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XIX.
Evas Geschichte.

Nimptschen 1519.

Ich habe der Schwester Beatrix und Tante Agnes das ganze Neue Testament vorgelesen. Welch verschiedene Zuhörerinnen in Bezug auf Fassungskraft und Lebenserfahrung; allein beide, wie so viele in den Tagen Seines Wandels auf Erden, vereinigten sich zu Seinen Füßen.

»Er würde sogar mich nicht verschmäht haben,« sagte zuweilen Schwester Beatrix. »Selbst mich armes Geschöpf, das sie oft halb kindisch oder halb verrückt schelten, würde Er angenommen haben!«

»Nimmt Er dich denn jetzt nicht an?« fragte ich.

»Meinst du? Ja, ich glaube, –ich bin gewiß, daß Er's thut. Selbst mein armes bischen Verstand und Liebe will Er nicht verschmähen. Er nimmt mich an, so wie ich bin.«

Eines Tages, als ich ihnen aus dem Evangelium Lucä das Kapitel vom verlorenen Groschen, vom verlorenen Schafe und vom verlorenen Sohne vorgelesen, und Tante Agnes, ihre Wange auf die magere Hand gestützt und ihre großen, schwarzen Augen unverwandt auf mich geheftet, mit der gespanntesten Erwartung bis zum Ende zugehört hatte, sagte sie:

»Ist das alles mein Kind? Fange das nächste Kapitel an!«

Ich begann von dem reichen Manne und dem ungerechten Haushalter zu lesen; allein bald unterbrach sie mich, mit der Miene getäuschter Erwartung, indem sie sagte:

»Genug! Das ist wieder ein ganz anderer Gegenstand. Also kein einziger Pharisäer ist zu Ihm gekommen! Wenn ich unter diesen harten, stolzen Pharisäern gewesen wäre, –was gar wohl hätte sein können, als er anfing zu lehren, weil ich mich gewiß auch verwundert hätte, wie Er sich so vergessen konnte, mit Zöllnern und Sündern zu essen, –wenn ich da gewesen wäre, und Ihn so hätte reden hören, Eva, ich hätte Ihm zu Füßen fallen und sprechen müssen: »Herr, ich bin kein Pharisäer mehr, ich bin das verlorene Schaf, nicht eins von den neun und neunzig –das verlorene Kind, nicht der ältere Bruder. Stelle mich an einen niedrigen Platz, ganz niedrig unter Zöllner und Sünder, niedriger als alle; aber sage mir nur, daß Du kamst, auch um mich zu suchen, ja sogar mich. Und er würde mich nicht abgewiesen haben. Aber, Eva,« setzte sie nach einer Pause hinzu, indem sie die Thränen abwischte, welche langsam über ihre welken Wangen herabflossen; »steht nicht irgendwo, daß wenigstens ein Pharisäer zu Ihm kam?«

Ich suchte, konnte aber nirgends die positive Bestätigung finden, daß ein Pharisäer um Jesu willen seinen Stolz, seine Selbstgerechtigkeit und seinen Schatz von guten Werken aufgegeben habe. Alles war zu Gunsten der Zöllner. Tante Agnes war zuweilen ganz niedergeschlagen darüber.

»Und dennoch,« sagte sie, »bin ich gekommen. Ich gehöre nicht mehr zu denen, welche sich für gerecht halten und andere verachten. Aber ich muß ganz zuletzt nach allen andern hineinkommen. Nicht jenes Weib, das eine Sünderin war, nein, ich bin ein Wunder Seiner Gnade; denn da keine Sünde mehr als der geistliche Stolz die Herzen von Ihm fern hält, so kann auch keine verabscheuungswürdiger in den Augen der reinen, demütigen Engel und des Herrn selber sein. Allein suche doch noch weiter, Eva! Gibt es gar kein Beispiel, daß ein Geschöpf wie ich gerettet wurde?«

Ich fand die Geschichte des Nikodemus, und wir verfolgten sie durch das ganze Evangelium, wie er insgeheim des Nachts zu dem großen Volkslehrer kam, bis zu seinem offenen Bekenntnis zu dem verläugneten Heilande vor seinen Feinden.

Tante Agnes dachte, dieses Beispiel könnte wohl auf sie passen; aber sie wollte ganz gewiß sein.

»Nikodemus kam in Demut, um zu lernen,« sagte sie. »Aber wir lesen nicht, daß er je Andere verachtet, oder geglaubt habe sich selbst zu einem Heiligen machen zu können.«

Zuletzt kamen wir an die Apostelgeschichte, und da fanden wir endlich die Geschichte Eines, »der zu der strengsten Sekte der »Pharisäer« gehörte und wirklich glaubte, Gott einen Dienst zu thun, indem er die verachteten Nazarener verfolgte. Von dieser Zeit an forschte Tante Agnes nach allen Einzelheiten in der Geschichte des heil. Paulus, und jedes Wort seiner Reden und Briefe war ihr köstlich und teuer. Sie hatte nun das Beispiel gefunden, das sie gesucht, von dem »Pharisäer, der selig wurde, welcher Gnade erlangte, damit an ihm Gott den Reichtum Seiner Langmut zeige denen, welche hernach durch Sein Wort an Ihn glauben würden.«

Sie entschloß sich, Latein zu lernen, um diese göttlichen Worte auch selbst lesen zu können. Es war rührend, sie unter den Novizen, die ich unterrichtete, sitzen zu sehen, wie sie eifrig die Wörter buchstabierte und die Deklinationen und Konjugationen lernte. Sie war von allen meinen Schülerinnen die geduldigste; denn wenn auch manche Anfangs großen Eifer zeigten, so ließen doch nicht wenige nach einigen mühsamen Wochen wieder nach, als sie fanden, daß sie keine sehr sichtbaren Fortschritte gemacht hatten, und sagten, das Evangelium werde ihnen in der fremden Sprache doch nie so natürlich und wahr klingen, als wenn Schwester Ave es ihnen ins Deutsche übersetze.

Ich wünsche immer, daß ein gelehrter Mann die Bibel ins Deutsche übersetzen möchte. Warum wohl niemand daran denkt? Die Aebtissin sagt, es gebe eine deutsche Uebersetzung, welche vor dreißig oder vierzig Jahren herausgekommen, aber sehr groß und kostspielig, und in einer für das Volk wenig anziehenden Sprache verfaßt sei. Wenn nur der Papst einen Teil des Geldes, das er mit dem Ablaßhandel gewinnt, auf eine neue Uebersetzung der Bibel verwenden wollte. Das würde sicherlich Gott wohlgefälliger sein, als die Erbauung der St. Peterskirche.

Allein, wenn die Leute das Neue Testament in deutscher Sprache hätten, würden sie wahrscheinlich gar keinen Ablaß kaufen; denn in allen Evangelien und Episteln finde ich kein Wort davon, daß man Sündenvergebung kaufen könne; und, was noch merkwürdiger ist, auch kein Wort von Verehrung der heiligen Jungfrau, noch von Mönchs- oder Nonnenklöstern. Nirgends sehe ich, daß die heil. Apostel solche Gesellschaften gegründet oder dazu aufgefordert hätten.

Ueberhaupt wird in dem Neuen Testament und in dem, was ich vom Alten gelesen habe, so ernstlich verboten, ein anderes Wesen anzubeten als Gott, daß ich ganz aufgegeben habe, die gebenedeite Mutter anzurufen, und dies aus verschiedenen guten Gründen.

Erstens glaube ich, daß unser Herr Jesus uns viel sicherer immer hören kann, als seine Mutter, da Er es so oft gesagt hat. Und dann kann ich auch viel getroster auf Seine Hülfe bauen, weil ich weiß, daß Ihm alle Gewalt gegeben ist im Himmel und auf Erden.

Dann ferner, wenn ich auch ganz gewiß wäre, daß die Gebenedeite und die Heiligen auch immer hören könnten und mir zu helfen vermöchten, oder für mich bitten wollten, so weiß ich doch, daß keines von ihnen, selbst nicht die heilige Jungfrau, so mitleidig, so voll Liebe ist, oder mich verstehen könnte, wie mein Erlöser, der für uns am Kreuze starb. In den Evangelien sehen wir Ihn immer viel zugänglicher als die Apostel. St. Petrus konnte in seinem Eifer auch ungeduldig werden. Entrüstete Liebe überwog zuweilen die Sanftmut des heil. Johannes, den der Herr besonders lieb hatte, so daß er Feuer vom Himmel über diejenigen erflehen wollte, welche seinen Herrn aufzunehmen sich geweigert hatten. Alle Apostel fuhren die Mütter an, welche ihre Kinder zu Jesu brachten, und wollten das kananäische Weib fortschicken: aber der Herr nahm die Kindlein von den Armen der Mütter, welche die Jünger hart angelassen hatten. Seine Geduld war unermüdlich; nie hat Er eine Seele mißverstanden oder entmutigt. Deshalb bete ich allein zu Ihm, und zu dem Vater im Himmel in Seinem Namen. Da er mitleidsvoller gegen die Sünder ist, als die Heiligen alle, wer könnte Gott teurer sein, als Er, Sein eingeborener, geliebter Sohn? Er ist alles für uns, was wir unter allen Umständen bedürfen. Mächtigere Fürsprache können wir nicht finden, innigere Liebe nicht ersehnen.

Und gewiß, die demütige Mutter des Herrn, der Jünger, welchen Jesus lieb hatte, der Apostel, der nichts andres wissen wollte, als Jesum Christum den Gekreuzigten, die Alle werden Ihn um die Ehre, die ihnen entzogen und Ihm dargebracht wird, gewiß nicht beneiden.

Nein, vielmehr wenn die heilige Jungfrau und der Apostel eine lange Zeit hindurch gehört haben, wie ihr Herr verläumdet worden ist, wie man Seine Liebe mißverstanden und Ihn als einen hartherzigen Herrn dargestellt hat, Ihn, der die Sünder zu sich ruft, um ihnen zu vergeben, –mußte das nicht sogar im Himmel ihre Seligkeit trüben?

Kürzlich ist eine Nonne in unser Kloster versetzt worden, die aus Böhmen stammt, wo alle ihre Verwandten als Anhänger des Ketzers Johann Huß getötet worden sind. Sie ist viel älter als ich, und sagt, daß sie sich gar wohl meines Familiennamens erinnere, und daß mein Großonkel, Tante Agnesens Vater, als Ketzer hingerichtet worden sei! Worin die Ketzerei bestand, weiß sie nicht zu sagen; allein sie glaubt, daß sie sich auf das heilige Abendmahl und die Autorität des Papstes bezogen habe. –Sonst soll er ein sehr frommer, menschenfreundlicher Mann gewesen sein.

War denn mein Vater wohl ein Hussite?

Ich habe auch das Ende des Spruches gefunden, den er mir als letztes Vermächtnis gegeben hat: »Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab, auf daß Alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.«

Und das Buch, worin er stand, und von dem der Priester sagte, daß es sich für christliche Kinder nicht schicke, darin zu lesen –war die heilige Schrift!

Sollte es möglich sein, daß die Welt wieder in den Zustand zurückgekehrt ist, worin sie war, als die Pharisäer und Priester den Heiland kreuzigten und der heil. Paulus Seine Jünger als Ketzer verfolgte?

 

Nimptschen 1520.

Vor einigen Wochen wurde eine herrliche Schrift von Dr. Luther über die »Babylonische Gefangenschaft« in unser Kloster gebracht, welche viele von uns gelesen haben, obgleich sie von den Vorgesetzten bald darauf als eine für Nonnen gefährliche Lektüre konfisciert wurde. Dieses Buch hat eine große Gährung unter uns hervorgebracht. Einige behaupten, es enthalte schändliche Gotteslästerungen, andere, es seien darin Worte des Lebens und göttlicher Wahrheit. Es heißt darin, die Vergebung der Sünden sei frei und ganz umsonst; der Papst und viele Priester seien Feinde der göttlichen Wahrheit; der Beruf der Mönche und Nonnen sei keineswegs heiliger als der des geringsten Gläubigen irgend eines Standes oder Geschlechts.

Eine Nonne sollte nicht heiliger sein, als ein Weib oder eine Magd!

Viele der älteren Nonnen halten dies für eine abscheuliche Blasphemie. Tante Agnes dagegen behauptet, es sei wahr, nur zu wahr; denn nach allem, was ich erzählt habe, leide es keinen Zweifel, daß ihre Schwester, Tante Cotta, ihr ganzes Leben hindurch demütiger und heiliger gewesen, als sie je hoffen könne, es noch zu werden.

Und die Lehren der Bibel scheinen auch wirklich viel mehr für Menschen, die in Familien leben, als für solche die in Klöstern eingeschlossen sind, gegeben zu sein. Oft, wenn ich den Novizen die Episteln zu erklären versuche, sagen sie zu mir:

»Aber, Schwester Ave, finde doch auch Vorschriften für uns! Dies geht Kinder und Eltern, oder Gatten, oder Brüder und Schwestern an; aber nicht uns, die wir keine Heimat, keine Verwandten mehr auf Erden haben.

Wenn ich dann versuche, von der Liebe zu Gott und unserm Heiland Jesus Christus zu sprechen, wenden sie mir oft ein:

»Aber wir können ja Seine Füße nicht mit unsern Thränen baden, nicht mit köstlicher Narde salben, oder Ihm Nahrung bringen, oder unter Seinem Kreuze stehen, wie die heiligen Frauen einst gethan haben. Abgeschlossen, wie wir hier sind, fern von aller Berührung mit andern Menschen, womit können wir Ihm zeigen, daß wir Ihn lieb haben?«

Dann weiß ich ihnen nichts anderes zu antworten als: »Liebe Schwestern, Ihr seid nun einmal hier, und daher wird Euch, Gott gewiß auch zeigen, daß Ihr Ihm hier Eure Liebe beweisen könnt.«

Allein das Herz thut mir weh, und ich bin nicht länger im Zweifel, nein ich bin fest überzeugt, daß Gott nicht gewollt hat, daß diese jungen, fröhlichen Herzen so beengt, so eingekerkert werden sollten.

Ich spreche zuweilen mit Tante Agnes darüber, und wir überlegen, ob –wenn diese Gelübde wirklich unwiderruflich sind und diese jungen Mädchen nie mehr zu ihren Familien zurückkehren sollen –das Kloster nicht in irgend eine Stadt verlegt werden könnte, wo es wenigstens Hungrige zu speisen, Nackende zu bekleiden, Kranke und Trauernde zu pflegen und zu trösten gibt? Das würde doch wieder Leben unter die Schwesterschaft bringen, statt des einförmigen Schlendrians, der nicht sowohl Tod, als vielmehr eine leblose Maschine ist, ein bloßes Existieren, das nie den Namen Leben verdient.

 

Oktober 1520.

Schwester Beatrix ist schwer krank. Tante Agnes hat es sich als eine besondere Gunst ausgebeten, sich mit mir in ihre Pflege teilen zu dürfen. Nie hat man wohl eine liebevollere Wärterin als eine ebenso dankbare Kranke gefunden.

Es ist mir ganz rührend zu sehen, wie demütig Tante Agnes von mir die kleinen Dienste lernt, die man am Krankenbette zu leisten hat. Sie lächelt über ihre eigene Ungeschicklichkeit und sagt, ihre Finger seien durch das Umdrehen der Blätter ihrer Gebetbücher steif, gerade wie sich ihr Herz durch das Hersagen von Gebeten zu einer Maschine verhärtet habe. Neun junge Nonnen, Tante Agnes, Schwester Beatrix und ich haben uns in letzter Zeit sehr innig an einander angeschlossen. Eine der vortrefflichsten darunter ist Katharina von Bora, eine Nonne von ungefähr zwanzig Jahren. Es liegt solche Aufrichtigkeit in ihren großen schwarzen Augen, mit denen sie mich so freundlich und treuherzig anblickt, und solche Charakterstärke in dem festgeschlossenen Munde. Sie weigert sich, Latein zu lernen, und findet überhaupt nicht viel Geschmack an gelehrten Büchern; aber sie hat sehr viel praktischen Verstand und liest, wie viele von uns, mit Begeisterung Dr. Luthers Schriften. Sie sagen, es seien keine Bücher, sondern eine lebendige Stimme. Mit großer Begierde hören sie allem zu, was ich ihnen von Luther erzählen kann, und der Ruf seines mächtigen Einflusses ist selbst in unsere stillen Mauern gedrungen. Als er vor zwei Jahren bei der großen Leipziger Disputation in der Nähe von Nimptschen war, hörten wir, daß die Studenten ganz begeistert von ihm waren, und daß das Volk an seinen Lippen hing, und seine Worte verschlang, gerade wie zu der Zeit, als unser Herr Jesus Christus auf der Erde wandelte, und, was noch mehr sagen will, daß viele Männer und Frauen am Hofe ein ganz neues Leben begannen, nachdem sie ihn gehört hatten. Man erzählte uns, daß seine Predigten merkwürdige Bekehrungen zur Folge hatten; allein was höchst sonderbar ist, die Bekehrten gaben nicht ihre bisherige Stellung im Leben, sondern blos ihr Sündenleben auf, und blieben da, wo sie waren, als Gott sie erweckte, sich weder durch Kutte noch Schleier vor andern auszeichnend, sondern einzig und allein durch das Licht gottgefälliger Werke.

Doch haben auch viele, besonders von den ältern Nonnen, ganz entgegengesetzte Eindrücke erhalten, und diese betrachten Dr. Luther als den Schlimmsten unter allen Ketzern, die je Kirchenspaltungen verursacht haben. Von diesen werden wir nun auch mit mißtrauischen Blicken beobachtet, kleinen Quälereien unterworfen, und in unserm traulichen Zusammenhalten und Lesen gehindert.

Manche von uns wundern sich freilich, daß Dr. Luther sich gegen die Diener des Papstes solch heftiger, harter Worte bedient. Allein der heilige Paulus selber konnte wünschen, daß diejenigen, welche seine Herde verstörten, hinweggenommen würden,« und die Stimme der göttlichen Liebe selbst rief ein noch strengeres Wehe aus über die Heuchler und falschen Hirten, als je der Täufer Johannes in der Wüste oder Elias gegen die Gottlosen ausgesprochen hatten. Es scheint mir, daß die Herzen, welche das zarteste Mitleid mit dem verlorenen Schäflein haben, auch am strengsten gegen die Hirten sind, welche sie verführt haben. Nur dürfen wir nicht vergessen, daß diese nämlichen schlechten Hirten eigentlich selbst nichts anderes sind, als arme, verlorene Schafe, hin- und hergetrieben von dem Erzfeinde der Herde.

 

Nimptschen 1521.

Die Herzen der kleinen Schar unter uns, welche mit solcher Dankbarkeit an Dr. Luther hängen, senden Tag und Nacht inbrünstige Gebete für ihn gen Himmels denn er wird sich nun bald auf den Weg machen, um auf dem Reichstage zu Worms sich zu verantworten. Zwar hat er den kaiserlichen Geleitsbrief: allein das hat, wie man sagt, Johann Huß nicht vor dem Flammentode bewahren können. Seine Auslegung der Psalmen, die ich soeben aus Onkel Cottas Druckerei erhalten, kommt uns bei unserer Fürbitte sehr zu statten.

Sie sind der köstlichste Schatz für Schwester Beatrix, der ich sie vorlese.

Er sagt, »selbst das kalte, förmliche Hersagen der Psalmen bei den Stundengebeten habe, ehemals nur wenig verstanden, doch manchem demütigen Herzen einen süßen Lebensodem zugeweht, wie der zarte Duft in der Nähe eines Rosenbeetes.«

Er sagt: »Alle andern Bücher überliefern uns die Worte und Thaten der Heiligen, aber dieses entfaltet uns die innersten Tiefen ihrer Seelen.« Er nennt das Psalmbuch die »kleine Bibel«. »Da,« sagt er, könnet ihr in die Herzen der Heiligen hineinschauen, wie in das Paradies oder in den geöffneten Himmel, und gleichsam die lieblichen Blumen oder glänzenden Sterne ihrer Liebe zu Gott als Dank für alle Seine Wohlthaten und Segnungen erblühen und strahlen sehen.

 

Im März 1521.

Nachrichten, welche ich heute aus Wittenberg erhalten, geben mir die traurige Bestätigung, daß die Tage wiedergekehrt sind, wo die Menschen Gott einen Dienst zu erweisen glauben, wenn sie diejenigen verfolgen, die Ihn lieben. Thekla schreibt mir, daß Fritz in Mainz in das Gefängnis des Klosters geworfen worden sei, weil er Luthers Lehren unter den Mönchen verbreitet habe. Wenige Zeilen, die ein ihm befreundeter Mönch ihnen zukommen ließ, brachten ihnen diese schreckliche Kunde. Thekla übersandte sie mir. Er schreibt:

 

»Meine Geliebten!

»Ich bin in dem Gefängnisse, wo vor vierzig Jahren Johann von Wesel für die Wahrheit gestorben ist. Auch ich bin bereit zu sterben, wenn Gott es will. Seine Wahrheit ist wohl wert, daß man das Leben dafür lasse, und Seine Liebe wird mich stärken. Allein wenn es möglich ist, will ich entfliehen, denn die Wahrheit ist auch wert, daß man dafür lebe. Wenn ihr aber nichts mehr von mir hören solltet, so wisset, daß ich für Christi Wahrheit gestorben, durch Seine Liebe gestärkt und bis ans Ende getragen worden bin. Seid überzeugt, daß ich bis zum letzten Atemzuge für Euch alle und für Eva bete, und sagt ihr, daß der Gedanke an sie meinen Glauben an Wahrheit und Frömmigkeit oft wieder neu belebt habe, und daß ich sicher hoffe, sie und Euch alle dereinst wiederzusehen.

Friedrich Schönberg-Cotta.«

Im Gefängnis! –Der Tod selbst vermöchte mich nicht vollständiger von Fritz zu trennen. Ja, ich hatte oft gedacht, daß der Tod uns um einen Schritt einander näher bringen, einen Schleier, der zwischen uns ist, zerreißen würde. Aber jetzt, da er so sehr möglich scheint, da er vielleicht schon eingetreten ist, fühle ich, daß doch eine unbeschreibliche Wonne darin lag, wenigstens auf derselben Erde zu leben, denselben Pilgerpfad zu wandeln. Wir konnten wenigstens für einander beten: und nun, wenn er wirklich so hoch über uns erhaben, die himmlische Stadt schon erreicht hat, scheint die Welt mir noch dunkler als zuvor.

Doch ach! vielleicht ist er noch nicht in dem himmlischen Jerusalem angelangt, sondern schmachtet noch hier unten in einem kalten Gefängnis und leidet unnennbare Qualen!

Ich habe seine Worte so oft überlesen, bis ich ihren Sinn fast nicht mehr verstehen konnte. Er hat kein kränkliches Verlangen zu sterben, sondern will entfliehen, wenn es ihm möglich ist, und er ist mutig genug, um viel zu wagen. Und doch, wenn die Gefahr nicht sehr groß wäre, würde er, der stets so zarte Rücksichten für andere nahm, gewiß Tante Cotta nicht mit der Möglichkeit seines Todes geängstiget haben.

Er sagt, ich habe ihm genützt, ich, ein armes, unwissendes Kind; ihm, der mich unterrichtet hat, der mir so zum Segen gewesen ist! Und doch kann es sein. Man lernt so viel, indem man andere lehrt. Wir verstanden einander stets so vollkommen, fast ohne Worte. Mir ist's als ob ich blind geworden, wenn ich jetzt an ihn denke. Mein Herz greift im Finstern herum und ich kann ihn nicht finden.

Aber dann sehe ich auf zu Dir, mein Heilands zu Dir. »Die Nacht ist vor Dir wie der Tag.« Ich darf nicht daran denken, daß er leidet; es bricht mir das Herz. Ich kann mich auch nicht über den Gedanken freuen, daß er vielleicht schon im Himmel ist. Ich weiß nicht, um was ich bitten soll; allein Du bist mit ihm, so wie mit mir. O, halte ihn fest unter dem Schatten Deiner Flügel! Da sind wir wohl geborgen, da vereint. Ach tröste Du Tante Cotta! Wie sehr muß sie des Trostes bedürfen!

So glaubt also auch Fritz, wie unser kleiner Verein hier in Nimptschen, daß Dr. Luther Recht hat, und liebt seine Lehre. Wenn ich daran denke, freue ich mich mehr, als ich um ihn weine. Diese in unsere Herzen aufgenommenen Wahrheiten sind ein Band, das weder Gefängnis noch Tod zu zerreißen vermag. Wenn ich daran denke, kann ich wieder das Lied des heiligen Bernhard anstimmen: » Salve caput cruentatum

O Haupt voll Blut und Wunden,
Voll Schmerz und voller Hohn!
O Haupt, zum Spott umwunden
Mit einer Dornenkron!
O Haupt, sonst schön geschmücket
Mit höchster Ehr und Zier,
Doch nun von Schmach gedrücket,
Gegrüßet seist Du mir!

Du edles Angesichte,
Wie bist Du so bespie'n?
Sinkt nicht vor Deinem Lichte
Sonst Erd' und Himmel hin?
Wie bist Du so erbleichet?
Wer hat Dein Augenlicht,
Dem sonst, kein Licht mehr gleichet,
So schändlich zugericht't?

Nun, Herr, was Du erduldet,
War alles meine Last!
Ich, ich hab' es verschuldet,
Was Du getragen hast.
Schau' her, hier steh' ich Armer
Mit meiner Todesschuld;
Gib mir, o mein Erbarmer,
Den Anblick Deiner Huld!

Erkenne mich, mein Hüter,
Mein Hirte, nimm mich an!
Von Dir, Quell aller Güter,
Ist mir viel Guts gethan.
Dein Wort hat oft gewehret
Dem Leid in meiner Brust;
Dein Geist hat mir bescheeret
So manche Himmelslust.

Ich will hier bei Dir stehen;
Verachte mich doch nicht!
Von Dir will ich nicht gehen,
Wenn Dir Dein Herze bricht.
Wenn mein Haupt wird erblassen
Im letzten Todesstoß,
Alsdann wirst Du mich fassen
In Deinen Arm und Schoß.

Es dient zu meinen Freuden
Und kommt mir herzlich wohl,
Wenn ich in Deine Leiden,
Mein Heil, mich senken soll.
Ach möcht' ich, o mein Leben,
An Deinem Kreuze hier
Mein Leben von mir geben,
Wie wohl geschähe mir!

Ich danke Dir von Herzen,
O Jesu, liebster Freund,
Für Deine Todes schmerzen,
Da Du's so gut gemeint.
Ach gib, daß ich mich halte
Zu Dir und Deiner Treu,
Daß, wenn ich einst erkalte,
In Dir mein Ende sei!

Wenn ich einmal soll scheiden,
So scheide nicht von mir.
Wenn ich den Tod soll leiden,
So tritt Du selbst herfür.
Wenn mir am allerbängsten
Wird um das Herze sein,
So reiß mich aus den Aengsten,
Kraft Deiner Angst und Pein.

Erscheine mir zum Schilde,
Zum Trost in meinem Tod,
Und laß mich seh'n Dein Bilde
In Deiner Kreuzesnot.
Da will ich nach Dir blicken,
Da will ich glaubensvoll
Fest an mein Herz Dich drücken;
Wer so stirbt, der stirbt wohl.


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