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Wittenberg, im Januar 1523.
Ich habe keine Ahnung davon gehabt, wie innig der Gedanke an Fritz mit meinem ganzen Sein verwoben war! Er sagt dagegen, daß er nur zu wohl gewußt habe, wie der Gedanke an mich mit jeder Hoffnung, jeder Neigung seines Wesens verknüpft war.
Allein lange kämpfte er gegen dieses Gefühl; und er versichert mich, daß dieser innere Kampf viel schmerzlicher gewesen sei, als alles, was er seitdem im Gefängnis zu leiden hatte. Viele Jahre hindurch hielt er es für Sünde, an mich zu denken. Ich habe es nie für Sünde gehalten, an ihn zu denken. Ich wußte gewiß, daß es keine war, was auch mein Beichtvater sagen mochte. Ich hatte ja stets, mehr als für alles andere in der Welt, Gott für das gedankt, was er mir gewesen war, was er mich gelehrt hatte; ich war so sicher, daß das, wofür ich Gott danken durfte, keine Sünde sein konnte.
Jetzt aber ist es meine Pflicht, ihn am meisten zu lieben; dessen bin ich ganz gewiß. Und dies ist freilich gar nicht schwer. Ich fürchte nur, daß er sich in mir getäuscht finden wird, wenn er im alltäglichen Leben mich ganz so kennen lernt, wie ich bin, ohne den verklärenden Schimmer der Entfernung. Und doch eigentlich bange bin ich nicht. Die Liebe webt herrlichere Strahlenkronen als der Nebel der Entfernung. Und wir erwarten auch keine Wunder eins von dem andern, auch nicht, daß das Leben ein Paradies sein werde. Nur den unbeschreiblichen Trost, jeden Kampf, jede Prüfung, jede Freude gemeinsam zu tragen und einander beizustehen. Wenn ich von diesem Glücke » nur« sagen kann! Denn ich glaube wirklich, daß wir uns gegenseitig beistehen werden. –Obgleich viel schwächer und viel weniger weiser als er, mit einem weit engem Gesichtskreise, geringeren Erfahrungen und weit schwächerer Willenskraft, fühle ich dennoch, daß ich eine Art von Stärke besitze, womit ich zuweilen auf irgend eine Weise Fritzen nützlich werden kann. Und darin, glaube ich, besteht der Nutzen unserer langen Trennung, welche mir sonst ein so großer Verlust scheinen würde. An seiner Seite dünkt mich die Welt so viel größer und erhabener, und doch fühle ich, daß Gott mich diese Jahre hindurch etwas gelehrt hat, und es macht mich glücklich, ihm etwas mehr mitbringen zu können, als ich's in meiner frühen Jugend vermocht hätte.
Also um meinetwillen that er das Gelübde, uns auf immer zu verlassen!
Tante Cotta ist so glücklich. An dem Abend seiner Ankunft, als wir drei allein gelassen waren, sagte sie nach kurzem Stillschweigen:
»Kinder, laßt uns niederknieen und Gott danken, daß er meinen Herzenswunsch erfüllt hat!«
Und nachher sagte sie uns, welche Wünsche und Pläne sie immer für Fritz und mich gehegt, und wie sie sein Verzichten auf die Welt für eine Strafe ihrer Sünden angesehen habe; wie sie aber jetzt überzeugt sei, daß der Fluch, den der Heiland für uns getragen, unendlich schwerer war als alles, was sie hätte erdulden können, daß aber alle Schuld gesühnt, ans Kreuz geheftet, zerrissen und auf ewig getilgt sei. Sie fühle auch, daß der letzte Rest von Unglück fortgenommen sei, und daß ihr Leben in uns auf's neue beginne, gesegnet und andern zum Segen über alles Bitten und Verstehen!
Fritz spricht gar nicht gern von dem, was er in dem Dominikanerkloster zu leiden hatte, und am wenigsten mit mir; denn, obgleich ich mir stets wiederhole, es ist vorüber, auf immer vorbei, –so ist es mir doch stets, so oft ich daran denke, als ob ich ihn auf jener gräßlichen Folterbank liegen sähe!
Eben, als er noch in derselben Nacht zu entfliehen im Begriffe stand, kamen die Mönche und führten ihn zum Verhör in die Folterkammer. Und nachher schleppten sie ihn in den Kerker zurück, wo sie ihn wahrscheinlich wollten verschmachten lassen; denn zwei Tage lang erhielt er weder Speise noch Trank. Aber dann kam der junge Mönch, der ihn veranlaßt hatte, ins Kloster zu gehen, und brachte ihm fast täglich Nahrung und Wasser, und pflegte ihn liebreich, bis seine Kräfte wieder ein wenig hergestellt waren und beide mit einander durch die Oeffnung, welche Fritz schon vorher in die Mauer gegraben hatte, entkamen. Allein ihre Flucht wurde bald entdeckt, und sie mußten mehrere Wochen lang sich in Höhlen und Wäldern verborgen halten, ehe sie wagen durften, durch das offene Land zu streifen, um sich nach Wittenberg zu begeben.
Nun, es ist ja jetzt vorüber, und doch auch wieder nicht vorüber. Er, der große Dulder, wird nie die Leiden, die man um Seinetwillen erduldet hat, vergessen. Und das Gefängnis des Dominikanerklosters wird für Fritz bei der Predigt des Evangeliums unter den Bauern des Thüringerwaldes eine Quelle der Stärkung und des Segens werden. Er wird sagen können: »Gott kann uns in allen Prüfungen beistehen. Er wird euch nicht lassen versuchen über euer Vermögen. Das weiß ich; denn ich habe es erfahren.« Und dieses wird ihn, denke ich, noch besser befähigen, die Bibel den Herzen der Armen nahe zu bringen und einzuprägen, als selbst seine Kenntnis der griechischen und hebräischen Sprache, die er sich in Rom und Tübingen erworben hat.