben ist. Das Herz wird nicht zu Gott gezogen, so lange wir denken, daß wir ihn lieben sollen, sondern wenn wir Ihn kennen lernen, der der heißesten Liebe wert ist. Wahre Buße beginnt mit der Liebe Gottes. Der heilige Geist lehrt uns Gott kennen und also auch lieben. Sorge nichts, sondern lies die heiligen Schriften und bete. Er wird dich noch in seinem Dienste brauchen; und in seiner Gnade ist Leben und in seinem Dienste ist Freiheit.«
Diese Beichte gab mir großen Trost für einige Zeit. Ich sah, er hatte mich verstanden und doch mich nicht aufgegeben. Und am Abend, nachdem ich meine Stundengebete vollbracht hatte, wagte ich es, mit meinen eigenen Worten zu Gott zu beten und fand es feierlich und süß.
Allein meine alte Aengstlichkeit ist seitdem doch wiedergekehrt. Habe ich dem Generalvikar selbst eine ganz vollständige Beichte abgelegt? Wenn ich es gethan hätte, würde sein Urteil nicht ganz anders ausgefallen sein? Beweist nicht eben die Milde seines Urteils, daß ich mich wieder selbst betrogen, eine falsche Beichte abgelegt und mich der Absolution verlustig gemacht habe? Doch ist das eine große Erleichterung, daß er mir ausdrücklich befohlen hat, die heilige Schrift zu studieren anstatt der Scholastiker, mit welchen mein Lehrer mich neuerdings ausschließlich beschäftigte.
25. April.
Ich habe heute von dem Generalvikar Befehl erhalten, mich für eine Sendung nach Rom bereit zu halten.
Noch ist der Mönch mir nicht genannt worden, unter dessen Leitung ich reisen werde.
Der Gedanke an die neuen Gegenden, durch welche wir kommen, an die wunderbare neue und doch auch wieder alte Welt, die wir betreten sollen, füllt mein Herz mit einer beinahe kindischen Freude. Seitdem ich diese Nachricht erhalten, ist mein Herz und Gewissen sonderbar erleichtert, leider wohl ein Beweis, wie wenig Ernst es mir eigentlich ist.
Doch auch etwas anderes hat mich sehr getröstet. In der Beichte sprach ich mit dem Generalvikar über, meine Familie, und schon hat er meinem Vater eine Stelle als Vorsteher der lateinischen Druckerei in Wittenberg verschafft.
Nun werden doch endlich meine Mutter und Else von dem schweren Drucke der Armut, welche sie niedergebeugt, befreit werden. Freilich wäre es wohlthuender gewesen, hätte ich ihnen diese Erleichterung durch meine eigene Arbeit verschafft. Allein es ist nicht an uns, Gestalt und Zeit zu wählen, in welchen himmlische Boten erscheinen sollen. –
Der Generalvikar hat mir überdies ein kleines Bändchen Predigten von einem frommen Dominikanermönch, Namens Tauler, geschenkt. Sie sind wunderbar tief und herzergreifend. Ich finde es schwer, die erhabene und begeisterte Anbetung Gottes, welche darin weht, mit den kleinlichen Regeln unseres Ordens, mit den unbedeutenden Fragen der Kasuistik und den genauen Vorschriften über das Maß der Verehrung und Anbetung, Dulia, Hyperdulia und Latria, welche den verschiedenen Ordnungen himmlischer Wesen erzeigt werden sollen, zu vereinigen, die beim Gebet mich oft so verwirren, wie einen Bauer aus dem Thüringerwalde die Ceremonien des kaiserlichen Hofes. –
Dieser Dominikaner redet, als ob wir uns über alle diese niedrigen Dinge erheben, uns ganz in den einen unendlichen Quell, Grund, Anfang und Ende alles Seins versenken könnten, in den Einen, der alles ist.
Jedoch teurer noch als dieses Buch ist mir ein altes Manuskript in unserer Klosterbibliothek, das die Bekenntnisse des heiligen Augustinus, des Schutzpatrons unseres Ordens, enthält.
Gerade aus seinem Herzen dringt es in das meinige, als ob er es heute mir selbst gesagt hätte. Ich fühle die Pulse dieses leidenschaftlichen, inbrünstigen, kämpfenden, unstäten, zitternden, anbetenden Herzens aus jeder Zeile!
Dies waren also die Erfahrungen eines Mannes, der jetzt als Heiliger in den höchsten Himmel erhoben ist?
Und dann seine Mutter! Geduldige, demütige, edle, heilige Monika! Mutter und mehr als Märtyrerin! Sie steht vor mir in dem Bilde einer geliebten Gestalt, an die ich ohne Sünde auch hier, auch jetzt denken darf. St. Monika redet mit mir mit meiner Mutter Stimme, und aus ihren Gebeten lerne ich, wie meine Mutter für mich gebetet hat.
St. Augustin war glücklich, mit ihr bis an's Ende unter einem Dache leben und ihr den letzten Trost spenden zu dürfen. Dies wird mir wohl schwerlich zu Teil werden. »Die süße Gewohnheit des Zusammenseins« ist auf immer für uns vorbei; vorbei durch meine eigene That! »Zur Ehre Gottes!« Möge Gott sie gnädig annehmen, wo nicht, möge er sie verzeihen!
Das alte Manuskript ist ganz abgegriffen vom Lesen. Es liegt nun gewiß mehr als hundert Jahre in der Klosterbibliothek. Eine Generation nach der andern von denen, welche jetzt in dem Gottesacker unter unsern Fenstern liegen, hat diese Blätter gelesen, Herzen nach Herzen haben dieses Orakel eines Herzens aus alter Zeit, das dem Verderben so nahe war und doch so herrlich errettet ward, befragt.
Während ich das alte zerrissene Buch lese, scheint eine Gesellschaft verwandter Geister mich zu umgeben; und ich denke, daß viele, welche durch seine Worte gestärkt worden sind, vielleicht eben jetzt mit dem, der sie geschrieben hat, unter den selig vollendeten Geistern im Himmel sein mögen.
In der Bibliothek ist es mir, als ob die Toten um mich her lebendig wären. Im Kirchhofe ruhen die Ueberreste des vergänglichen Leibes; aber unter den alten Büchern fühle ich den Atem lebendiger Geister aus längst verschwundenen Jahrhunderten mich umwehen. –
Ich muß freilich sagen, es ist mehr Gelegenheit zu einsamem Umgang mit den Toten in dieser Bibliothek, als mir lieb ist. Die Bücher werden heutzutage sicher nicht so viel benützt, als der Generalvikar wünscht, obgleich die Augustiner im Rufe stehen, zu den gelehrteren Orden zu gehören.
Oft drängt sich mir die Frage auf, was wohl manche dieser oberflächlichen, behaglichen Mönche hiehergeführt haben mag. Allein viele Gesichter geben keine Antwort auf meine Nachforschungen. Keine Geschichte ist darauf zu lesen. Die Runzeln sind eher Geleise, vom Rade der Zeit zurückgelassen, als Furchen, in welche tiefe Gedanken ihren Samen gestreut. Doch vielleicht thue ich selbst dem Geringsten unter ihnen Unrecht. Das seichteste Menschenherz hat irgendwo seine Tiefen, mögen dieselben von einer noch so dicken Eisrinde verschlossen oder mit den lieblichsten Blumen bedeckt sein.
Und ich, –ich und jener unbekannte Bruder, wir sollen also wirklich nach Italien reisen, dem herrlichen Lande voll Sonnenschein und Weinreben und Oliven und alten Städten; nach Rom, der Kaiserstadt, dem heiligen Rom, wo zahllose Märtyrer ruhen, wo der heilige Augustin und Monika lebten, wo St. Paul und Peter predigten und litten, wo der Statthalter Christi wohnt und herrscht!
1. Mai.
Der Bruder, mit welchem ich nach Rom pilgern soll, ist gestern Abend angekommen; und zu meiner unaussprechlichen Freude ist es kein anderer als: Bruder Martin, –Martin Luther, Professor der Theologie auf der neuen kurfürstlichen Universität zu Wittenberg! Er hat sich sehr verändert, seit ich ihn zuletzt in Erfurt sah, wie er sich mit dem Sack auf der Schulter durch die Straßen schleppte. Sein Gesicht ist nicht mehr hohlwangig und abgehärmt, und seine Augen haben ihren Glanz wieder erlangt. Ihr Ausdruck wechselt freilich sehr oft und geht von der Heiterkeit in einen tiefen Ernst über, in welchem alles Licht nach innen gekehrt scheint; allein darunter liegt jener tiefe Frieden, den ich an meinem alten Beichtvater bemerkt habe.
Auf Bruder Martins Gesicht steht eine Geschichte geschrieben, eine, däucht mir, noch unvollendete Geschichte.
Heidelberg, 25. Mai.
Ich wunderte mich sehr, mit welch leichtem Herzen ich meine Reise antrat.
Der Generalvikar selbst geleitete uns hieher. Wir reisten teils zu Pferde, teils zu Wagen.
Die Unterhaltung drehte sich meistens um die Zukunft der neuen Universität, und die Wichtigkeit, gute Lehrer der alten Sprachen dafür zu finden. Bruder Martin machte den Vorschlag, seinen Aufenthalt in Rom zu benützen, um bei den dortigen gelehrten Griechen und Rabbinern sich in der griechischen und hebräischen Sprache zu vervollkommnen. Auch mir raten sie, dieses zu thun.
Das Geschäft, welches uns nach Rom führt, ist eine Berufung an den heil. Vater, in Betreff eines Streites zwischen einigen Klöstern unseres Ordens und dem Generalvikar.
Man sagt übrigens, daß die Geschäfte in Rom langsam von Statten gehen und uns noch viele Zeit übrig lassen werden für andere Beschäftigungen außer denen, welche uns am meisten am Herzen liegen, nämlich an den Gräbern der heil. Apostel und Märtyrer zu beten.
Der Generalvikar und Martin Luther sprechen mit großer Achtung und Liebe von dem Kurfürsten Friedrich, der wirklich ein frommer Fürst sein muß. Vor wenigen Jahren unternahm er selbst eine Pilgerfahrt nach Jerusalem und nahm den Maler Lukas Kranach mit, um verschiedene heilige Orte zu zeichnen.
Vor ungefähr zehn Jahren ließ er eine der heiligen Ursula geweihte Kirche auf der Stelle bauen, wo die kleine Kapelle stand, die man 1353 über einem Dorne aus der Dornenkrone des Heilandes errichtet hatte. Diese kostbare Reliquie war von dem Könige von Frankreich einem der früheren Kurfürsten zum Geschenk gemacht worden.
Diese Kirche soll schon jetzt, wie man sagt, reicher an Schätzen sein, als alle andern Kirchen Europas, ausgenommen die von Assisi, dem Geburtsorte des heil. Franziskus. Und die Sammlung soll noch immer im Zunehmen sein.
Man zeigte mir auch ein Buch, das vor ein paar Jahren in Wittenberg gedruckt worden ist, unter dem Titel: »Beschreibung der heil. Reliquien,« mit hundertneunzehn Holzschnitten geziert.
Wittenberg selbst scheint noch ärmlich und klein zu sein im Vergleich zu Eisenach und Erfurt; und die Studenten, deren Zahl sich nahezu auf fünfhundert beläuft, sind zuweilen sehr wild und ausgelassen und dem Biertrinken ergeben. Vor drei Jahren, also Anno 1507, belegte der Bischof von Brandenburg die ganze Stadt mit dem Interdikt, wegen einer Beleidigung, welche einige Studenten seinem Gefolge zugefügt hatten, und seitdem ist es ihnen verboten, Flinten, Schwerter oder Dolchmesser zu tragen.
Bruder Martin hofft übrigens, daß viel Gutes unter ihnen gestiftet werden könne. Er ist den 9. März des vorigen Jahres zum Biblikus oder Ausleger der Bibel ernannt worden, und hält jeden Tag eine Vorlesung von zwölf bis eins.
Letzten Sommer hat ihn der Generalvikar zum erstenmal vermocht, zu predigen. Ich hörte beide miteinander davon reden, und nachher erklärte es mir Bruder Martin.
Letzten Sommer saßen Dr. Staupitz und Bruder Martin beisammen unter einem Birnbaum im Klostergarten zu Wittenberg, und der Generalvikar gab sich alle Mühe, Letztern zum Predigen zu überreden. Er wollte es aber durchaus nicht versuchen. »Es ist wahrlich keine Kleinigkeit,« sagte Martin Luther zu Dr. Staupitz, »an Gottes Statt vor dem Volke zu stehen.« –»Ich hatte hundert Ausflüchte,« fuhr er in seiner Erzählung fort, »womit ich meinem Berufe entgehen wollte; allein sie halfen mir alle nichts.« Endlich sagte ich: »Dr. Staupitz, Ihr werdet mich umbringen; ich kann nicht drei Monate aushalten.« –»Nun wohl denn,« versetzte Dr. Staupitz, »nur vorwärts. Unser Herrgott hat viele große Dinge zu vollbringen, und er braucht kluge Leute im Himmel, so gut wie auf Erden.«
Länger konnte Bruder Martin nicht widerstreben, und nach einer Probe im Refektorium vor den Brüdern, bestieg er mit zitterndem Herzen die Kanzel der kleinen Kapelle des Augustinerklosters.
»Niemand kann sich vorstellen, wie bange einem Prediger zu Mute ist, der zum ersten Male auf die Kanzel tritt und die vielen Köpfe vor sich sieht. Wenn ich hinaufgehe, sehe ich keinen an. Ich stelle mir vor, daß es nur Klötze sind, und dann verkündige ich nur das Wort meines Gottes.«
Und doch sagt Dr. Staupitz, seine Worte seien mächtig, wie rollende Donnerschläge. Doch! sagte ich. Sollte es nicht vielmehr heißen: deßhalb? Er hält sich selbst für nichts, aber sein Beruf ist ihm alles. Er fühlt, daß Gott gegenwärtig ist. Was brauchte es mehr, um aus einem solchen Mann einen mächtigen Redner zu machen?
Solche Gespräche verkürzten uns die Reise ungemein. Und doch waren die Stunden mir fast die angenehmsten, wenn wir alle still waren und die neuen Gegenden rasch an uns vorbei flogen. Es war mir eine große Erholung, nur mit der Außenwelt beschäftigt und des Nachdenkens, der Erinnerung und der beständigen Selbstprüfung überhoben zu sein. Ist mir ja doch die Reise von meinem Vorgesetzten befohlen worden, so daß, meinem Gelübde des Gehorsams gemäß, das Reisen jetzt meine eigene Pflicht ist, und ich brauche daher die Freuden, die es mit sich bringt, mir nicht zu versagen.
Wir blieben einige Stunden in Nürnberg. Die reichen, künstlichen Schnitzwerke an manchen Häusern waren sehr schön. Dort sahen wir auch Albrecht Dürers Gemälde und hörten Hans Sachs, den poetischen Schuhmacher, seine gottseligen Lieder singen. Und als wir die bayrischen Ebenen durchreisten, entschädigte uns die Freundlichkeit der einfachen Landleute für die Einförmigkeit der Gegend.
In der Nähe von Heidelberg war es mir beinahe, als sei ich wieder in den Thüringerwald versetzt, besonders als wir im Kloster Erbach im Odenwalde übernachteten. Die alten wohlbekannten Wälder und grünen Thäler, von Strömen durchschnitten, umringten mich wieder. Ich fürchte, Else und die andern werden die schönen, bewaldeten Hügel um Eisenach sehr vermissen, wenn sie nach Wittenberg ziehen, das in einer dürren, einförmigen Ebene liegt. Jetzt werden sie sich wohl auf den Weg machen.
Bruder Martin hat auf der Universität zu Heidelberg viel über theologische und philosophische Fragen disputiert; ich als Novize hatte die Freiheit zu wandern, wohin ich Lust hatte.
Wie herrlich war es diesen Abend in dem Walde, der das Schloß des Kurfürsten umgibt, inmitten der flüsternden Eichen und Büsche hinüberzuschauen auf die sich hinter einander auftürmenden Hügel des Odenwaldes. Bis in die weite Ferne verfolgten meine Augen den Lauf des schmalen, aus den stillen Tiefen des Waldes hervorströmenden Neckar, während er auf der andern Seite, unterhalb der Stadt die Ebene bis zum Rhein durchfließt, hier und da im Golde der sinkenden Sonne oder im grauen Abendlichte glänzend. Weiter hinaus in großer Ferne konnte ich die Masten der Schiffe auf dem Rheine erkennen.
Ich weiß nicht recht warum, aber der Fluß erinnerte mich an das Leben, an das meinige und an das Bruder Martins. Schon hat er den Schatten der Wälder verlassen, und wer kann sagen, welche Völker seinen Lauf segnen, welches Meer er erreichen, welchen Gefahren er begegnen wird? Für viele muß sein Lauf heilbringend sein; das ist gewiß. Mit mir ist es ein anderes. Mein Leben hier auf dieser Erde scheint geschlossen, geendet, und es kann hinfort niemanden daran liegen, zu wissen, durch welche Regionen es fließet, wenn es nur zuletzt den Ocean erreicht und im Schoße Gottes, wie man sagt, endigt. Wenn wir nur so sicher wären, daß Gott den Lauf unseres Lebens leitet, wie den der Flüsse. Sagt man übrigens nicht, daß einige Flüsse sich im Sande verlieren, während andere gemein dahinrieseln bis zur See, durch Gegenden, die sie zu unbewohnbaren Morästen gemacht haben?
Im Schwarzwald den 14. Mai 1510.
Bruder Martin und ich haben jetzt recht eigentlich unsere Pilgerfahrt begonnen; allein zu Fuße, um unsere Nahrung und unser Nachtlager bettelnd. Zuweilen vergütet er, was wir erhalten, indem er in einer Dorfkirche Messen liest, oder verspricht, zu Rom für unsere Wohlthäter gewisse Gebete herzusagen oder Messen zu halten.
Dies sind in der That köstliche Tage. Ich fühle mich gestärkt und belebt durch das frühe Aufstehen, die beständige Bewegung in freier Luft, und das Streben nach einem bestimmten Ziele.
Allein noch mehr, unendlich mehr fühlt sich meine Seele neu belebt. Ich fange an zu hoffen, ich sehe ein Licht, das ich bis jetzt kaum für möglich hielt.
Um mich in meinen Kämpfen und meiner Unruhe zu ermutigen, hat Bruder Martin die seinigen vor mir enthüllt. Gegen die Stürme von Zweifeln, Furcht und Todesangst seines großen Herzens scheinen meine Sorgen nur wie vorübergehender Frühlingsregen. Allein für mich waren es schauerliche Stürme, die mein Herz zur Wüste machten. Und Bruder Martin glaubt, Gott messe sein Mitleid nicht nach dem, was unsere Sorgen an und für sich, sondern nach dem, was sie für uns sind. Sind wir nicht alle Kinder, kleine Kinder in seinen Augen?
»Ich habe meine Theologie nicht auf einmal gelernt,« sagte er, »sondern ich wurde durch meine Versuchungen genötigt, immer tiefer und tiefer zu graben, denn kein Mensch kann ohne Prüfungen und Versuchungen ein rechtes Verständnis der heiligen Schrift erlangen. St. Paulus hatte einen Satansengel, der ihn mit Fäusten schlug, und ihn durch Versuchungen antrieb, fleißig in der heil. Schrift zu forschen. Versuchungen jagten mich in die Bibel hinein, welche ich unverdrossen las, so daß ich, Gott sei gelobt! endlich ein klares Verständnis davon erlangte.«
Dann erzählte er mir, worin einige seiner Versuchungen bestanden hatten: in der bittern Enttäuschung, als er fand, daß die Kutte und selbst das Gelübde und die Priesterweihe sein Herz nicht ändern konnten; daß der Satan ihm im Kloster so nahe war wie draußen, und er sich um nichts stärker fühlte, ihm zu widerstehen. Er erzählte mir von seinen Bestrebungen, die kleinlichsten Regeln des Ordens zu beobachten, und wie die geringste Abweichung davon auf seinem Gewissen lastete. Seinen lebhaften, feurigen Geist in solche Fesseln zu zwängen, war gerade so vergebliche Mühe, als wenn man versuchen wollte, vermittelst einer Weidenhecke einem Feuer Einhalt zu thun, oder einen brausenden Waldstrom in künstlichen Wendungen durch einen Blumengarten zu leiten.
Beständig vertiefte er sich in Gedanken oder Studien und vergaß alle Regeln, und dann kehrte er traurig wieder um; zuweilen versenkte er sich wochenlang in seine Studien, und dann, wenn er sich erinnerte, daß er die Stundengebete vernachlässigt hatte, durchwachte er ganze Nächte, um die versäumten Gebete nachzuholen.
Er fastete, geißelte sich, demütigte sich, dem geringsten Bruder die niedrigsten Dienste zu leisten, wehrte mit Gewalt den Schlaf von seinen durch das Studium ermüdeten Augen, bis dann hin und wieder die Natur sich rächte und ihn bewußtlos auf den Boden seiner Zelle niederstreckte, oder ihn durch Krankheit zu allem unfähig machte.
Doch alles war vergebens. Seine Versuchungen schienen stärker zu werden, seine Kräfte abzunehmen. Lieben konnte er Gott nicht, die bittersten Zweifel entstanden in seinem Innersten über Gott, der ihn mit dem Gesetze und dem Evangelium zugleich zu quälen schien. Christus stellte er sich als den strengsten Richter vor, weil er der Gerechteste ist, und schon das Wort, »die Gerechtigkeit Gottes,« war ihm eine Qual.
Nicht als ob dieser jammervolle Zustand beständig gewesen wäre. Zuweilen freute er sich seines Gehorsams, und fühlte, daß Gott ihn belohnte, wenn er das Meßopfer nicht nur für sich, sondern auch für andere darbrachte. Manchmal auch, wenn er nach seiner Einweihung auf seiner Runde in den Dörfern rings um Erfurt Messe las, fühlte er sein Herz erleichtert durch die mannigfaltigen Scenen, die sich ihm darboten, und er konnte scherzen über die lächerlichen Irrtümer der Dorfsänger, welche z. B. oft das » Kyrie« zu der Musik des » Gloria« sangen.
Zu andern Zeiten zitterten seine Glieder vor Angst, wenn er das Meßopfer darbrachte, bei dem Gedanken, daß er, der Oberpriester, und doch der arme, sündige Bruder Martin, wirklich vor Gott stehe, »ohne einen Mittler.«
Bei seiner ersten Messe hatte er Mühe, nicht von dem Altar hinweg zu fliehen, so groß war seine Furcht und das Gefühl seiner Unwürdigkeit. Wenn er es gethan hätte, würde man ihn exkommuniciert haben.
Dann gab es wieder Tage, wo er mit Freuden Gottesdienst hielt und zum Schluß sprechen konnte: »O Herr Jesu, ich komme zu dir und bitte dich, gnädig anzusehen, was ich in meinem Orden thue oder leide, und ich bitte dich, diese Lasten und die Strenge meiner Regel und Religion als eine vollständige Genugtuung für alle meine Sünden anzunehmen.«
Jedoch bald darauf konnte wieder die Furcht ihn überfallen, daß er bei der Messe unwillkürlich ein Wort, wie z. B. » enim« oder » æternum« ausgelassen, oder irgend eine vorgeschriebene Kniebeugung oder Bekreuzung vergessen, und daß er, anstatt Gott ein wohlgefälliges Opfer gebracht zu haben, eine schwere Sünde begangen habe.
Vor solchen Gewissensqualen flüchtete er zu einem der einundzwanzig Schutzheiligen, oder noch öfter zu Maria und suchte ihr Mutterherz zu rühren, daß sie ihren Sohn versöhnen möchte. Er hoffte, durch das tägliche Anrufen von drei Heiligen, durch Ertötung seines Leibes mit Fasten und Wachen dem Gesetze zu genügen und sein Gewissen vor den Geißeln des Treibers zu schirmen. Doch alles war umsonst. Je weiter er auf diesem Weg fortging, desto furchtsamer wurde er.
Und dann erzählte er mir, wie endlich das Licht seinem Herzen aufging, freilich langsam und mit vielen Unterbrechungen, allein es tagte doch in ihm. Mag sein Tag auch oft trübe und stürmisch sein, so ist es doch jedenfalls Tag und nicht Nacht.
Dr. Staupitz war der erste, welcher ihm etwas Trost gab. Der Generalvikar hörte seine Beichte, kurz nachdem er ins Kloster eingetreten war, gewann von dieser Zeit an sein Vertrauen und interessierte sich lebhaft für ihn. Bruder Martin schrieb ihm oft und gebrauchte einst die Worte in Bezug auf gewisse Vernachlässigungen der Regeln, welche sein Gewissen beunruhigten: »O meine Sünden, meine Sünden!« Dr. Staupitz erwiderte ihm hierauf: »Ihr wollet ohne Sünden sein und habt doch keine rechten Sünden. Christus vergibt rechte Sünden, wie Vatermord, Gotteslästerung, Verachtung Gottes, Ehebruch u. dgl. Dies sind wirkliche Sünden. Ihr müßt ein Register von wirklichen Sünden haben, wenn Christus euch helfen soll. Ihr wollt ein gemalter Sünder sein und einen gemalten Christus zum Heiland haben. Ihr müßt es euch gefallen lassen, daß Christus ein wahrer Heiland ist und Ihr ein wahrer Sünder.«
Diese Worte gaben Martin Luther etwas Licht; aber die Finsternis kehrte doch immer und immer wieder zurück, und Dr. Staupitz nahm herzlichen Anteil an ihm und suchte ihn liebevoll aufzurichten, sowie der liebe, alte Beichtvater, der auch mir so liebevoll beigestanden hat.
Bruder Martins Schreckbild war die Gerechtigkeit Gottes, worunter man ihn gelehrt hatte, eine unbeugsame Strenge zu verstehen, mit welcher Er die Sünder strafe.
Allein Dr. Staupitz und der Beichtvater belehrten ihn, daß die Gerechtigkeit Gottes nicht gegen den Sünder ist, der an den Herrn Jesum Christum glaubt, sondern für ihn, nicht gegen uns zur Verdammnis, sondern für uns zu unserer Rechtfertigung.
Mit neuer Lust begann er nun die Bibel zu lesen. Er hatte das größte Verlangen gehabt, die Epistel St. Pauli an die Römer recht zu verstehen, war aber immer durch das Wort »Gerechtigkeit« im ersten Kapitel im 17. Vers aufgehalten worden, wo Paulus sagt, die Gerechtigkeit Gottes sei geoffenbart im Evangelium. »Ich war sehr ungehalten,« sagte Bruder Martin, »über den Ausdruck »Gerechtigkeit Gottes«; denn nach der gewöhnlichen Art hatte man mich gelehrt, ihn in einem philosophischen Sinne zu verstehen, nämlich die Gerechtigkeit, nach welcher Gott gerecht ist und den Schuldigen bestraft. Obgleich ich tadellos gelebt hatte, fühlte ich doch, daß ich vor Gott ein großer Sünder sei, hatte ein sehr zartes Gewissen und kein Vertrauen zu einer Versöhnung mit Gott, die durch eigene Werke oder Verdienste erworben wäre. Deshalb konnte ich einen gerechten und zornigen Gott nicht lieben, sondern haßte ihn im Geheimen und dachte bei mir selbst: Ist es nicht genug, daß Gott uns um Adams Sünden willen zu ewigem Tode verdammt hat, und daß wir in diesem Leben so viel Kummer und Elend zu leiden haben? Muß er noch durch das Evangelium unser Elend und unsere Angst vermehren und durch die Predigt desselben den Donner seines furchtbaren Zornes über uns ergehen lassen? Mein beunruhigtes Gewissen reizte mich oft zum Zorn, und Tag und Nacht dachte ich über den Sinn dieser Stelle in St. Paulus nach, bis ich sie endlich so verstehen lernte: Durch das Evangelium wird die Gerechtigkeit geoffenbart, die vor Gott gilt –eine Gerechtigkeit, wodurch Gott in seiner Gnade und Barmherzigkeit uns rechtfertigt, wie geschrieben steht: Der Gerechte wird seines Glaubens leben! Sogleich war mir, als ob ich neu geboren wäre; als ob sich mir die Thore des Paradieses weit aufgethan hätten. Jetzt sah ich die Schrift in einem ganz neuen Lichte, ging ihren ganzen Inhalt, so weit mein Gedächtnis es erlaubte, durch, verglich die Stellen miteinander und erkannte um so gewisser, daß die Gerechtigkeit die sei, durch welche er uns gerecht macht, weil alles nunmehr damit übereinstimmte. Die Gerechtigkeit Gottes, die ich sonst so sehr haßte, wurde mir nun teuer und köstlich, mein süßester Trost. Diese Stelle aus dem Römerbrief wurde für mich wirklich zur Pforte des Paradieses.«
Bruder Martin bestätigte auch, was der alte Beichtvater mir erzählt hatte, daß das Wort: »Ich glaube an die Vergebung der Sünden,« ihm solchen Frieden gebracht habe; denn oft habe ihn, sagte er, der Teufel wieder zurückgerissen und selbst Christi Gestalt annehmend, gesucht, ihn wieder mit seinen Sünden zu ängstigen.
Indem ich so zuhörte, kam ich zu der Ueberzeugung, daß er wirklich aus dem Duell des ewigen Lebens getrunken habe, und daß er beinahe auch mir erreichbar sei, aber ich sagte:
»Bruder Martin, deine Sünden waren bloß Uebertretungen menschlicher Regeln; aber die meinigen sind ganz anderer Art,« und nun erzählte ich ihm, wie ich meinem Beruf widerstrebt hatte. Er versetzte:
»Der Teufel verspricht den Menschen den Himmel, ehe sie sündigen; wenn sie aber gesündigt haben, bringt er ihre Seelen zur Verzweiflung. Christus handelt ganz anders; denn er gibt den Himmel, nachdem die Sünden begangen sind, und richtet das gedrückte Gewissen wieder auf.«
Dann trat ein langes Stillschweigen ein, und wenn ich von Zeit zu Zeit sah, welcher Frieden auf seiner rauhen, breiten Stirne herrschte, und das Licht gewahrte, das aus seinen dunklen Augen strahlte, befestigte sich in mir die Ueberzeugung:
»Der Felsen, worauf dieser sturmbewegte Geist Ruhe gefunden hat, muß die Wahrheit sein.«
Hin und wieder bewegten sich seine Lippen wie zum Gebet und seine Augen blickten von Zeit zu Zeit gen Himmel, als ob seine Gedanken dort eine Heimat fänden.
Nach dieser Pause begann er von Neuem:
»Das Evangelium spricht nicht von unsern Werken, oder von den Werken des Gesetzes, sondern von der unschätzbaren Liebe und Barmherzigkeit Gottes gegen uns arme, elende Sünder. Unser barmherziger Vater sandte, weil wir unter dem Fluche des Gesetzes bedrückt und zerschmettert waren und uns nicht mit eigener Kraft von demselben frei machen konnten, seinen eigenen Sohn in die Welt und legte aller Menschen Sünden auf ihn, indem er zu ihm sagte: »Sei du Petrus, der Verläugner; Paulus, der Verfolger, Gotteslästerer und Bedränger; David, der Ehebrecher; jener Sünder, der die verbotene Frucht im Paradiese aß; jener Dieb, der am Kreuze hing; kurz, sei du derjenige, welcher die Sünden aller Menschen begangen hat und büße für sie. Denn Gott scherzt nicht mit uns, sondern sagt uns ernst und liebevoll, daß Christus das Lamm Gottes ist, welches unser aller Sünde trägt. Er ist gerecht und rechtfertigt den, welcher an Jesum glaubt.«
Ich konnte hierauf nichts antworten, sondern überlegte reiflich die Worte, indes wir weiter gingen. Auch er sagte nichts weiter.
Die Sonne war dem Untergang nahe und die Fichtenstämme warfen ihre langen Schatten über unsern grünen Waldweg, so daß wir froh waren, die Hütte eines Köhlers zu erreichen und bei seinem Feuer einen Schutz für die Nacht zu finden.
Allein ich konnte diese Nacht nicht schlafen; und während die andern schlummerten, stand ich auf und ging in den Wald hinaus.
Bruder Martin ist kein Mann, der seine Seelenkämpfe vor den Augen anderer zur Schau stellt, um ihre Teilnahme oder müßige Bewunderung zu erregen. Dazu hat er zu schwer gelitten. Nicht leichtsinnig hat er die Kerker und Folterkammern seiner Vergangenheit mir erschlossen, sondern als einem Leidensgefährten und Kampfgenossen, um mir zu zeigen, wie auch ich entgehen und überwinden könne.
Gewiß hat ihn Gott diese rauhen Wege geführt, weil er bestimmt ist, ein Held und ein Führer der Menschen zu werden.
Längst bekannte Worte gewinnen für mich eine neue Bedeutung. Es ist nichts neues, was er sagt; aber es scheint mir neu, als ob Gott es mir erst heute gesagt hätte, und in diesem Lichte erscheint alles anders.
Es ist also Gott mehr daran gelegen als mir, daß ich gerettet werde.
Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen Sohn gab.
Er liebte nicht Heilige, nicht Büßende, nicht Fromme, nicht die, welche ihn lieben, sondern die Welt, –Laien, gottlose Menschen, verhärtete Rebellen, hoffnungslose Verirrte und Sünder. –
Er gab nicht ein bloßes Versprechen, nicht einen Engel uns zu lehren, nicht eine Welt uns loszukaufen, sondern seinen Sohn, seinen Eingebornen.
So hat Gott die Welt, die Sünder, mich, auch mich geliebt. Ich glaube dies, ich muß es glauben; ich glaube es dem, welcher es gesagt hat. Wie sollte ich mich denn nun nicht freuen?
Zwei herrliche Erscheinungen stehen vor meinen Augen und erfüllen die Welt und mein Herz mit seliger Freude.
Ich sehe den Heiligen, den Vollkommenen, den Sohn zum Opferlamm und Fluch gemacht, freiwillig den Kreuzestod für mich erdulden.
Ich sehe den Vater, den Allgerechten und doch Barmherzigen, der das Lamm ohne Tadel als Sühnopfer annimmt, es von den Toten auferweckt und zu seiner Rechten setzt. Gerechter als mein geängstigtes Gewissen ihn mir darstellen konnte, rechtfertigt er dennoch den Sünder.
Die Sünde hassend, so wie die Liebe ihrer Natur nach die Selbstsucht verabscheuen muß, und das Leben den Tod, und die Reinheit das Verderbnis, liebt er dennoch mich, den Selbstsüchtigen, den Unreinen, den in Sünden Toten. Für mich gibt er seinen Sohn, seinen Eingebornen dahin; für mich nimmt er seinen Sohn, das fleckenlose Opferlamm gnädig an; er vergibt mir, spricht mich los und will mich rein machen.
Dieser Gedanke überwältigte mich. Ich kniete zwischen den Fichten nieder und redete mit dem, der uns auch ohne Worte versteht; denn Worte vermochte ich keine zu finden.
München, 18. Mai.
Den nächsten ganzen Tag und den darauf folgenden dauerte meine Freude. Jeder Zweig, jeder Vogel und Thautropfen sprach zu mir in Gleichnissen, sang mir die Geschichte von dem Sohne vor, welcher aus dem fremden Lande heimkehrend, als er der Heimat nahte, sich bereitete, dem Vater seine Schuld zu bekennen, der aber seine Rede nicht vollendete, weil der Vater ihm entgegenkam, als er noch fern war, und sein Bekenntnis nicht aussprechen konnte, weil der Vater ihm um den Hals fiel und ihn küßte.
Welches Kind hätte an des Vaters Halse sagen können: »Mache mich zu einem deiner Tagelöhner?«
Ich sah seine Liebe in jedem Thautropfen, der im Grase glänzte; ich hörte sie im Gesange jedes Vogels, ich fühlte sie bei jedem Pulsschlag.
Ich glaube nicht, daß Bruder Martin und ich während dieser Tage viel gesprochen haben.
Ich habe schon viel Liebe erfahren; aber nie habe ich eine Liebe gefühlt, die das Herz so erfüllt, befriedigt und überwältigt, wie die Liebe Gottes. Und wenn es zuerst »du und ich« heißt, zwischen Gott und der Seele, hat das Herz, wenigstens für einige Zeit, keinen Raum für andern Umgang.
Aber dann kamen wieder Fragen und Zweifel. Woher? Bruder Martin sagte: »vom Satan.«
»Der Teufel ist ein nichtswürdiger, unglücklicher Geist,« sagte er, »und möchte gerne uns auch unglücklich machen.«
»Das erste, was mir Sorge machte, war, ob ich auch den rechten Glauben hätte. Alte Erklärungen des Glaubens fielen mir ein, welche sagen, daß der Glaube nichts sei, wenn er nicht mit Liebe gepaart und in guten Werken sich kund gebe, so daß, wenn es heißt, wir werden gerecht durch den Glauben, man einen Teil für das Ganze nimmt, und unter Glauben auch Hoffnung, Liebe und alle Tugenden und gute Werke versteht.
Allein Bruder Martin versicherte, es bedeute einfach: trauen! Er sagte:
»Der Glaube ist allmächtig, denn er gibt Gott die Ehre und dies ist der größte Dienst, den man ihm erweisen kann.‹ Gott aber die Ehre geben, heißt: an ihn glauben, ihn für treu, weise, gerecht, barmherzig und allmächtig halten. Was Gott hauptsächlich von den Menschen verlangt, ist, daß er ihm die Ehre gibt, daß er ihn nicht für einen Götzen, sondern für Gott hält, der ihn sieht und hört, ihm Barmherzigkeit erweist und ihn errettet. Denn der Glaube spricht: »Ich glaube, Gott, wenn du redest.«
»Aber die größte Weisheit,« sagt er, »ist, sich abzuwenden von allen diesen Grübeleien, von unsern Sünden, unsern Werken, von uns selbst, und nur auf Jesum zu schauen, der unsere Gerechtigkeit, unser Erlöser, unser Alles ist.«
Dann sind es oft wieder andere Dinge, die mich verwirren. Wenn der Glaube so einfach und die Erlösung freie Gnade ist, warum denn so viele Mönchsorden, Regeln, Pilgerfahrten und Bußübungen?
Auf diese Fragen kann keiner von uns eine Antwort finden. Allein wir sind der Kirche Gehorsam schuldig. Was wir nicht verstehen, müssen wir annehmen und ihr gehorchen. Wenigstens ist dies die Pflicht eines Mönches.
Zu Zeiten hatte ich wieder eine andere Versuchung. »Wenn du dieses vorher gewußt hättest,« flüsterte eine Stimme in meinem tiefsten Herzensgrunde, »hättest du Gott freudig in deiner Heimat dienen können, anstatt mit Schmerzen in dem Kloster, hättest deinen Eltern und Elsen geholfen, und mit Eva über diese Wahrheiten gesprochen, die ihr frommes, kindliches Herz ohne Zweifel schon angenommen hat.« Aber ach! ich kenne den Versucher nur zu wohl, der es wagt, diesen Namen mir zu nennen, und ich sage: »Was auch immer hätte geschehen können, du boshafter Geist, jetzt bin ich ein Gott geweihter Mann, dem es ewiges Verderben brächte, umzukehren!«
Allein in gewissem Sinne fühle ich mich übrigens weniger getrennt von meinen Lieben seit einigen Tagen.
Es gibt eine Brüderschaft, es gibt eine Familie, dauernder als die traute Heimat zu Eisenach, ja als der Augustinerorden selbst, in der wir doch noch vereint werden können. Es gibt eine Heimat, in der wir vielleicht wieder eine Familie ausmachen werden.
Und indessen hat Gott vielleicht eine nützliche Arbeit mir anzuweisen, welche seine Gegenwart mir so verkürzen wird, wie Bruder Martins Gesellschaft meine Pilgerfahrt nach Rom.
Benediktinerkloster in der Lombardei.
Ich glaube wahrlich, Gott hat uns in diesen letzten Tagen einen Blick in das Paradies werfen lassen. Diese Berge mit den schneebedeckten Häuptern gleich den weißen Stufen seines Thrones; die Flüsse, welche den Bergen entströmen und das Land befruchten; die krystall'nen Seen wie Glas mit Feuer gemengt, wenn die von der Sonne vergoldeten Spitzen sich in dem klaren Wasser spiegeln; dann diese lombardische Ebene mit ihren glänzenden Strömen und goldenen Kornfeldern; diese Vorratskammern Gottes, wo Ulmen und Kastanien zwischen dem goldenen Mais wachsen, wo die Weinrebe von einem Baume zum andern Kränze schlingt, so daß das ganze Land bekränzt scheint wie für einen unaufhörlichen Feiertag! Wir kamen durch Tyrol und wanderten über das Gebirge an den Seen vorüber nach Mailand.
Hier werden wir wie Prinzen bewirtet in dieser reichen Benediktinerabtei, deren jährliches Einkommen sich auf 36,000 Gulden beläuft.
»An Essen und Trinken,« sagt Bruder Martin, »ist hier kein Mangel; denn 12,000 Gulden werden zur Bewirtung der Gäste, eine eben so große Summe auf das Bauen verwendet. Das Uebrige bleibt dem Kloster und den Brüdern.«
Sie haben uns arme deutsche Mönche mit vieler Achtung aufgenommen, als eine Deputation des großen Augustinerordens an den Papst.
Das Benehmen dieser Südländer ist artig und fein, allein sie behandeln das Heilige mit mehr Gleichgiltigkeit, als wir billigen können.
Wir sind ganz verwundert über die Pracht der Möbel und der Kleidung; es ist schwer, sie mit dem Gelübde der Armut und Weltverleugnung zusammenzureimen. Allein ich vermute, daß sie das Gelübde der Armut nur für einzelne, nicht für die ganze Brüderschaft bindend halten. Es muß jedoch schwer sein, umringt von solchem Luxus, ein strenges, ascetisches Leben zu führen. Ohne Zweifel versuchen dies nur Wenige.
Die Tische sind mit den ausgesuchtesten, kostbarsten Speisen besetzt; die Wände tapeziert, die Kleider von feiner Seide, der Fußboden mit prächtigem Marmor eingelegt.
Elender Glanz als Ersatz für die bescheidenste Heimat! –
Bologna, im Juni.
Wir verweilten nicht lange in der Benediktinerabtei und zwar aus guten Gründen. Ich konnte wohl bemerken, daß Bruder Martin an dem üppigen Leben ein Aergernis nahm; aber als Gast mochte er wohl sich nicht herausnehmen, etwas dagegen einzuwenden, bis der Freitag kam, wo zu unserm Erstaunen der Tisch mit allen Arten von Fleischspeisen und andern Gerichten beladen war, gerade wie an andern Tagen, nicht nur ganz gegen die Ordensregeln, sondern sogar gegen die gewöhnlichsten Gesetze der Kirche.
Er wollte nichts von diesen Leckereien berühren; allein mit diesem stillen Protest noch nicht zufrieden, sagte er kühn vor der ganzen Gesellschaft: »Kirche und Papst verbieten solches Leben.«
Nun hatten wir Gelegenheit zu bemerken, wie schnell die Geschmeidigkeit dieser Italiener sich verwandeln kann, wenn sie erzürnt werden.
Die ganze Brüderschaft brach in einen Sturm der Entrüstung aus. Ihre schwarzen Augen funkelten; zorniges und verächtliches Lachen zeigte ihre blendend weißen Zähne, und ihre kreischenden Stimmen stießen eine Flut heftiger Worte gegen uns aus, von denen viele unverständlich für uns waren.
»Eindringlinge, Barbaren, grobe unwissende Germanen« und andere Schimpfworte konnten wir jedoch nur zu wohl verstehen. Bruder Martin stand wie ein Fels im brausenden Meere, und drohte, sie wegen ihres Luxus und ihrer Uebertretung der Kirchengesetze in Rom zu verklagen.
Als die Versammlung aufbrach, bemerkten wir, daß die Brüder kleine Haufen bildeten und uns wütende Blicke zuwarfen, wenn wir an ihnen vorbeigingen.
Des Abends kam der Pförtner des Klosters heimlich zu uns und sagte uns, daß die Abtei kein sicherer Aufenthalt mehr für uns sei.
Ob dies eine freundliche Warnung oder eine List der Brüder war, um solch lästige Gäste los zu werden, weiß ich nicht; allein wir hatten gar keine Lust, länger zu verweilen, und ehe der nächste Morgen dämmerte, schlichen wir in der Dunkelheit zu einem Seitenpförtchen hinaus und bestiegen ein Boot, das wir auf dem Flusse fanden, der die Mauern des Klosters umspült, und entkamen unsern Feinden.
Der heutige Tag war herrlich. Unser Weg wand sich an einem Hügel hin, unter dem wechselnden Schatten reich beladener Rebgelände. Aber Bruder Martin sah krank und ermattet aus.
Bologna.
Gott sei Dank, Bruder Martin ist dem Leben wiedergeschenkt! Er ist am Rande des Grabes gewesen.
War es die glühende Hitze während unserer Reise, oder die kalte Nachtluft, welche uns, als wir eine Nacht bei offenem Fenster schliefen, eine Erkältung zuzog, oder hatten die aufgebrachten Mönche in der Benediktinerabtei Gift in unsere Speisen gemischt, –ich weiß es nicht, aber kaum hatten wir diese Stadt erreicht, so wurde Bruder Martin gefährlich krank.
Während ich bei ihm wachte, war ich Zeuge von beinahe derselben Angst, welche er in unserem Kloster zu Erfurt ausgestanden hat. Seine Sünden und die Schrecken des göttlichen Gerichts überfielen seinen durch Leiden geschwächten Geist. Zuweilen erkannte er, daß es der Böse war, der ihn so niederdrückte. Dann sagte er wohl: »Der Teufel ist der Ankläger der Brüder, nicht Christus. Du, Herr Jesu, bist mein vergebender Heiland!« Und damit war die Bangigkeit überwunden. Ein anderes Mal grübelte er über dem, was unergründlich ist, dem Ursprung des Bösen, und dem Zusammenhang zwischen dem freien Willen des Menschen und Gottes allmächtiger Regierung.
Dann wagte ich es, ihn an die Worte des Dr. Staupitz zu erinnern, die er mir selbst wiederholt hatte. »Betrachte die Wunden Jesu Christi, dann wirst du Gottes Ratschluß deutlich erkennen. Außer Christo vermögen wir Gott nicht zu verstehen. In Christo wirst du finden, was Gott ist und was er verlangt. Du wirst ihn sonst nirgends finden, weder im Himmel noch auf Erden.«
Es war seltsam, daß ich, ein ungeprüfter Rekrut, es versuchte, einem solchen Veteranen und Sieger, wie Bruder Martin, Trost zuzusprechen, aber wenn die Stärksten in solche Kämpfe geraten sind, vermag oft auch eine schwache Hand einen Trunk Wasser zu reichen und damit den Helden in den Augenblicken des Waffenstillstandes zu erquicken.
Allein der Sieg kann nur von dem Kämpfer selbst errungen werden, und Bruder Martin kämpfte sich abermals durch, selbst wenn das Gefecht am heißesten war, und überwand mit seiner alten Waffe: »Der Gerechte wird seines Glaubens leben.«
Auf's neue kamen diese Worte, welche ihm so oft geholfen haben, die er auf dieser Reise so oft wiederholt hat, ihm mit ihrer vollen Macht in den Sinn. Er schaute wieder auf den gekreuzigten Erlöser, glaubte, daß er erhöht auf dem Thron der Herrlichkeit bereit sei, die Sünden zu vergeben, und in seinem Geiste ward es wieder Licht.
Auch seine Kraft kehrte nach und nach zurück, und in wenigen Tagen werden wir Rom erreicht haben.
Rom.
Unsere Pilgerfahrt ist zu Ende, wir sind in Rom.
Durch glühend heiße Ebenen, unter Rebengeländen an den Abhängen der Hügel, über rauhe, wilde Gebirge, durch liebliche grüne Thäler, durch Wäldchen von Kastanien- und Oliven-Bäumen, Dickichte von Myrthen, vom Dufte der Lavendel und der Küstenröschen erfüllt, wanderten wir, bis endlich in einiger Entfernung in der Campagna die heiligen Türme und Dome sichtbar wurden, die Stadt, wo St. Paulus und St. Petrus den Märtyrertod erlitten, die Hauptstadt des Reiches Gottes!
Sobald wir dieselben erblickten, warf sich Bruder Martin zur Erde und rief mit gen Himmel erhobenen Händen:
»Sei mir gegrüßt, heilige Stadt! dreimal gegrüßt durch das hier vergossene Blut der Märtyrer.«
Und jetzt sind wir innerhalb der heiligen Mauern und wohnen in dem Augustinerkloster, nahe bei dem nördlichen Thore, durch welches wir herkamen, von den Römern » Porta del Popolo« genannt.
Bruder Martin hat schon in der Klosterkirche eine Messe gehalten.
Und morgen werden wir an der Stelle knieen, wo die Apostel und Märtyrer gestanden haben!
Vielleicht werden wir den heiligen Vater selbst zu sehen bekommen.
Sind wir hier wirklich dem Himmel näher?
Mir däucht, daß er mir in jener Nacht im Schwarzwalde näher war.
Es ist solcher Lärm, solche Unruhe und Pracht um uns her in der großen Stadt.
Wenn ich mich bester angewöhnt und mehr hier zu Hause sein werde, wird es mir auch himmlischer scheinen.